Im Januar 1945 durchstießen die Divisionen der Roten Armee
auf breiter Front die Ostgrenze des Deutschen Reiches. Die größte
Fluchtbewegung in der Geschichte der Menschheit setzte ein. Millionen Deutsche
flohen in westliche Richtung. In diesen furchtbaren, bitterkalten Januartagen
zogen sie, nur das Nötigste auf Pferden, Leiterwagen, Kutschen oder Handwagen
verladen, in eine ungewisse Zukunft.
Unter den
Flüchtlingen auch wir: meine Mutter, zwei ältere Schwestern und ich, gerade
drei Jahre alt. An dem Kinderwagen, in dem ich saß, waren meine Schwestern,
eine an jeder Seite, angebunden, damit sie nicht verlorengingen. Jede trug einen
Rucksack, in dem ein paar Habseligkeiten waren, hauptsächlich Sachen zum
Anziehen und etwas Nahrung.
Wir kamen
aus Leobschütz in Oberschlesien und waren auf dem Weg nach Breslau. Von dort,
so hoffte Mutter, würden wir mit einem Flüchtlingstransport nach Westen
gelangen. Nach tagelangem Fußmarsch, fast am Ende der Kraft, erreichten wir den
Breslauer Bahnhof. Hier wurden wir fürs erste vom Deutschen Roten Kreuz
versorgt. Es gab warmes Essen und etwas Milch für uns Kinder, auch Wegzehrung
bekamen wir mit.
Nach
endlosem Warten hatten wir das Glück, mit einem Transport mitzukommen. Die
Waggons waren mit Stroh ausgelegt, in dem wir nun etwas schlafen konnten. Aber
nicht lange, ruckartig bremste der Zug. Die Menschen schrien: "Fliegeralarm!
Aussteigen!" Also raus aus dem Zug und irgendwo Deckung nehmen. Als der
Angriff vorbei war, ging es weiter. Wir hatten wieder mal Glück gehabt, uns war
nichts passiert und dem Zug auch nicht! Ab und zu hielten wir auf irgendeinem
Bahnhof, Schwestern des Roten Kreuzes versorgten uns mit Trinkwasser und Brot.
Nach Tagen der Irrfahrt erreichten wir Osterode, eine kleine Stadt am Rande des
Südharzes. Hier stiegen wir aus und wurden in den Holzbaracken eines Flüchtlingslagers
untergebracht.
Als erstes
wurden wir entlaust, was mir noch sehr gut im Gedächtnis ist. Ich hatte
richtige Läusenester, daher wurde mir der Kopf kahlgeschoren. Ich schrie fürchterlich,
aber es half nichts! Auf dem langen Fluchtweg hatten wir keine Gelegenheit
gehabt, uns zu säubern, und da es Winter war, waren Flüsse und Seen, in denen
wir uns hätten waschen können, zugefroren. So kamen wir verdreckt und zerlumpt
hier an, die Läuse waren nur eine kleine Zugabe des Flüchtlingsdramas.
Das
Wichtigste war, daß wir endlich ein Dach über dem Kopf hatten. Wir schliefen
auf zwei Matratzen. In der Baracke, in der wir untergebracht waren, befanden
sich noch zwei andere Familien aus Leobschütz. So konnten sich die Frauen und
größeren Kinder über die Heimat und vieles andere austauschen.
Am meisten
sorgten sich die Frauen um ihre Männer, denn die waren ja an der Front oder in
Kriegsgefangenschaft. Niemand wußte etwas Genaues. Später hängte die
Lagerverwaltung am Informationsbrett Listen aus mit Namen gefallener Soldaten.
Banges Warten, wenn Mutter mit mir auf dem Arm in der langen Schlange anstand,
um dann zu sehen, ob Vaters Name auf der Liste war.
Nach einem
halben Jahr wurden wir in eine andere Stadt, nach Herzberg, in ein anderes Lager
gebracht.
Nach
weiteren sechs Monaten bekamen wir endlich eine eigene Wohnung zugeteilt. Herr
Hoffmann, unser Flüchtlingsbetreuer, hatte sehr darum gekämpft. Wer wollte
schon eine Frau mit drei kleinen Kindern aufnehmen? Dazu noch Flüchtlinge! Wir
waren ja Menschen zweiter Klasse! Das bekamen wir sehr oft zu spüren.
