Leseproben
Hamburg-Wilhelmsburg
November/Dezember 1926
Ernst
Haß
Grünkohl-Weihnachten
Drei
Jahre nach der Inflation ging es uns immer noch schlecht. Ich war
13 Jahre alt. Mein jüngerer Bruder und ich hatten eines
gemeinsam: ständig Hunger! Mutter teilte uns das Brot zu, am
Brotkasten hing ein Schloß! Unser Vater hatte 1924 bei der
Reiherstieg-Werft in Hamburg angefangen zu arbeiten, aber jetzt,
im November 1926, wurden alle Hamburger Werften bestreikt. Ich
denke nicht gerne an diese Zeit zurück, denn Mutter hat heimlich
viel geweint, weil es für uns nicht genug zu essen gab. So machte
ich mir Gedanken, wie ich zum Haushaltsbudget beitragen könnte
und suchte in der Zeitung nach einem Job.
Ich hatte Glück! Hinter dem Rücken meiner Mutter schrieb ich
eine Firma an und bekam Antwort.
Firma Henry Gabrielson-Papier Export AS, Spitalerstr. 12,
Semperhaus B – stand als Absender auf der Karte.
Nun mußte ich Mutter mein Geheimnis offenbaren. Zuerst wollte sie
nicht zulassen, daß ich dreimal in der Woche jeweils zwei Stunden
in der Stadt als Laufjunge und Bote Geld dazuverdiente. Ich
bettelte, bis sie einverstanden war.
Zum Vorstellungstermin in Hamburg kam Mutter mit. Außer mir
bewarben sich fünf weitere Jungen um den Job. Vier Mark pro Woche
sollte es dafür geben – das war damals viel Geld! Für eine
Mark konnte man zum Beispiel vier Pfund Rama-Margarine oder 20
Eier kaufen. Bei uns in Hamburg-Wilhelmsburg gab es bei Bäcker
Meier am Ernst-August-Kanal für 10 Pfennige eine Riesentüte voll
Kuchenrändern. Mein Fahrrad, ein "Dauerpedder", auf
Hochdeutsch: Dauerndtreter, hatte 28,50 RM gekostet. Ich war sehr
stolz darauf, denn ich hatte vom Frühjahr bis zum Herbst bei
Bauer Benthak geholfen und es mir von dem Lohn zusammengespart.
Ein Fahrrad mit Torpedo-Freilauf und Rücktrittbremse war viel zu
teuer.
Ich bekam die Botenstelle, vielleicht weil ich schüchterner als
die anderen Jungen war. Gleich am Montag sollte ich anfangen. Nach
Schulschluß um 14 Uhr lief ich rasch nach Hause, damit ich pünktlich
um 15 Uhr meine Stelle antreten konnte. Ich mußte meinen
Sonntagsanzug anziehen, damit ich anständig aussähe, verlangte
Mutter. Dann bin ich mit meinem Dauerpedder losgesaust. Von 15 bis
17 Uhr hatte ich Briefe und Prospekte auszutragen. Die Lauferei
war ja zuerst ungewohnt, weil ich mich in der Gegend um den
Hauptbahnhof nicht auskannte. Am zweiten Tag klappte alles schon
viel besser. Ich kam mit den Fahrstühlen und Paternostern gut
zurecht, das machte mir Spaß.
Als ich die ersten vier Mark nach Hause brachte, war die Freude
groß. Mutter fiel mir um den Hals und drückte mich. "Mien
groot‘n Jung’n", sagte sie. Dabei wischte sie sich mit dem
Schürzenzipfel über die Augen. Ich war stolz, daß ich Mutter
helfen konnte.
Es ging auf Weihnachten zu. Der Chef und seine Sekretärin hatten
Vertrauen zu mir, ich mußte auch Geld und Schecks zur Bank
bringen. Einen Tag vor Heiligabend bekam ich nicht vier, sondern
zehn Mark!
Mir kamen die Tränen vor Freude – so viel Geld! Die Sekretärin
merkte es und nahm mich in den Arm. "God Jul", sagte sie und
gab mir einen Kuß auf die Wange, was mich ganz durcheinander
brachte. Auf der Rückfahrt nach Hause hat mich kein Auto überholt,
so schnell fuhr ich, um Mutter das Geld auf den Tisch zu legen.
Mutter lobte mich und sagte: "Du lieber Gott, ich danke dir. Ist
die Not am größten, so ist der liebe Gott am nächsten."
