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 Puppengeschichten

Türmitz, Kreis Leobschütz – Breslau – Osterode/Südharz
Herzberg am Harz: 1945–1950

Erika Wagner
Die Puppe  

Im Januar 1945 durchstießen die Divisionen der Roten Armee auf breiter Front die Ostgrenze des Deutschen Reiches. Die größte Fluchtbewegung in der Geschichte der Menschheit setzte ein. Millionen Deutsche flohen in westliche Richtung. In diesen furchtbaren, bitterkalten Januartagen zogen sie, nur das Nötigste auf Pferden, Leiterwagen, Kutschen oder Handwagen verladen, in eine ungewisse Zukunft.

Unter den Flüchtlingen auch wir: meine Mutter, zwei ältere Schwestern und ich, gerade drei Jahre alt. An dem Kinderwagen, in dem ich saß, waren meine Schwestern, eine an jeder Seite, angebunden, damit sie nicht verlorengingen. Jede trug einen Rucksack, in dem ein paar Habseligkeiten waren, hauptsächlich Sachen zum Anziehen und etwas Nahrung.

Wir kamen aus Leobschütz in Oberschlesien und waren auf dem Weg nach Breslau. Von dort, so hoffte Mutter, würden wir mit einem Flüchtlingstransport nach Westen gelangen. Nach tagelangem Fußmarsch, fast am Ende der Kraft, erreichten wir den Breslauer Bahnhof. Hier wurden wir fürs erste vom Deutschen Roten Kreuz versorgt. Es gab warmes Essen und etwas Milch für uns Kinder, auch Wegzehrung bekamen wir mit.

Nach endlosem Warten hatten wir das Glück, mit einem Transport mitzukommen. Die Waggons waren mit Stroh ausgelegt, in dem wir nun etwas schlafen konnten. Aber nicht lange, ruckartig bremste der Zug. Die Menschen schrien: "Fliegeralarm! Aussteigen!" Also raus aus dem Zug und irgendwo Deckung nehmen. Als der Angriff vorbei war, ging es weiter. Wir hatten wieder mal Glück gehabt, uns war nichts passiert und dem Zug auch nicht! Ab und zu hielten wir auf irgendeinem Bahnhof, Schwestern des Roten Kreuzes versorgten uns mit Trinkwasser und Brot. Nach Tagen der Irrfahrt erreichten wir Osterode, eine kleine Stadt am Rande des Südharzes. Hier stiegen wir aus und wurden in den Holzbaracken eines Flüchtlingslagers untergebracht.

Als erstes wurden wir entlaust, was mir noch sehr gut im Gedächtnis ist. Ich hatte richtige Läusenester, daher wurde mir der Kopf kahlgeschoren. Ich schrie fürchterlich, aber es half nichts! Auf dem langen Fluchtweg hatten wir keine Gelegenheit gehabt, uns zu säubern, und da es Winter war, waren Flüsse und Seen, in denen wir uns hätten waschen können, zugefroren. So kamen wir verdreckt und zerlumpt hier an, die Läuse waren nur eine kleine Zugabe des Flüchtlingsdramas.

 Das Wichtigste war, daß wir endlich ein Dach über dem Kopf hatten. Wir schliefen auf zwei Matratzen. In der Baracke, in der wir untergebracht waren, befanden sich noch zwei andere Familien aus Leobschütz. So konnten sich die Frauen und größeren Kinder über die Heimat und vieles andere austauschen.

Am meisten sorgten sich die Frauen um ihre Männer, denn die waren ja an der Front oder in Kriegsgefangenschaft. Niemand wußte etwas Genaues. Später hängte die Lagerverwaltung am Informationsbrett Listen aus mit Namen gefallener Soldaten. Banges Warten, wenn Mutter mit mir auf dem Arm in der langen Schlange anstand, um dann zu sehen, ob Vaters Name auf der Liste war.

Nach einem halben Jahr wurden wir in eine andere Stadt, nach Herzberg, in ein anderes Lager gebracht.

Nach weiteren sechs Monaten bekamen wir endlich eine eigene Wohnung zugeteilt. Herr Hoffmann, unser Flüchtlingsbetreuer, hatte sehr darum gekämpft. Wer wollte schon eine Frau mit drei kleinen Kindern aufnehmen? Dazu noch Flüchtlinge! Wir waren ja Menschen zweiter Klasse! Das bekamen wir sehr oft zu spüren.

