|
|
|
Eine Puppe habe
ich auch heute, mit 78 Jahren, noch auf dem Sofa. Meine Enkelin darf mit
ihr spielen, wann immer sie möchte.
Meine Lotte ist nur 8 Jahre alt geworden. Im März 1945 ist sie an der
Hand eines amerikanischen Panzeroffiziers in dessen Gefährt mitgenommen
worden. Ich werde das Gesicht von diesem Bösewicht nie vergessen. Daß
eine 17jährige so herzzerreißend um ein Spielzeug weinen konnte,
verstand er wohl nicht. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Heute
könnte ich mir vorstellen, daß sie das Heimweh des Fremden getröstet
hat.
|
Die Winter waren in meiner Kindheit kälter, selten, daß
es im Dezember noch keinen Schnee gegeben hätte. Kam es doch mal vor, dann
besuchte uns St. Nikolaus mit Esel und Knecht Rupprecht zu Fuß. Aber daß er
einmal nicht gekommen oder sogar wegen Krankheit weggeblieben wäre – nein, daß
gab es nicht.
Oft waren die Tage von
Nikolaus bis zum Christfest so lang, länger konnte für mich keine Ewigkeit
dauern. Angefüllt mit bangem Warten, den heimlichen Wünschen und Hoffen. Jeden
Abend flocht ich in mein Nachtgebet den heißen Wunsch mit ein‚ das Christkind
möge mich nur nicht vergessen. Das Versprechen‚ recht brav und artig zu
sein‚ ging dabei mit Leichtigkeit über die kindlichen Lippen. Wer vom
Christkind vergessen wurde‚ mit dem Kind mußte doch etwas nicht stimmen. Ich
hatte dieses Pech. Mich hatte das Christkind schon zwei Weihnachten vergessen!
Einfach vergessen! Keine Geschenke‚ keinen Tannenbaum‚ nichts!
Wie war das nur möglich? Ich
wußte es nicht! Ich war doch so folgsam gewesen! Ein braveres Mädchen als mich
konnte es gar nicht geben. In meinem kleinen verbitterten Herzen kamen Zweifel
auf. Vielleicht gab es gar kein Christkind?
Ich hüllte mich immer mehr
in diese Schutzbehauptung. Den anderen gegenüber tat ich sehr schlau und
allwissend. Aber am Abend in meinem Bettchen ließ ich meinen Tränen freien
Lauf, und meine Gebete kamen noch inniger und bittender über meine Lippen, denn
es nahte wieder ein Weihnachtsfest.
Geschenke‚ die so richtig
von Herzen gewünscht wurden‚ bekamen wir fünf Geschwister nur zu
Weihnachten. Kleine Wunschbriefchen hatte ich immer wieder geschrieben‚ daran
konnte es also nicht liegen. So fing ich an‚ mein Nachtgebet lauter und
deutlicher zu sprechen‚ vielleicht konnte das Christkind besser hören als
lesen. Mein Nachtgebet bestand von nun an aus drei Wünschen und einem
Versprechen: "Liebes Christkind‚ ich bitte dich, laß meine Mutti wieder
gesund werden. Mir schenke bitte einen warmen Mantel, und wenn Du eine Puppe
hast, die kein anderes Kind haben möchte‚ ich nehme sie gerne. Dafür
verspreche ich Dir, an Dich zu glauben bis ich alt und tot bin. Amen."
Ich war in meinen Wünschen
sehr bescheiden geworden. Die letzten Weihnachten waren sehr trübe und arm
gewesen. Unsere Mutter war seit 1934 linksseitig gelähmt, und so war der
Schlaganfall für uns ein schweres Schicksal, denn die Mutter war erst 44 Jahre
alt. Der Vater war nach einem Grubenunglück
seit 1918 Frührentner. Meine vier großen Brüder waren ohne Lehrstelle und
arbeitslos. Meine Eltern waren früher Mitglied der SPD. Vater gab keinem seiner
Söhne die Einwilligung, in den Jugendverband der Nazis einzutreten. Der älteste
ging 1934 zum freiwilligen Arbeitsdienst, damit bei uns ein Esser weniger am
Tisch saß.
Nur gut, daß wir beim Fürsten
von Hatzfeld etwas Land pachten konnten, so mußten wir wenigstens nicht mehr
hungern. Trotzdem bekamen wir die Auswirkungen von Vaters Haltung zu spüren.
Die vielen Kontrollen, denen wir mit unserer kleinen Landwirtschaft ausgesetzt
waren, gingen weit über das Übliche hinaus.
Durch Mutters Krankheit
entstanden immer mehr Lücken im Haushalt. Es fehlte uns an Wäsche, besonders
an warmer Unterwäsche für mich! Niemand gab uns etwas, für die Winterhilfe
existierten wir nicht. Die Armut schaute uns aus allen Knopflöchern. Ich durfte
wie meine Brüder nicht in die Jugendorganisation der Nazis eintreten. Meine
Argumente, ich wolle doch auch einmal schöner gekleidet sein, meine
uniformierten Schulfreundinnen bekämen sogar bessere Noten und ich würde sie
deshalb sehr beneiden, stießen bei meinem Vater auf taube Ohren.