Bei Bauer Rheders erstand ich einen Sack Grünkohl und half
Mutter, das Gemüse abzustrubbeln. Der Kohl war noch voll Schnee
und Eis und meine Finger wurden ganz klamm. Nach dem Putzen schütteten
wir den Kohl zum Säubern in den Waschkessel und anschließend in
Mutters größten Pott. Dann durfte ich mit Kienspan Feuer anzünden
und Holz nachlegen. Mutter warnte: "Paß’ schön auf, das
Feuer darf nicht ausgehen!"
Während sie bei Kaufmann Münch in Niedergeorgswerder – der
existiert heute noch! – einiges besorgen wollte, heizte ich
weiter ein und schwitzte nicht wenig dabei. Mein Bruder holte von
draußen Holz herein. Der dampfende Kohl hat mehr als gestunken!
Nach einer Dreiviertelstunde war Mutter wieder da. Mit rotem Kopf
und schwer bepackt mit zwei Körben kam sie den Deich herunter.
Ich lief ihr entgegen und nahm sie ihr ab. Dabei fragte ich sie: "Warum stinkt denn der Kohl beim Kochen so entsetzlich?"
"Weil er Frost gehabt hat, das muß so sein, sonst schmeckt er
nicht", erklärte sie mir.
Neugierig sahen wir zu, wie Mutter die Körbe auspackte. Dabei
lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mutter hatte eine große
Schweinebacke und geräucherten Speck eingekauft. "So Jungs, dat
kummt alln’s in Greunkohlpott! Hier hab’ ich noch ’n paar
Tannenbaumkringel, die könnt ihr mit Zwirnsfaden in den
Tannenbaum hängen", sagte sie. "Der Weihnachtsmann hat keine
Zeit, is’ nichts mit der Bescherung dieses Jahr. Nächstes Jahr
will er bestimmt kommen."
Wir Jungen waren damit zufrieden.
Am nächsten Tag war Heiligabend. Wir freuten uns schon auf die
Schweinebacke und den geräucherten Speck. Vormittags spielten wir
auf dem Deich, wo wir uns eine Rutschbahn – bei uns sagte man
Glitsche – angelegt hatten. Wir trugen Stiefel mit Holzsohlen,
Schuhe mit Ledersohlen waren nur sonntags erlaubt. Das Glitschen
machte richtig Spaß! Der Postbüdel (-bote) kam und stellte sein
Fahrrad oben am Deich ab. Als er zum Haus hinuntergehen wollte,
rutschten ihm schon beim dritten Schritt die Beine unterm Hintern
weg. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegend, schimpfte er: "Düsse
verdreihten Görn!"
Briefe und Päckchen lagen verstreut auf dem Deich, alles war aus
seiner Ledertasche herausgerutscht. Wir haben heimlich gelacht,
halfen ihm aber beim Aufsammeln der Postsachen. Schuld hatten wir
ja. Unsere Mutter hatte alles mit angesehen und wollte es auch
Vater sagen. Mein Bruder und ich hatten Angst. Aus der Strafe
wurde aber nichts – Mutter hatte es vergessen!
So verging der Nachmittag, es wurde schummerig und schnell dunkel.
Nach dem Waschen durften wir in die Küche – sie war voller Überraschungen!
Es gab Kartoffelsalat und Knackwürste. Ich sah dankbar zu Mutter
hin, die mich aber schon beobachtet hatte.
Der Weihnachtsmann ist zwar nicht gekommen, aber wir sind richtig
sattgeworden, wofür wir unserem Herrgott dankbar waren. Die
Lichter am Tannenbaum leuchteten in diesem Jahr besonders hell, so
schien mir. Mutter stimmte ein Lied an: "Oh Tannenbaum, wie grün
sind deine Blätter ..." Als wir das zweite Lied: "Oh, du fröhliche,
selige gnadenbringende Weihnachtszeit" sangen, mußte mein
Bruder laut aufstoßen, so vollgefressen war er!
Vater sagte "Mahlzeit!"
Mit dem Singen war es vorbei, wir mußten alle lachen. Es war eine
ärmliche Weihnachtsfeier ohne Bescherung, aber trotzdem schön!
Das damalige Weihnachtsessen habe ich übernommen bis auf den
heutigen Tag, nur Kaßler und Kochwürste kommen heute zusätzlich
an den Grünkohl.
Aus:
"Zwischen Kaiser und Hitler". Reihe ZEITGUT, Band 15.
