Karin Kitsche
Die Puppe im
Schrank
|
Frau Kitsche hat mir
erlaubt, 'Die Puppe im Schrank' zu veröffentlichen. Diese und andere
Geschichten werden in ihrem neuen Buch erscheinen. Der
Erscheinungs-Termin
steht noch nicht fest, hier erfahren Sie, wenn es soweit ist.
|
Vor vielen, vielen
Jahren sass im Schaufenster einer grossen sächsischen Stadt eine Puppe.
Unter dem Kleid lugten weisse Strümpfe und kleine schwarze Lackschühchen
hervor. Dicke braune Zöpfe aus echtem Haar reichten ihr bis zur Taille
und wenn im Schaufenster das Licht gelöscht war und alle Menschen sich
schlafen gelegt hatten, konnte auch die Puppe ihre Augen schliessen.
Manchmal blieben ein paar Menschen stehen und besahen sich die Auslagen
hinter der Scheibe. Dann war die Puppe glücklich, denn die meisten
bewunderten das schöne Puppenkind. Eines Abends blieb auch eine ältere,
kinderlos gebliebene Dame vor dem Schaufenster stehen und betrachtete
die grosse Puppe in dem hellerleuchteten, weihnachtlich geschmückten
Fenster. Auf der Strasse war es bereits dunkel, Schneeflocken schwebten
vom Himmel auf den Gehsteig, Menschen hasteten vorüber, doch die ältere
Dame blieb ganz verzückt stehen. Dann betrat sie den Laden. Kurz darauf
öffnete der Ladebesitzer das Türchen in der Rückwand des
Schaufensters, nahm das Puppenkind vorsichtig von seinem Platz und trug
es zur Ladentheke. Die Dame betrachtete das Puppenkind nochmals und dann
nickte sie dem Ladenbesitzer lächelnd zu. Er wickelte die Puppe in
feines Seidenpapier und legte sie in einen grossen grün gemusterten
Karton. Ein paar Tage später trug die Dame das Puppenkind zum Bahnhof
und fuhr mit ihm in ein Städtchen in Thüringen. Am Stadtrand, dort wo
seit ein paar Jahren kleine Siedlungshäuschen ihre Giebel in den Himmel
reckten, wohnte ihr Patenkind. Das kleine Mädchen hatte den Stuhl
unters Fenster geschoben und sah erwartungsvoll hinaus in die Nacht. Vor
wenigen Tagen erst war sie sieben Jahre alt geworden und so hoffte das
Kind insgeheim auf ein kleines Geschenk von der Tante. Dann sah es die
Tante kommen und staunend betrachtete es den grossen Karton, den sie in
die Stube trug und vorsichtig auf dem Sofa ablegte. Der Karton wurde geöffnet
und das raschelnde Seidenpapier auseinander gefaltet. Ganz verzückt,
vor lauter Freude ganz still, betrachtete das kleine Mädchen die Puppe.
Niemals zuvor hatte es solch eine grosse und wunderschöne Puppe
erblickt. Sie war so gross, dass sie dem Kind bis an die Brust reichte.
Als es die Puppe berühren und im Arm halten durfte, strahlten seine
Augen und die Glückseligkeit färbte das schmale blasse Kindergesicht.
Keines der Geschwister und kein Kind in der Nachbarschaft hatte jemals
solch ein kostbares Spielzeug besessen. So hielt das Kind, auf dem
sicheren Sofa sitzend, die Puppe im Arm, bewunderte und liebkoste das
kostbare Geschenk. Schweigsam und ganz in sein Glück vertieft, wiegte
es das Puppenkind. Behutsam strichen die Kinderhände über das kostbare
Kleid. Doch als die Tante gegangen war, nahm die Mutter die Puppe fort
und setzte sie in den Kleiderschrank. Nur wenn die Mutter etwas aus dem
Schrank holen wolle, konnte man das Puppenkind sehen. Und dann war das
kleine Mädchen immer zur Stelle, um einen kurzen Blick auf ihren
allergrössten Schatz zu werfen. Ganz oben hinter der mittleren Tür mit
dem grossen Spiegel sass sie und lächelte dem traurigen Kinde zu.
Niemals wagte es, das Verbot der Mutter zu missachten und den Schrank zu
öffnen. Doch es verbrachte viele Stunden vor dem weissen Schrank und
dachte an die dahinter sitzende Puppe.
Inzwischen war der
Krieg ausgebrochen und seine Wirren bescherten den Menschen viel Kummer
und Leid. Vorsorglich hatte die Mutter die bescheidenen Schätze der
Familie in den Keller getragen. Zu ihnen gehörte auch die Puppe. Sie
war in ihren grün gemusterten Karton zurückgekehrt und geriet mit der
Zeit in Vergessenheit.
