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Alzen bei Morsdorf, Oberbergischer Kreis
Nordrhein-Westfalen 1937

Bernadette Schnüttgen
Und es gibt doch ein Christkind


Eine Puppe habe ich auch heute, mit 78 Jahren, noch auf dem Sofa. Meine Enkelin darf mit ihr spielen, wann immer sie möchte.
Meine Lotte ist nur 8 Jahre alt geworden. Im März 1945 ist sie an der Hand eines amerikanischen Panzeroffiziers in dessen Gefährt mitgenommen worden. Ich werde das Gesicht von diesem Bösewicht nie vergessen. Daß eine 17jährige so herzzerreißend um ein Spielzeug weinen konnte, verstand er wohl nicht. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Heute könnte ich mir vorstellen, daß sie das Heimweh des Fremden getröstet hat.

 


Die Winter waren in meiner Kindheit kälter, selten, daß es im Dezember noch keinen Schnee gegeben hätte. Kam es doch mal vor, dann besuchte uns St. Nikolaus mit Esel und Knecht Rupprecht zu Fuß. Aber daß er einmal nicht gekommen oder sogar wegen Krankheit weggeblieben wäre – nein, daß gab es nicht.

Oft waren die Tage von Nikolaus bis zum Christfest so lang, länger konnte für mich keine Ewigkeit dauern. Angefüllt mit bangem Warten, den heimlichen Wünschen und Hoffen. Jeden Abend flocht ich in mein Nachtgebet den heißen Wunsch mit ein‚ das Christkind möge mich nur nicht vergessen. Das Versprechen‚ recht brav und artig zu sein‚ ging dabei mit Leichtigkeit über die kindlichen Lippen. Wer vom Christkind vergessen wurde‚ mit dem Kind mußte doch etwas nicht stimmen. Ich hatte dieses Pech. Mich hatte das Christkind schon zwei Weihnachten vergessen! Einfach vergessen! Keine Geschenke‚ keinen Tannenbaum‚ nichts!

Wie war das nur möglich? Ich wußte es nicht! Ich war doch so folgsam gewesen! Ein braveres Mädchen als mich konnte es gar nicht geben. In meinem kleinen verbitterten Herzen kamen Zweifel auf. Vielleicht gab es gar kein Christkind?

Ich hüllte mich immer mehr in diese Schutzbehauptung. Den anderen gegenüber tat ich sehr schlau und allwissend. Aber am Abend in meinem Bettchen ließ ich meinen Tränen freien Lauf, und meine Gebete kamen noch inniger und bittender über meine Lippen, denn es nahte wieder ein Weihnachtsfest.

Geschenke‚ die so richtig von Herzen gewünscht wurden‚ bekamen wir fünf Geschwister nur zu Weihnachten. Kleine Wunschbriefchen hatte ich immer wieder geschrieben‚ daran konnte es also nicht liegen. So fing ich an‚ mein Nachtgebet lauter und deutlicher zu sprechen‚ vielleicht konnte das Christkind besser hören als lesen. Mein Nachtgebet bestand von nun an aus drei Wünschen und einem Versprechen: "Liebes Christkind‚ ich bitte dich, laß meine Mutti wieder gesund werden. Mir schenke bitte einen warmen Mantel, und wenn Du eine Puppe hast, die kein anderes Kind haben möchte‚ ich nehme sie gerne. Dafür verspreche ich Dir, an Dich zu glauben bis ich alt und tot bin. Amen."

Ich war in meinen Wünschen sehr bescheiden geworden. Die letzten Weihnachten waren sehr trübe und arm gewesen. Unsere Mutter war seit 1934 linksseitig gelähmt, und so war der Schlaganfall für uns ein schweres Schicksal, denn die Mutter war erst 44 Jahre alt. Der Vater war nach einem  Grubenunglück seit 1918 Frührentner. Meine vier großen Brüder waren ohne Lehrstelle und arbeitslos. Meine Eltern waren früher Mitglied der SPD. Vater gab keinem seiner Söhne die Einwilligung, in den Jugendverband der Nazis einzutreten. Der älteste ging 1934 zum freiwilligen Arbeitsdienst, damit bei uns ein Esser weniger am Tisch saß.

Nur gut, daß wir beim Fürsten von Hatzfeld etwas Land pachten konnten, so mußten wir wenigstens nicht mehr hungern. Trotzdem bekamen wir die Auswirkungen von Vaters Haltung zu spüren. Die vielen Kontrollen, denen wir mit unserer kleinen Landwirtschaft ausgesetzt waren, gingen weit über das Übliche hinaus.

Durch Mutters Krankheit entstanden immer mehr Lücken im Haushalt. Es fehlte uns an Wäsche, besonders an warmer Unterwäsche für mich! Niemand gab uns etwas, für die Winterhilfe existierten wir nicht. Die Armut schaute uns aus allen Knopflöchern. Ich durfte wie meine Brüder nicht in die Jugendorganisation der Nazis eintreten. Meine Argumente, ich wolle doch auch einmal schöner gekleidet sein, meine uniformierten Schulfreundinnen bekämen sogar bessere Noten und ich würde sie deshalb sehr beneiden, stießen bei meinem Vater auf taube Ohren.

