Es
war gegen Ende der zwanziger Jahre, und die Arbeitslosigkeit
in unserem Land hatte einen Höhepunkt erreicht. Bei einem großen
Teil der Bevölkerung war Schmalhans Küchenmeister, und das
Geld war immer knapper.
Meine
Eltern waren nicht gerade wohlhabend, aber mein Vater hatte
ein sicheres Einkommen. Wir konnten uns hin und wieder auch
ein wenig Luxus leisten oder was man damals dafür hielt. So
kam es, daß ich zu meinem siebenten Geburtstag einen
Puppenwagen geschenkt bekam, eine geradezu fürstliche
Erwerbung, zumal es sich dabei nicht um ein primitives Gestell
aus Holzgeflecht handelte, sondern um eine Miniaturausgabe
eines echten Kinderwagens mit all seinen vorzeigbaren
Attributen.
Ich
wurde von meinen Spielkameradinnen sehr darum beneidet und
fuhr stolz meine beiden Puppen darin spazieren: die
Porzellanpuppe Lotte mit den echten Haaren und das Puppenbaby
"Bubi", dem freilich das Zeichen seiner Männlichkeit
fehlte, das ich aber kategorisch zum Jungen ernannt hatte.
Wenn ich für kurze Zeit ins Haus ging, um zu essen oder die
Toilette aufzusuchen, pflegte ich den Puppenwagen nicht mit
hineinzunehmen, sondern nur an die Hauswand zu stellen.
Eines
Tages nun war ich von einem solchen Kurzbesuch im Haus zurückgekehrt
und hatte bereits den Wagen ein paar Meter vorangeschoben, als
ich einen Blick hineinwarf, um nach meinen "Kindern"
zu sehen. Mir stand vor Schreck fast das Herz still: Lotte und
Bubi waren verschwunden, und an ihrer Stelle lag da ein
armseliges Puppengeschöpf aus Stoff mit aufgesticktem Mund
und Augenschlitzen, sicher von einer Mutter handgefertigt!
Mit
Abscheu und Entsetzen riß ich die Puppe aus dem Wagen und
rannte weinend zu meiner Mutter.
"Jemand
hat Lotte und Bubi gestohlen", schluchzte ich, "und
dafür dieses gräßliche Ding in den Puppenwagen
gelegt."
Meine
Mutter nahm den Wechselbalg in die Hand und betrachtete ihn
nachdenklich.
"Reg
dich nicht auf", sagte sie dann, "wahrscheinlich
sollte das nur ein dummer Spaß sein, und der alberne Spaßvogel
tauscht die Puppen wieder aus. Laß den Wagen einfach draußen
stehen und warte erst mal ab."
Die
Befolgung dieses Ratschlages fiel mir schwer. Ich ging in mein
Zimmer und begann, in meinen geliebten Märchenbüchern zu blättern.
Aber all die Feen, Nixen und Königstöchter verweigerten mir
diesmal die gewohnten Freuden. Ich grübelte darüber nach,
wie es wohl meinen beiden Puppenkindern ergehen mochte, ob der
Dieb sie wohl gut behandeln oder sie achtlos in eine Ecke
werfen und vielleicht sogar Lottes Kleider beschmutzen oder
zerreißen würde.
Nach
einer Stunde, die mir endlos erschien, rannte ich aus dem Haus
und sah in den Puppenwagen. Und da lagen sie wieder: Lotte und
Bubi, als wären sie nie weggewesen!
Zwar
war meine Erleichterung groß, aber tief in meinem Innern
blieb ein Rest, der sich nicht zufriedengeben wollte. Ich
wollte herausfinden, wer mir das angetan hatte, und legte mich
auf die Lauer, um die Täterin beim nächsten Mal zu
erwischen. In unserem Vorgarten stand ein verzweigter
Haselstrauch. Hinter den setzte ich mich, aufmerksam das
Geschehen auf der Straße beobachtend.
Etwa
eine halbe Stunde später schob sich eine kleine Gestalt an
den Häusern entlang und blieb schließlich vor meinem
Puppenwagen stehen. Ich erkannte sie gleich: Es war die Mimi,
ein dürftiges, armseliges Ding aus meiner Schulklasse, die in
der letzten Reihe saß und kaum je den Mund auftat, nicht bei
dem üblichen Geschwätz unter Schülern und schon gar nicht,
wenn sie eine Frage des Lehrers beantworten sollte. In den Händen
hielt sie das Ding aus Stoff, das in meinem Puppenwagen
gelegen hatte.
Mit
einem wilden Satz sprang ich aus meinem Versteck hervor und
schrie: "Du warst das also! Du hast meine Puppen
weggenommen und dieses grausliche Balg dafür in den Wagen
gelegt. Na warte!"
Mimi
sah mich aus großen Augen an und sagte kleinlaut: "Es
ist wegen Samantha."
"Samantha?",
wiederholte ich fragend.
"Das
ist meine Puppe. Sie heißt Samantha. Meine Mutter hat den
Namen einmal gelesen, und er gefiel ihr so gut. Sie sagte,
wenn sie ihn damals schon gekannt hätte, hätte sie mich
Samantha genannt."
Das
leuchtete mir ein – Samantha war auf alle Fälle schöner
als Mimi.
"Ja,
und weil Samantha nie in einem Puppenwagen ausgefahren wird,
habe ich ihn mir einmal kurz geborgt. Als du neulich aus dem
Haus kamst, bin ich so erschrocken, daß ich gleich weglief
und meine Puppe in deinem Wagen vergessen habe."
"Und
was hast du mit Lotte und Bubi gemacht?"
"Ich
habe sie unter euren Birnbaum gesetzt, dort hatten sie es gut
und sahen auf das Beet mit den Stiefmütterchen. Du hast sie
nur nicht gesehen."
Ich
sah abwechselnd meine Puppen, Mimi und Samantha an und wußte
nicht, was ich zu der ganzen Geschichte sagen sollte. Mimi
stand da wie ein Häuflein Elend, und ich sah mit einem Mal,
was ich nie gesehen hatte: ihre magere, für ihr Alter viel zu
kleine Gestalt, die schäbige, mehrfach geflickte Kleidung,
das blasse, hagere Gesicht mit den viel zu großen Augen. Und
obwohl ich erst acht Jahre alt war, dämmerte in mir eine
Ahnung, daß es Dinge und Lebensumstände gab, die außerhalb
meiner Erfahrungen lagen.
Eine
heiße Welle von Mitleid und auch so etwas wie Zuneigung zu
Mimi und sogar zu Samantha überflutete mich, und ich sagte
verlegen: "Na ja. Ist ja nicht so schlimm."
Und
dann setzte ich in einem Anfall von aufkeimender Großmut
hinzu: "Du kannst dir meinen Puppenwagen manchmal
ausborgen. Aber du mußt es mir vorher sagen."
Mimi
erstarrte zu einer Art Denkmal aus Verblüffung und
ungewohnter Freude. "Danke" sagte sie nicht, das gehörte
nicht zu ihrem Wortschatz, sie hatte wohl auch selten
Gelegenheit gehabt, sich zu bedanken.
Dann
gingen wir nebeneinander her, ein ungleiches Paar, aber in
Eintracht und Frieden.
Mit freundlicher
Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv
Aus:
"Stöckchen-Hiebe". Kindheit in Deutschland
1914-1933.
Reihe Zeitgut Band 3, Zeitgut Verlag Berlin
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