Für Mutter war es das Wichtigste, das Lager verlassen zu können. Als wir uns, frisch gewaschen und sauber angezogen, mit Herrn Hoffmann bei der Hausbesitzerin vorstellen wollten, erlebten wir eine furchtbare Enttäuschung. Eine Frau mittleren Alters öffnete uns die Haustür. Als sie uns erblickte, faßte sie sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie: "Nein, nein, um Gottes Willen, solche Leute nehme ich nicht auf!" und warf uns die Tür vor der Nase zu.

Wir erschraken, damit hatten wir nicht gerechnet. Meine Mutter weinte vor Scham und Wut, und wir Kinder heulten mit. Aber Herr Hoffmann, unser freundlicher Betreuer, beruhigte uns. Mich nahm er auf den Arm, weil ich am lautesten schrie, obwohl ich sicher nicht wußte, warum.

Wir setzten uns auf eine Treppe vor dem Nachbarhaus, und Herr Hoffmann ging noch einmal allein zu der Frau. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er zurückkam und uns holte. Wir wurden zwangseingewiesen. Unsere "Wohnung" bestand aus einem Zimmer auf dem Dachboden. Später erfuhren wir, warum die Vermieterin so böse reagiert hatte. Der Anblick meiner Glatze hatte sie irritiert, das war zuviel für sie gewesen.

Herr Hoffmann stattete uns erst einmal mit dem Nötigsten aus. Zwei Matratzen zum Schlafen, ein Tisch, ein Ofen, zwei Stühle und eine Kiste, die uns als Schrank diente, das war unsere Einrichtung. Aber wir waren glücklich!

Tage nach dem Einzug besuchte uns Frau Köhler, eine Mitbewohnerin des Hauses, und brachte uns zwei Decken und Nahrungsmittel. Die nette Frau half, wo immer sie konnte. Vier Jahre wohnten wir auf diesem Dachboden.

Meine Mutter fand in einer Fabrik Arbeit im Drei-Schicht-Dienst. Und an den Wochenenden verdiente sie sich noch ein Zubrot, indem sie bei "besseren" Leuten Wäsche wusch. Im Sommer halfen wir den Bauern bei der Ernte.

Alles in allem, für mich, die jüngste, und für meine beiden Schwestern war es eine schwere Kindheit. Mutter hatte nicht die Zeit, um uns viel Zuwendung zu geben. Sie mußte hart arbeiten. So erging es damals vielen Frauen, deren Männer aus dem Krieg nicht zurückkamen. Wir Kinder waren auf uns alleingestellt, während Mutter arbeitete. Die große Schwester beaufsichtigte uns mehr oder weniger.

Unser Vater war seit der Stalingrader Schlacht vermißt. Wir erfuhren nie Genaueres. Wir drei Mädels wuchsen eben ohne Vater auf. Wir lernten sehr früh, allein zurechtzukommen.

Einmal bekamen wir zu Weihnachten eine Puppe, wohlgemerkt, eine Puppe für uns drei. Es war die schönste Puppe, die ich je gesehen habe. Sie hatte einen Porzellankopf mit einem wunderschönen Gesicht, mit langen, schwarzen Augenwimpern, Schlafaugen und braunen, langen Zöpfen. Der Körper war mit Sägespänen prall gefüllt, Hände und Füße waren auch aus Porzellan. Ich hatte die Puppe gleich in mein Herz geschlossen. Aber wie nun durch drei teilen?

Mutter hatte die Idee, jede von uns solle einen Tag mit der Puppe spielen, so daß sie jeden Tag eine andere Puppenmutti hatte. Eine Zeitlang ging das auch gut. Aber dann wollte ich plötzlich mein Puppenkind nicht mehr hergeben. Am Abend versteckte ich es im Holzschuppen.

Als Mutter am nächsten Tag von der Arbeit kam, petzte meine Schwester natürlich, daß ich ihr die Puppe nicht gegeben hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, ich mußte sie holen.

Aber, oh Schreck! Die Puppe war völlig durchnäßt! Was war bloß passiert? Nachts muß es wohl tüchtig geregnet haben. Die Sägespäne im Innern ihres Körpers waren schwer wie Blei. Als ich Mutter die Puppe reichte, bekam ich die erste Ohrfeige in meinem Leben. Zur Strafe durfte ich einen Monat lang nicht mit ihr spielen. Ich wußte nun, was teilen heißt.  

 

 

Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv
Im Band 2  "Nachkriegs-Kinder", können Sie diese und andere Geschichten nachlesen.

 

Die Geschichten

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Helfende Kinderhände


Bernadette Schnüttgen
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Margarete Kubelka
Ein Puppenwagen für Samantha


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Rotraud Danker  
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