Viele Jahre später lärmten
wieder Kinder in der Stube des kleinen Häuschens und manchmal blieben
sie über Nacht. An langen Wintertagen stiegen sie mit dem Grossvater in
den Keller hinab um von den saftigen Birnen zu holen. Doch an den Schatz
im Karton dachte niemand mehr. Als die ältesten Enkelkinder fast
erwachsen waren, starb mitten im Sommer der Grossvater und an einem
bitterkalten Novembertag des gleichen Jahres trug man auch die Grossmutter
zu Grabe. Im Häuschen zog das jüngste ihrer Kinder, das Nesthäkchen
ein.
Fünfundzwanzig Jahre
waren vergangen, als sich an einem stürmischen Tage im Herbst die
Grenzen öffneten und die Menschen des Landes endlich wieder vereinte.
Viele Menschen verliessen in den folgenden Jahren ihre Heimat. Auch das
kleine Mädchen von einst musste sich von ihren Kindern und Enkeln
verabschieden. Bald stand das Haus der Grosseltern zum Verkauf, denn
auch seine Bewohner zogen um. Das Häuschen wurde leer geräumt,
Dachboden und Keller entrümpelt. Viele Dinge kamen zum Vorschein, und
weckten Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.
In einer dunklen Ecke
des Kellers fand man einen Karton und als die Finger über den staubigen
Deckel strichen und das verblasste Grün zum Vorschein kam, erinnerte
sich auch das Nesthäkchen an den Schatz im Kleiderschrank. Das feine
Seidenpapier war vergilbt und brüchig, aber unter ihm kam die Puppe zum
Vorschein. Das einst glänzende Haar war stumpf und ebenso verstaubt wie
das prachtvolle Kleid. Doch abgesehen von kleinen Schäden hatte die
Puppe die vielen Jahre gut überstanden. Da säuberte das Nesthäkchen
den Karton und brachte ihn vor ihrer Abreise in die neue Heimat der
grossen Schwester. Tränen standen ihr in den Augen, als diese den
Karton erkannte und beim Anblick des Puppenkindes rollten sie ungehemmt.
Jetzt durfte sie die Puppe im Arm halten wann immer sie wollte und
niemand würde sie wieder in einen Schrank setzen und die Tür hinter
ihr schliessen. Von nun an durfte das Puppenkind in der Stube sitzen und
das kleine Mädchen von einst hatte seine Freude daran. Doch nach ein
paar Monaten nahm sie die Puppe in den Arm und sagte ihr:“ Mein liebes
Puppenkind, du bist noch genau so schön wie damals. Aber sieh mich an.
Ich bin inzwischen alt und gebrechlich geworden. Was wird aus dir, wenn
ich mich einmal nicht mehr um dich kümmern kann? Es würde mir das Herz
brechen, wenn dir böses geschieht. Deshalb habe ich beschlossen, dich
an meine älteste Tochter weiter zu geben. Sie wird gut für dich sorgen
und dich genauso lieb haben wie ich.“
In weiche Decken
gehüllt trat das geliebte Puppenkind seine Reise an. In einem kleinem
Dorf in Baden-Württemberg wurde das Bündel an eine Frau überreicht,
die mit Erstaunen entdeckte, was sich darin befand. Erst am Telefon
erfuhr sie die Geschichte der Puppe und die Geschichte des kleinen
Mädchens - ihrer Mutter. Mit klopfendem Herzen und dem Versprechen,
immer gut für das Puppenkind zu sorgen, legte sie den Hörer auf. An
einem hellen und freundlichen Platz im Wohnzimmer durfte die Puppe ,von
nun an sitzen.
Eines Tages aber sprach
die Frau zu dem Puppenkind:“ Ich möchte, dass du wieder so schön
wirst wie damals an jenem Weihnachtsabend vor vielen, vielen Jahren.
Dein Haar soll wieder glänzen und deine Augen wieder leuchten. Und
deshalb werde ich dich nochmals auf eine grosse Reise schicken. Also hab
keine Angst, dir geschieht nichts. Und noch bevor wir in diesem Jahr die
Lichter an unserem Weihnachtsbaum anzünden, bist du wieder zu Hause.“
Sie packte das
Puppenkind gut ein und bereits am nächsten Tag trat es seine grosse
Reise in die Schweiz an. Vom Fenster der Frau Doktor aus erblickte es
das satte Grün der Wälder und drüben am Fuss der schneebedeckten
Berge glitzerte der See. Es konnte sich einfach nicht satt sehen an
dieser herrlichen Landschaft und reckte seinen Kopf in die Höhe, sobald
die Frau Doktor das Zimmer verlassen hatte. Nach vielen Wochen war das
Puppenkind wieder ganz gesund und als es in den Spiegel sah, war es
wieder genau so wunderschön wie damals in dem hellerleuchteten
Schaufenster der grossen Stadt. Es verabschiedete sich von all den
anderen Puppen und Teddybären, blickte noch einmal hinüber zum See und
legte sich schlafen. Bereits am nächsten Morgen trat das Puppenkind die
Reise an.
In dem kleinen schwäbischen
Dorf wird das Puppenkind von nun an zu Hause sein. Irgendwann aber wird
es wieder im Arm eines Kindes liegen - im Arm der Urenkelin des kleinen
Mädchens von damals.
|