Wenn Vater von Max Hirsch aus
Hennef, einem jüdischen Händler, ein paar Herrenartikel auf Kredit bekommen
hatte, dann war uns wieder einmal eine Hausdurchsuchung sicher. Der
Ortsvorsteher und seine Parteibonzen ließen die Tatsache nicht gelten, daß wir
zum Abzahlen ein ganzes Jahr lang Zeit hatten. Sie gaben vor, Bargeld bei uns zu
suchen.
Das erste Weihnachten nach
Mutters Erkrankung war wohl das schlimmste für mich. Es gab keinen
Weihnachtsbaum‚ keinen Teller mit Süßigkeiten‚ keine Geschenke für keinen
in der Familie, und wir waren doch sieben Personen. Nur sieben Hasen‚ von Teig
gebacken‚ wie sonst die Weckmänner, im Tannengrün versteckt, das an den Wänden
im Wohnzimmer, fast unter der weißgetünchten Decke befestigt war. Aber so, als
würden sie sich im Kreise nachlaufen. Mehr hatte das Christkind für uns nicht
gehabt. Da half auch kein Weinen und Fragen, es war einfach nicht mehr dagewesen.
Ich kann mich nicht daran
erinnern, daß es am zweiten Weihnachten Geschenke gegeben hat, aber daran, daß
ich krank, mit einer Lungenentzündung in meinem Bett, auch von der Nonne
Schwester Bonevita betreut wurde. Die Mutter wurde noch immer durch sie versorgt
und gepflegt.
Zum dritten Weihnachtsfest
nach Mutters Erkrankung, hatte das Christkind schon etwas für mich abgegeben:
ein Paar gestrickte Wollstrümpfe und ein braunes Samtkleid mit Blümchenmuster.
Oh, da ging es mir schon besser um mein Herzchen, das vor Freude zerspringen
wollte. Und der Mutter ging es auch besser‚ sie erkannte nun ihre Familie
wieder, und sie lernte neu das Sprechen und das Schreiben.
Nun rückte das
Weihnachtsfest 1937 heran‚ und ich war zehn Jahre alt. Es gab bestimmt im
ganzen Dorf kein Mädchen mit so guten Vorsätzen. Ich nahm mir fest vor, an das
Christkind zu glauben‚ innig betete ich jeden Abend ein Stoßgebet, mit der
Bitte, mich nur nicht zu vergessen.
Die Adventszeit war fast wie
früher, als die Mutter noch nicht erkrankt war. Sie saß mit in der Küche, im
Backofen des großen Küchenherdes brutzelten Bratäpfel. Beim Duft und Schein
der zweiten Kerze am Adventskranz kam schon richtige Weihnachtsstimmung auf. Der
Vater hatte nach langer Zeit die Zither hervorgeholt und spielte ganz leise
Weihnachtslieder, die wir mitsummten. Die vier älteren Brüder saßen bei ihm
am Tisch und bastelten irgendwelche Sachen.
Ich hockte auf einer kleinen
Fußbank der Mutter zu Füßen, die in ihrem Krankenstuhl sitzend am Geschehen
teilnahm, und las ihr aus dem Lesebuch eine Weihnachtsgeschichte vor. Aus der
Kirchenzeitung oder aus dem katholischen Heftchen "Frau und Mutter“, das sie
einmal im Monat bekam, las ich ihr am liebsten vor, denn drinnen war mein
Herzenswunsch, eine Anzeige mit einer Puppe, groß abgebildet‚ und ich versäumte
es nicht, der Mutter diese Spalte immer wieder vorzulesen. Damit wollte ich ihr
ja nur mitteilen, wie wichtig es doch war, zu wissen, das es irgendwo einen
Versand gab, der 68 cm große Puppen hatte. Ich legte ihr das Heftchen so auf
den Schoß‚ daß sie das Puppenbild sehen mußte, und schaute solange darauf,
bis sie es mit ihrer rechten gesunden Hand an sich nahm und betrachtete: "Ja
mein Mädelchen‚ wenn ich gesund wäre, dann wäre bestimmt vieles anders."
Damit war die Geldsorge
gemeint, die ihre Krankheit kostete. Ein Seufzer kam aus ihrer Brust, den ich
seufzend unterstützte. Mein Hinweis, daß ich kein Schwesterchen hätte‚ wohl
eine Puppenküche, aber keine Puppe, fiel auf taube Ohren.
Einer der Brüder meinte:
"Hör endlich auf mit deiner Bettelei! Mit dir, Schwesterchen‚ haben wir
genug an Puppen im Haus."
Der Blöde, er konnte ja gar
nicht wissen, wie wichtig eine Puppe für mich war, er war doch nur ein Junge!
Aber die Schleckereien aus der Puppenküche stibitzten sie mir, ohne Ausnahme,
alle vier.