Oberholz
bei Much, Rhein-Sieg-Kreis
im Bergischen Land;
Dezember 1945
Eckhard
Müller
Später Besuch
Es
war Anfang Dezember 1945. Der Zweite Weltkrieg hatte sein Ende
gefunden. Seit einem halben Jahr schwiegen die Waffen. Wir
erwarteten das erste friedliche Weihnachtsfest seit sechs Jahren.
Das Leben hatte sich zunehmend normalisiert. Obwohl die Menschen
in unserer ländlichen Gegend nicht in so hohem Maße unter dem
Bombenterror zu leiden brauchten wie die Menschen in den Städten,
war auch hier der Kriegsschrecken nicht spurlos vorübergegangen.
Nun hieß es, zusammenrücken, denn der Strom von Flüchtlingen
und Obdachlosen aus den Ostgebieten und aus den Großstädten
hielt an. Wer noch ein Zimmer oder eine Kammer in seinem Hause zur
Verfügung stellen konnte, nahm eine Flüchtlingsfamilie bei sich
auf. Es gab eine für heutige Verhältnisse unvorstellbare
Solidarität. Das wenige, das man selber noch besaß, wurde
geteilt mit denen, die alles verloren hatten.
Unser kleines Fachwerkhaus, das ich mit meinen Eltern und mit
meiner Großmutter bewohnte, teilten wir seit den letzten
Kriegstagen mit einem älteren Ehepaar. Es waren entfernte
Verwandte, und sie hatten in einer Bombennacht ihre ganze Habe
verloren. Nun waren sie froh, bei uns wenigstens wieder ein Dach
über dem Kopf gefunden zu haben.
Die Militärregierung der Siegermächte hatte die zivile
Verwaltung in ihre Hand genommen und somit Gesetz und Ordnung
wiederhergestellt. Trotzdem waren die Zeiten noch sehr unruhig.
Immer wieder machten umherstreunende Banden von sich reden. Es
entstanden die wildesten Gerüchte. Man hörte von Greueltaten -
auch aus einigen Dörfern in unserer Gemeinde. Denn der Schutz des
Gesetzes war noch nicht überall gewährleistet.
Diese umherziehenden Gruppen setzten sich zum großen Teil aus
ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Osteuropa
zusammen. Nach Wiedererlangung ihrer Freiheit waren viele von
ihnen nicht mehr gewillt oder in der Lage, in ihre Heimat zurückzukehren.
Was man ihnen nicht freiwillig gab, nahmen sie sich mit Gewalt.
Dabei kam es auch verschiedentlich zu Übergriffen und Racheakten
gegenüber ihren früheren Unterdrückern. Nach Einbruch der
Dunkelheit war es ratsam, Fenster und Türen gut zu verschließen.
Wer draußen noch irgendeine Arbeit zu verrichten hatte, trug
Sorge, sich nicht allzuweit von den schützenden Häusern zu
entfernen.
Es war an einem solchen Abend in der Vorweihnachtszeit, ich
glaube, es war am Abend des zweiten Advent. Meine Eltern waren
eben mit der Stallarbeit fertiggeworden und wir schickten uns an,
das Abendbrot zu essen, als plötzlich an unsere Haustür geklopft
wurde. Mein Vater begab sich nach draußen, um nachzuschauen.
Neugierig gesellte ich mich zu ihm. Ich war damals neun Jahre alt.
Sechs merkwürdige Gestalten stehen an einem Adventsabend des
Jahres 1945 vor dem kleinen Häuschen der Familie Müller im
Bergischen Land und bitten um ein Quartier für die Nacht.
Da
stand in der Dunkelheit ein gutes halbes Dutzend Männer. In
gebrochenem Deutsch baten sie um ein Quartier für die Nacht.
Zögernd ließ mein Vater sie eintreten. Nachdem sie in unserer
Wohnstube Platz genommen hatten, konnten wir sie im Scheine der
Lampe näher betrachten. Sehr vertrauenerweckend sahen sie nicht
aus. Das Leben auf der Landstraße hatte sie gezeichnet.
Während meine Mutter das Abendbrot zubereitete, versuchte mein
Vater etwas über das Schicksal der Männer zu erfahren. Nach der
einfachen, mit wenigen Mitteln zubereiteten, aber kräftigen
Mahlzeit wurde beratschlagt, wie und wo man die Männer für die
Nacht unterbringen könnte.
Im Hause selber war es, nicht zuletzt durch unsere Verwandten als
neue Mitbewohner, ziemlich eng geworden. Also blieb nur noch die
Scheune. Im Scheunenanbau befand sich der Holzschuppen, dort
lagerte auch das Heu als Wintervorrat für unsere beiden Kühe.