Für Mutter
war es das Wichtigste, das Lager verlassen zu können. Als wir uns, frisch
gewaschen und sauber angezogen, mit Herrn Hoffmann bei der Hausbesitzerin
vorstellen wollten, erlebten wir eine furchtbare Enttäuschung. Eine Frau
mittleren Alters öffnete uns die Haustür. Als sie uns erblickte, faßte sie
sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie: "Nein, nein, um Gottes Willen,
solche Leute nehme ich nicht auf!" und warf uns die Tür vor der Nase zu.
Wir
erschraken, damit hatten wir nicht gerechnet. Meine Mutter weinte vor Scham und
Wut, und wir Kinder heulten mit. Aber Herr Hoffmann, unser freundlicher
Betreuer, beruhigte uns. Mich nahm er auf den Arm, weil ich am lautesten schrie,
obwohl ich sicher nicht wußte, warum.
Wir setzten
uns auf eine Treppe vor dem Nachbarhaus, und Herr Hoffmann ging noch einmal
allein zu der Frau. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er zurückkam und uns holte.
Wir wurden zwangseingewiesen. Unsere "Wohnung" bestand aus einem Zimmer auf
dem Dachboden. Später erfuhren wir, warum die Vermieterin so böse reagiert
hatte. Der Anblick meiner Glatze hatte sie irritiert, das war zuviel für sie
gewesen.
Herr
Hoffmann stattete uns erst einmal mit dem Nötigsten aus. Zwei Matratzen zum
Schlafen, ein Tisch, ein Ofen, zwei Stühle und eine Kiste, die uns als Schrank
diente, das war unsere Einrichtung. Aber wir waren glücklich!
Tage nach
dem Einzug besuchte uns Frau Köhler, eine Mitbewohnerin des Hauses, und brachte
uns zwei Decken und Nahrungsmittel. Die nette Frau half, wo immer sie konnte.
Vier Jahre wohnten wir auf diesem Dachboden.
Meine
Mutter fand in einer Fabrik Arbeit im Drei-Schicht-Dienst. Und an den
Wochenenden verdiente sie sich noch ein Zubrot, indem sie bei "besseren"
Leuten Wäsche wusch. Im Sommer halfen wir den Bauern bei der Ernte.
Alles in
allem, für mich, die jüngste, und für meine beiden Schwestern war es eine
schwere Kindheit. Mutter hatte nicht die Zeit, um uns viel Zuwendung zu geben.
Sie mußte hart arbeiten. So erging es damals vielen Frauen, deren Männer aus
dem Krieg nicht zurückkamen. Wir Kinder waren auf uns alleingestellt, während
Mutter arbeitete. Die große Schwester beaufsichtigte uns mehr oder weniger.
Unser Vater
war seit der Stalingrader Schlacht vermißt. Wir erfuhren nie Genaueres. Wir
drei Mädels wuchsen eben ohne Vater auf. Wir lernten sehr früh, allein
zurechtzukommen.
Einmal
bekamen wir zu Weihnachten eine Puppe, wohlgemerkt, eine Puppe für uns
drei. Es war die schönste Puppe, die ich je gesehen habe. Sie hatte einen
Porzellankopf mit einem wunderschönen Gesicht, mit langen, schwarzen
Augenwimpern, Schlafaugen und braunen, langen Zöpfen. Der Körper war mit Sägespänen
prall gefüllt, Hände und Füße waren auch aus Porzellan. Ich hatte die Puppe
gleich in mein Herz geschlossen. Aber wie nun durch drei teilen?
Mutter
hatte die Idee, jede von uns solle einen Tag mit der Puppe spielen, so daß sie
jeden Tag eine andere Puppenmutti hatte. Eine Zeitlang ging das auch gut. Aber
dann wollte ich plötzlich mein Puppenkind nicht mehr hergeben. Am Abend
versteckte ich es im Holzschuppen.
Als Mutter
am nächsten Tag von der Arbeit kam, petzte meine Schwester natürlich, daß ich
ihr die Puppe nicht gegeben hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, ich mußte
sie holen.
Aber, oh
Schreck! Die Puppe war völlig durchnäßt! Was war bloß passiert? Nachts muß
es wohl tüchtig geregnet haben. Die Sägespäne im Innern ihres Körpers waren
schwer wie Blei. Als ich Mutter die Puppe reichte, bekam ich die erste Ohrfeige
in meinem Leben. Zur Strafe durfte ich einen Monat lang nicht mit ihr spielen.
Ich wußte nun, was teilen heißt.
Mit freundlicher Genehmigung
des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv
Im Band 2 "Nachkriegs-Kinder",
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