Das Heftchen mit dem
Puppenbild wanderte jeden Abend mit ins Bett. Ich konnte es mir nicht oft genug
ansehen: Eine Puppe mit Schlafaugen, Mamastimme‚ Zöpfen‚ Hut‚ Mantel und
einem hübschen Kleidchen darunter. Sie trug schwarze Lackschuhe. Auch, daß sie
an einer Hand der Puppenmutter, was ich ja denn wohl war‚ laufen konnte, das
alles war doch sehr wichtig. Aber keiner nahm eine Notiz von meiner Sorge und
den heißen Wünschen. Die Brüder verhöhnten mich sogar wegen meines lauten
Betens.
Der Weihnachtsmorgen kam, die
Mutter ging an ihrem Stock mit in die Wohnstube. Ich hatte es wohl
wahrgenommen‚ aber ich war so aufgeregt und wollte mich noch schnell an ihr
vorbeidrängeln. Dabei hielt mich mein älterer Bruder an meinen Zöpfen fest.
Vor lauter Neugierde hatte ich nicht bemerkt, daß mein erster Weihnachtswunsch
in Erfüllung gegangen war: In der Stube stand ein Tannenbaum mit weißen
brennenden Kerzen und bunten Kugeln geschmückt. Auf dem Tisch lag wieder die
schwere rote Weihnachtsdecke‚ die Porzellanteller waren gefüllt mit Plätzchen‚
Honig- und Pfefferkuchengebäck. Die rotwangigen Äpfel waren sicher vom
Himmelspersonal extra für unsere Stube blankgerieben worden. An meinem Stuhl
hing auf einem Bügel ein grüner Lodenmantel mit Kapuze und neben meinem Teller
lag das Spiel "Spitz paß auf ..."
Gott sei dank‚ das
Christkind hatte uns nicht vergessen! Das waren meine ersten Gedanken. Die
brennenden Kerzen am Baum waren die einzige Lichtquelle im Raum. Es war in den
frühen Morgenstunden und das Stubenfenster hatte rundherum am Holzrahmen
entlang Eisblumen angesetzt. Ich ging ans Fenster, um zu sehen‚ ob noch
irgendwelche Spuren im Schnee sichtbar gewesen wären‚ aber nein‚ nichts. Im
Garten sah ich ein Reh‚ das sich an einem Rest Gemüse seinen Hunger stillte.
Der Vater stimmte ein
Weihnachtslied an. Die Mutter saß in ihrem Stuhl und wir stellten uns zum
Weihnachtsbaum. Ich hatte meine Freude an dem schön geschmückten Tannenbaum.
Von all den Vorbereitungen hatte ich gar nichts mitbekommen. So war die Überraschung
doppelt groß. Kräftig sang ich das Lied "Oh Tannenbaum" mit. Dabei meinte
ich, der Baum hätte gezittert. Daß ich es selbst war, wußte ich nicht, als
ich meine heißersehnte Puppe‚ wohl etwas versteckt‚ in einem
holzgeschnitztem fahrbaren Lehnstuhl sitzen sah. Mit einem erlösenden Schrei
rief ich: "Lotte, meine Lotte! Jetzt habe ich dich endlich!"
Alle Sehnsucht einer echten
Puppenmutter lagen in diesen Worten. Das Puppenkind fest in meinen Armen
haltend‚ hatte ich meine Umwelt vergessen, auch die armen und schlechten
Jahre. Sie hatte mich mit allem wieder versöhnt. Erst viel später merkte ich,
daß die Eltern und Geschwister mit dem Singen aufgehört hatten und mich
beobachteten. Oh wie war ich glücklich!
Freudig ging ich später im
neuen Mantel an der Hand des Vaters zur Messe in die Kirche. Wir mußten eine
Dreiviertelstunde durch den Schnee stapfen. Nach der Messe gingen wir zur
aufgebauten Weihnachtskrippe. Ich hatte nicht vergessen‚ was mir die Mutter
gesagt hatte: Nur dort‚ beim Kind in der Krippe, könnte ich mich für alles
bedanken. Der Vater ließ mir Zeit‚ damit ich all das Schöne in mir aufnehmen
konnte. Jedes Jahr kam eine neue Krippenfigur von den Spenden hinzu. So war der
aus schwarzem Holz geschnitzte Knabe neu. Er kniete am Rande der Krippe, und
hielt die Spardose dafür in seinen Händen. Freudig nickte er jedesmal mit
seinem Turban bedeckten Kopf, wenn ein Geldstück in der Dose klimperte.
Der Vater kam an meine Seite
und legte seine Hand auf meine Schulter, als er zu mir sagte: "Siehste‚ und
es gibt doch ein Christkind!"
Dann gab er mir ein
Zehn-Pfennig-Stück in die Hand und deutete auf den Knaben. Ich steckte das Geld
in den dafür vorgesehenen Schlitz, der Knabe bedankte sich mit einem
verbeugenden Kopfnicken. Ich flüsterte ihm leise ins Ohr: "Tschüß‚ bis
Sonntag."
Mit
freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv
|