Hier im Heu richteten nun meine Eltern mit allerlei Decken und
alten Mänteln ein warmes und bequemes Nachtlager her. Unsere alte
Petroleumlampe sorgte für die nötige Helligkeit.
Kurz vor Schlafenszeit entschloß sich mein Vater zu einem
"Kontrollgang", wie er sich ausdrückte. Es ließ ihm nämlich
keine Ruhe, ob sich unsere Gäste auch an die Abmachung gehalten
hatten, wegen der großen Brandgefahr auf das Rauchen zu
verzichten. Meine Mutter bat mich mitzugehen. Im Beisein eines
Kindes - so meinte sie - wäre mein Vater sicherer vor eventuellen
Übergriffen.
Als wir den Holzschuppen betraten, bot sich uns im Schein der
Laterne ein Bild, das ich bis heute nicht vergessen habe: Da hatte
sich ein Teil der Männer unserer Sägen bemächtigt und sie
schnitten nun die schweren Stämme, die hier als Brennholz
lagerten, in Ofenlänge durch. Die anderen spalteten die klobigen
Klötze mit dem Beil zu handlichen Scheiten und stapelten sie auf.
Das alles bereitete ihnen ein sichtliches Vergnügen, umso mehr,
als sie nun unsere ungläubigen und erstaunten Blicke sahen. Sie
erklärten, das sei nur ein kleiner Dank für die freundliche
Aufnahme.
Am anderen Morgen sind sie dann nach einem guten Frühstück -
nicht ohne ein großes Butterbrotpaket, das jeder von ihnen zum
Abschied in die Hand gedrückt bekam - weitergezogen, einer
ungewissen Zukunft entgegen.
Viele Jahre sind seitdem ins Land gegangen, doch immer wieder muß
ich an jenen Dezemberabend denken, an dem die Angst, die
Voreingenommenheit und das Mißtrauen besiegt wurden durch ein
wenig Menschenfreundlichkeit.
Flüchtlingslager
"Finnenhäuser" zwischen Hüpede und Bennigsen bei
Hannover, Niedersachsen; 1949
Klaus
Seiler
Schlesische Mohnklöße
Kurz
vor Weihnachten gibt es die unverzichtbare Reise mit der Eisenbahn
nach Hameln. Tante Friedel, Vaters Schwester, und mein Vater
kennen dort einen schlesischen Schlachter. Nur der hat die
richtigen Schinkenwürstchen für den Heiligen Abend. Kein Weg ist
zu weit, keine Mühe, kein Umstand zu groß, um für das
Weihnachtsessen einzukaufen. Am Abend kommt Vater mit einer
vollgepackten Tasche nach Hause. Der Duft der geräucherten Würstchen
zieht in die Wohnung ein; das Wasser läuft uns im Mund zusammen.
Heiliger
Abend: Wir gehen auf der Landstraße ins Dorf, dick eingepackt
gegen die Eiseskälte. Die Kirche mitten im Ort ist unser Ziel.
Wir kommen zum Weihnachtsgottesdienst immer zu spät. Wir haben
wohl auch den weitesten Weg. Auf der Orgelempore gibt es nur den
Stehplatz, Jahr für Jahr. Wir Kinder sehen fast nichts von der
weihnachtlichen Kirche. In Augenhöhe nur Wintermäntel,
abgewetzte Pelze, grüne Joppen und verdrehte Gürtel. Der Geruch
von Mottenkugeln steigt uns in die Nase. Umfallen kann man bei der
Enge nicht, höchstens ersticken. Den Pastor können wir nur hören,
eine dröhnend-singende Stimme. Ob er das Flüchtlingslager kennt?
Die tiefen Töne der Orgel schlagen auf den Darm, jedesmal. Ich
habe richtig Angst vor der Orgel: Dann beginnt das fürchterliche
Poltern im Inneren ... Doch endlich - nach "O du fröhliche"
- öffnen sich wieder die Kirchentüren; wir werden nach draußen
gedrückt, gequetscht, müssen uns - wie benommen - auf dem
dunklen Platz vor der Kirche erst suchen. Aber hier: diese
wunderbare, frische, eisige Luft. Wir werden wieder lebendig.
In den Häusern an der Straße sehen wir durch die Fenster
brennende Kerzen an den Tannenbäumen; Kinder, Erwachsene huschen
im Kerzenlicht durch die Räume. Zeit der Bescherung in vielen
Familien des Dorfes.