Wenn Vater von Max Hirsch aus Hennef, einem jüdischen Händler, ein paar Herrenartikel auf Kredit bekommen hatte, dann war uns wieder einmal eine Hausdurchsuchung sicher. Der Ortsvorsteher und seine Parteibonzen ließen die Tatsache nicht gelten, daß wir zum Abzahlen ein ganzes Jahr lang Zeit hatten. Sie gaben vor, Bargeld bei uns zu suchen.

Das erste Weihnachten nach Mutters Erkrankung war wohl das schlimmste für mich. Es gab keinen Weihnachtsbaum‚ keinen Teller mit Süßigkeiten‚ keine Geschenke für keinen in der Familie, und wir waren doch sieben Personen. Nur sieben Hasen‚ von Teig gebacken‚ wie sonst die Weckmänner, im Tannengrün versteckt, das an den Wänden im Wohnzimmer, fast unter der weißgetünchten Decke befestigt war. Aber so, als würden sie sich im Kreise nachlaufen. Mehr hatte das Christkind für uns nicht gehabt. Da half auch kein Weinen und Fragen, es war einfach nicht mehr dagewesen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es am zweiten Weihnachten Geschenke gegeben hat, aber daran, daß ich krank, mit einer Lungenentzündung in meinem Bett, auch von der Nonne Schwester Bonevita betreut wurde. Die Mutter wurde noch immer durch sie versorgt und gepflegt.

Zum dritten Weihnachtsfest nach Mutters Erkrankung, hatte das Christkind schon etwas für mich abgegeben: ein Paar gestrickte Wollstrümpfe und ein braunes Samtkleid mit Blümchenmuster. Oh, da ging es mir schon besser um mein Herzchen, das vor Freude zerspringen wollte. Und der Mutter ging es auch besser‚ sie erkannte nun ihre Familie wieder, und sie lernte neu das Sprechen und das Schreiben.

Nun rückte das Weihnachtsfest 1937 heran‚ und ich war zehn Jahre alt. Es gab bestimmt im ganzen Dorf kein Mädchen mit so guten Vorsätzen. Ich nahm mir fest vor, an das Christkind zu glauben‚ innig betete ich jeden Abend ein Stoßgebet, mit der Bitte, mich nur nicht zu vergessen.

Die Adventszeit war fast wie früher, als die Mutter noch nicht erkrankt war. Sie saß mit in der Küche, im Backofen des großen Küchenherdes brutzelten Bratäpfel. Beim Duft und Schein der zweiten Kerze am Adventskranz kam schon richtige Weihnachtsstimmung auf. Der Vater hatte nach langer Zeit die Zither hervorgeholt und spielte ganz leise Weihnachtslieder, die wir mitsummten. Die vier älteren Brüder saßen bei ihm am Tisch und bastelten irgendwelche Sachen.

Ich hockte auf einer kleinen Fußbank der Mutter zu Füßen, die in ihrem Krankenstuhl sitzend am Geschehen teilnahm, und las ihr aus dem Lesebuch eine Weihnachtsgeschichte vor. Aus der Kirchenzeitung oder aus dem katholischen Heftchen "Frau und Mutter“, das sie einmal im Monat bekam, las ich ihr am liebsten vor, denn drinnen war mein Herzenswunsch, eine Anzeige mit einer Puppe, groß abgebildet‚ und ich versäumte es nicht, der Mutter diese Spalte immer wieder vorzulesen. Damit wollte ich ihr ja nur mitteilen, wie wichtig es doch war, zu wissen, das es irgendwo einen Versand gab, der 68 cm große Puppen hatte. Ich legte ihr das Heftchen so auf den Schoß‚ daß sie das Puppenbild sehen mußte, und schaute solange darauf, bis sie es mit ihrer rechten gesunden Hand an sich nahm und betrachtete: "Ja mein Mädelchen‚ wenn ich gesund wäre, dann wäre bestimmt vieles anders."

Damit war die Geldsorge gemeint, die ihre Krankheit kostete. Ein Seufzer kam aus ihrer Brust, den ich seufzend unterstützte. Mein Hinweis, daß ich kein Schwesterchen hätte‚ wohl eine Puppenküche, aber keine Puppe, fiel auf taube Ohren.

Einer der Brüder meinte: "Hör endlich auf mit deiner Bettelei! Mit dir, Schwesterchen‚ haben wir genug an Puppen im Haus."

Der Blöde, er konnte ja gar nicht wissen, wie wichtig eine Puppe für mich war, er war doch nur ein Junge! Aber die Schleckereien aus der Puppenküche stibitzten sie mir, ohne Ausnahme, alle vier.

