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 Puppengeschichten

Niemes, nahe Böhmisch Leipa
Sudetenland 1929

Margarete Kubelka
Ein Puppenwagen für Samantha  

Es war gegen Ende der zwanziger Jahre, und die Arbeitslosigkeit in unserem Land hatte einen Höhepunkt erreicht. Bei einem großen Teil der Bevölkerung war Schmalhans Küchenmeister, und das Geld war immer knapper.

Meine Eltern waren nicht gerade wohlhabend, aber mein Vater hatte ein sicheres Einkommen. Wir konnten uns hin und wieder auch ein wenig Luxus leisten oder was man damals dafür hielt. So kam es, daß ich zu meinem siebenten Geburtstag einen Puppenwagen geschenkt bekam, eine geradezu fürstliche Erwerbung, zumal es sich dabei nicht um ein primitives Gestell aus Holzgeflecht handelte, sondern um eine Miniaturausgabe eines echten Kinderwagens mit all seinen vorzeigbaren Attributen.

Ich wurde von meinen Spielkameradinnen sehr darum beneidet und fuhr stolz meine beiden Puppen darin spazieren: die Porzellanpuppe Lotte mit den echten Haaren und das Puppenbaby "Bubi", dem freilich das Zeichen seiner Männlichkeit fehlte, das ich aber kategorisch zum Jungen ernannt hatte. Wenn ich für kurze Zeit ins Haus ging, um zu essen oder die Toilette aufzusuchen, pflegte ich den Puppenwagen nicht mit hineinzunehmen, sondern nur an die Hauswand zu stellen.

Eines Tages nun war ich von einem solchen Kurzbesuch im Haus zurückgekehrt und hatte bereits den Wagen ein paar Meter vorangeschoben, als ich einen Blick hineinwarf, um nach meinen "Kindern" zu sehen. Mir stand vor Schreck fast das Herz still: Lotte und Bubi waren verschwunden, und an ihrer Stelle lag da ein armseliges Puppengeschöpf aus Stoff mit aufgesticktem Mund und Augenschlitzen, sicher von einer Mutter handgefertigt!

Mit Abscheu und Entsetzen riß ich die Puppe aus dem Wagen und rannte weinend zu meiner Mutter.

"Jemand hat Lotte und Bubi gestohlen", schluchzte ich, "und dafür dieses gräßliche Ding in den Puppenwagen gelegt."

Meine Mutter nahm den Wechselbalg in die Hand und betrachtete ihn nachdenklich.

"Reg dich nicht auf", sagte sie dann, "wahrscheinlich sollte das nur ein dummer Spaß sein, und der alberne Spaßvogel tauscht die Puppen wieder aus. Laß den Wagen einfach draußen stehen und warte erst mal ab."

Die Befolgung dieses Ratschlages fiel mir schwer. Ich ging in mein Zimmer und begann, in meinen geliebten Märchenbüchern zu blättern. Aber all die Feen, Nixen und Königstöchter verweigerten mir diesmal die gewohnten Freuden. Ich grübelte darüber nach, wie es wohl meinen beiden Puppenkindern ergehen mochte, ob der Dieb sie wohl gut behandeln oder sie achtlos in eine Ecke werfen und vielleicht sogar Lottes Kleider beschmutzen oder zerreißen würde.

Nach einer Stunde, die mir endlos erschien, rannte ich aus dem Haus und sah in den Puppenwagen. Und da lagen sie wieder: Lotte und Bubi, als wären sie nie weggewesen!

Zwar war meine Erleichterung groß, aber tief in meinem Innern blieb ein Rest, der sich nicht zufriedengeben wollte. Ich wollte herausfinden, wer mir das angetan hatte, und legte mich auf die Lauer, um die Täterin beim nächsten Mal zu erwischen. In unserem Vorgarten stand ein verzweigter Haselstrauch. Hinter den setzte ich mich, aufmerksam das Geschehen auf der Straße beobachtend.

Etwa eine halbe Stunde später schob sich eine kleine Gestalt an den Häusern entlang und blieb schließlich vor meinem Puppenwagen stehen. Ich erkannte sie gleich: Es war die Mimi, ein dürftiges, armseliges Ding aus meiner Schulklasse, die in der letzten Reihe saß und kaum je den Mund auftat, nicht bei dem üblichen Geschwätz unter Schülern und schon gar nicht, wenn sie eine Frage des Lehrers beantworten sollte. In den Händen hielt sie das Ding aus Stoff, das in meinem Puppenwagen gelegen hatte.

Mit einem wilden Satz sprang ich aus meinem Versteck hervor und schrie: "Du warst das also! Du hast meine Puppen weggenommen und dieses grausliche Balg dafür in den Wagen gelegt. Na warte!"

Mimi sah mich aus großen Augen an und sagte kleinlaut: "Es ist wegen Samantha."

"Samantha?", wiederholte ich fragend.

"Das ist meine Puppe. Sie heißt Samantha. Meine Mutter hat den Namen einmal gelesen, und er gefiel ihr so gut. Sie sagte, wenn sie ihn damals schon gekannt hätte, hätte sie mich Samantha genannt."

Das leuchtete mir ein – Samantha war auf alle Fälle schöner als Mimi.

"Ja, und weil Samantha nie in einem Puppenwagen ausgefahren wird, habe ich ihn mir einmal kurz geborgt. Als du neulich aus dem Haus kamst, bin ich so erschrocken, daß ich gleich weglief und meine Puppe in deinem Wagen vergessen habe."

"Und was hast du mit Lotte und Bubi gemacht?"

"Ich habe sie unter euren Birnbaum gesetzt, dort hatten sie es gut und sahen auf das Beet mit den Stiefmütterchen. Du hast sie nur nicht gesehen."

Ich sah abwechselnd meine Puppen, Mimi und Samantha an und wußte nicht, was ich zu der ganzen Geschichte sagen sollte. Mimi stand da wie ein Häuflein Elend, und ich sah mit einem Mal, was ich nie gesehen hatte: ihre magere, für ihr Alter viel zu kleine Gestalt, die schäbige, mehrfach geflickte Kleidung, das blasse, hagere Gesicht mit den viel zu großen Augen. Und obwohl ich erst acht Jahre alt war, dämmerte in mir eine Ahnung, daß es Dinge und Lebensumstände gab, die außerhalb meiner Erfahrungen lagen.

Eine heiße Welle von Mitleid und auch so etwas wie Zuneigung zu Mimi und sogar zu Samantha überflutete mich, und ich sagte verlegen: "Na ja. Ist ja nicht so schlimm."

Und dann setzte ich in einem Anfall von aufkeimender Großmut hinzu: "Du kannst dir meinen Puppenwagen manchmal ausborgen. Aber du mußt es mir vorher sagen."

Mimi erstarrte zu einer Art Denkmal aus Verblüffung und ungewohnter Freude. "Danke" sagte sie nicht, das gehörte nicht zu ihrem Wortschatz, sie hatte wohl auch selten Gelegenheit gehabt, sich zu bedanken.

Dann gingen wir nebeneinander her, ein ungleiches Paar, aber in Eintracht und Frieden.  

 

 

Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

Aus: "Stöckchen-Hiebe". Kindheit in Deutschland 1914-1933. 
Reihe Zeitgut Band 3, Zeitgut Verlag Berlin

 

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