Der Weg zurück ins Lager - auf der menschenleeren Landstraße -
hat einen Zauber. "Markt und Straßen steh'n verlassen"
- ich kenne dieses Lied schon aus ganz frühen Jahren. Ich
verbinde es mit diesem Weg.
Es ist ganz still hier draußen. Nur unsere Schritte auf dem
Asphalt sind zu hören, mehr nicht. Wir reden fast nicht, gehen
auch nicht schnell, wir sind diesmal nicht in Eile ...
In der Ferne am Hang die Lichter von Lüdersen.
Diese Stunde Fußmarsch durch die kalte Nacht zwischen dem Dorf
und dem Lager ist mir unvergeßlich. Die Stille, die Weite, der
gefrorene, von Reif oder Schnee bedeckte Acker ringsum, der
Himmel, die eisige, klare Luft, die Einsamkeit, das gemeinsame
Gehen. Zu diesem Weg durch die Dunkelheit gehören die Sterne. Die
Sterne sind in diesen Frostnächten zum Greifen nah. Ihre
Klarheit, das ferne Blinken - als blinzelten sie uns zu. Unter dem
Sternenzelt gibt es Geborgenheit. Die Sterne nehmen die Angst, die
Sterne machen ruhig und froh. Sie sind wie freundliche Augen. Wir
sind nicht allein. Ich könnte heulen. Weihnachten und das
Sternenzelt gehören zusammen!
Mich
haben später auf dem fast menschenleeren Schulweg im Dunkeln
durch die Trümmerfelder von Hannover-Linden bis zum Waterlooplatz
- vorbei an dem riesigen Trümmerplatz, der später das
Niedersachsen-Stadion wurde -oft die Sterne getröstet. Ich war
ganz sicher: Wenn sie mir zublinken, bin ich nicht allein; dann
kann mir nichts passieren.
Das Weihnachtsessen ist vorbereitet, die Kartoffeln für den Brei
- bei uns heißen sie Stampfkartoffeln, sie werden ja auch richtig
gestampft - sind bereits geschält. Die Schinkenwürstchen gleiten
ins kochende Wasser. Nach kurzer Zeit dampft es aus allen Töpfen;
ein betörender Duft kommt zusammen: das Sauerkraut aus eigener
Tonne (wie oft haben wir die ausgediente, hölzerne Fischtonne mit
kochendem Wasser ausgeschrubbt!), die Kartoffeln, die Buttersoße,
die einmaligen Hamelner Würstchen. Die Fenster beschlagen, doch
wir lassen die Luft und den Duft nicht entweichen. Ein Festmahl!
Wir beten. Wir füllen die Teller, bauen Burgen, bilden kleine
Seen und Flußläufe aus brauner Buttersoße. Wir genießen. Es muß
so etwas wie Heimat sein - mitten in der Fremde. Wie der Himmel.
Das ist Weihnachten. Zur schlesischen Weihnacht gehören
unverzichtbar Mohnklöße um Mitternacht.
Für sie und für den Mohnkuchen mit Streuseln oder den gerollten
Mohnstrietzel für die Sonntagnachmittage gab es das große
Mohnbeet im Garten mit den leuchtenden violett-weißen Blüten.
Aus den aufgeschnittenen Kapseln, immer schon vor der Reife
geerntet, um den gefräßigen Spatzen zuvorzukommen und
sicherheitshalber im Schuppen getrocknet, rieseln die unzähligen
blauen Körner in die Schüssel. Die Kapseln lassen sich, hat man
die Krone glatt abgeschnitten, richtig ausgießen. Der Mohn landet
in einem weißen Säckchen, das - vor Mäusen sicher - aufgehängt
wird. Manche Kapsel lassen wir genußvoll in den Mund rieseln. Wie
das wohl wirkt?
Mohn macht dumm, heißt es allerdings immer wieder warnend. Den
Mohn mahlt Bäcker Bänsch im Dorf; er - der schlesische Bäcker -
hat eine Mohnmühle, ein echter Landsmann! Das Mahlen muß man
nicht bezahlen.
Die
Mohnklöße: Weißbrotscheiben, in heißer Milch gequollener Mohn,
der mit Rosinen, Mandelöl und weiteren Zutaten aus winzigen Fläschchen
veredelt wird - alles schwer und triefend in eine Jenaer Glasform
gepreßt. Sie müssen unter einem Tuch wohl stunden- oder gar
tagelang ziehen. Hilfe, mir entgleitet das Rezept!