Das Heftchen mit dem Puppenbild wanderte jeden Abend mit ins Bett. Ich konnte es mir nicht oft genug ansehen: Eine Puppe mit Schlafaugen, Mamastimme‚ Zöpfen‚ Hut‚ Mantel und einem hübschen Kleidchen darunter. Sie trug schwarze Lackschuhe. Auch, daß sie an einer Hand der Puppenmutter, was ich ja denn wohl war‚ laufen konnte, das alles war doch sehr wichtig. Aber keiner nahm eine Notiz von meiner Sorge und den heißen Wünschen. Die Brüder verhöhnten mich sogar wegen meines lauten Betens.

Der Weihnachtsmorgen kam, die Mutter ging an ihrem Stock mit in die Wohnstube. Ich hatte es wohl wahrgenommen‚ aber ich war so aufgeregt und wollte mich noch schnell an ihr vorbeidrängeln. Dabei hielt mich mein älterer Bruder an meinen Zöpfen fest. Vor lauter Neugierde hatte ich nicht bemerkt, daß mein erster Weihnachtswunsch in Erfüllung gegangen war: In der Stube stand ein Tannenbaum mit weißen brennenden Kerzen und bunten Kugeln geschmückt. Auf dem Tisch lag wieder die schwere rote Weihnachtsdecke‚ die Porzellanteller waren gefüllt mit Plätzchen‚ Honig- und Pfefferkuchengebäck. Die rotwangigen Äpfel waren sicher vom Himmelspersonal extra für unsere Stube blankgerieben worden. An meinem Stuhl hing auf einem Bügel ein grüner Lodenmantel mit Kapuze und neben meinem Teller lag das Spiel "Spitz paß auf ..."

Gott sei dank‚ das Christkind hatte uns nicht vergessen! Das waren meine ersten Gedanken. Die brennenden Kerzen am Baum waren die einzige Lichtquelle im Raum. Es war in den frühen Morgenstunden und das Stubenfenster hatte rundherum am Holzrahmen entlang Eisblumen angesetzt. Ich ging ans Fenster, um zu sehen‚ ob noch irgendwelche Spuren im Schnee sichtbar gewesen wären‚ aber nein‚ nichts. Im Garten sah ich ein Reh‚ das sich an einem Rest Gemüse seinen Hunger stillte.

Der Vater stimmte ein Weihnachtslied an. Die Mutter saß in ihrem Stuhl und wir stellten uns zum Weihnachtsbaum. Ich hatte meine Freude an dem schön geschmückten Tannenbaum. Von all den Vorbereitungen hatte ich gar nichts mitbekommen. So war die Überraschung doppelt groß. Kräftig sang ich das Lied "Oh Tannenbaum" mit. Dabei meinte ich, der Baum hätte gezittert. Daß ich es selbst war, wußte ich nicht, als ich meine heißersehnte Puppe‚ wohl etwas versteckt‚ in einem holzgeschnitztem fahrbaren Lehnstuhl sitzen sah. Mit einem erlösenden Schrei rief ich: "Lotte, meine Lotte! Jetzt habe ich dich endlich!"

Alle Sehnsucht einer echten Puppenmutter lagen in diesen Worten. Das Puppenkind fest in meinen Armen haltend‚ hatte ich meine Umwelt vergessen, auch die armen und schlechten Jahre. Sie hatte mich mit allem wieder versöhnt. Erst viel später merkte ich, daß die Eltern und Geschwister mit dem Singen aufgehört hatten und mich beobachteten. Oh wie war ich glücklich!

Freudig ging ich später im neuen Mantel an der Hand des Vaters zur Messe in die Kirche. Wir mußten eine Dreiviertelstunde durch den Schnee stapfen. Nach der Messe gingen wir zur aufgebauten Weihnachtskrippe. Ich hatte nicht vergessen‚ was mir die Mutter gesagt hatte: Nur dort‚ beim Kind in der Krippe, könnte ich mich für alles bedanken. Der Vater ließ mir Zeit‚ damit ich all das Schöne in mir aufnehmen konnte. Jedes Jahr kam eine neue Krippenfigur von den Spenden hinzu. So war der aus schwarzem Holz geschnitzte Knabe neu. Er kniete am Rande der Krippe, und hielt die Spardose dafür in seinen Händen. Freudig nickte er jedesmal mit seinem Turban bedeckten Kopf, wenn ein Geldstück in der Dose klimperte.

Der Vater kam an meine Seite und legte seine Hand auf meine Schulter, als er zu mir sagte: "Siehste‚ und es gibt doch ein Christkind!"

Dann gab er mir ein Zehn-Pfennig-Stück in die Hand und deutete auf den Knaben. Ich steckte das Geld in den dafür vorgesehenen Schlitz, der Knabe bedankte sich mit einem verbeugenden Kopfnicken. Ich flüsterte ihm leise ins Ohr: "Tschüß‚ bis Sonntag."

 

Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

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