Die Mohnklöße plumpsen ins Innere zu allen schon vorhandenen
Wohltaten des Weihnachtsabends und liegen wie Steine im Magen. Sie
lassen die Weihnachtsnacht zur unruhigen Nacht werden. Aber sie müssen
sein ... Weihnachten ohne Mohnklöße gibt es nicht.
Die
Nacht wird auch sonst unbequem. Ich nehme alle Geschenke mit ins
Bett, lege sie - fühlbar - an den Rand des Kopfkissens, stecke
sie unter die Bettdecke: das Holzauto aus der schwedischen
Spielzeugspende, das Kamel mit seinen langen, motorbetriebenen
Beinen - ein Geschenk unseres Erfinder-Onkels Georg, dem Bruder
meiner Mutter; auch wenn es auf seinen Stelzenbeinen nicht laufen
konnte, sondern schon beim ersten Schritt das Gleichgewicht
verlor, brachte es uns doch mit einer fernen, fremden Welt in Berührung
-, den schwarzlackierten Volkswagen (ebenfalls zum Aufziehen), das
Sägebrettchen aus der Laubsägegarnitur. Schwieriger war es
allerdings mit den Keksen, den Schokoladenkringeln und den braunen
Marzipankugeln. Eine unbequeme, krümelige, klebrige, staksige,
harte, hier und da immer weicher werdende Nachbarschaft in den
Weihnachtsnächten, bevor der Alltag wieder begann.
Aber
es mußte sein. Offenbar war die Angst, es könnte am nächsten
Morgen etwas fehlen, zu groß. Immer diese Angst, es könnte einem
etwas weggenommen werden; man lernt das Festhalten und Bewachen,
und offenbar gibt es im Innern ein tiefes Mißtrauen ... selbst
bei verschlossenen Türen.
Klaus Seiler und seine Schwester 1950 im Barackenlager bei
Hannover.
(Aus
"Barackenkinder" von Klaus Seiler. Das Buch ist im
Zeitgut Verlag in der "Sammlung der Zeitzeugen"
erschienen.)
Huglfing,
an der Salzstraße, Oberbayern -
London, England -
Buckenhof und Uttenreuth bei Erlangen, Mittelfranken;
Weihnachten 1952/1954/1945
Brigitte
Meyer-Rudat
Drei ganz verschiedene Weihnachtsfeste
Zwei
Wochen vor dem Weihnachtfest 1952 befinde ich mich in einem
kleinen oberbayerischen Dorf mit dem lustigen Namen Huglfing, etwa
60 Kilometer südlich von München gelegen. Wir sind vier Haustöchter
in einem evangelischen Müttererholungsheim. Gemeinsam mit der
Hausmutter versorgen wir die Mütter und sind zuständig für
Haus, Garten und Waschküche, auch für Hund und Katz. Wir
verstehen uns sehr gut und wechseln uns bei allen Tätigkeiten ab.
"Huuuglfiing!" ruft der Bahnbeamte auf dem kleinen
Bahnhof in schönstem Bayerisch. Unsere erholungsbedürftigen Mütter
sind alle gut angekommen. Das Haus ist blitzblank geputzt, und wir
haben mit viel Vorfreude jede Menge Weihnachtsplätzchen gebacken.
Auch sieben große Christstollen liegen gut verpackt im Keller. Im
ganzen Haus riecht es herrlich weihnachtlich nach Pfefferkuchen,
Anisgebäck und nach Tannenzweigen, die wir vier Mädchen überall
im Haus verteilt haben.
Alle Mütter, die hier das Weihnachtsfest verbringen dürfen‚
sind nervlich und körperlich sehr mitgenommen. Sie haben jeweils
drei bis fünf Kinder, die in dieser Zeit bei Oma und Opa oder bei
anderen netten Menschen untergekommen sind. Wir geben uns alle Mühe,
diesen Frauen ein friedliches, warmes und frohes Weihnachtsfest zu
bereiten. Die schöne Dekoration mit Strohsternen‚ Glöckchen‚
Herzchen und Monden an den Tannenzweigen bringt uns in eine frohe
Weihnachtsstimmung. Wie es sich gehört, fängt es auch an zu
schneien, alles sieht so friedlich und weihnachtlich aus. Wir
singen die alten Krippenlieder: "Der Heiland ist geboren,
freu' dich du Christenheit" oder "Wärst du Kindlein im
Kaschuben Lande, wärst du doch bei uns geboren".
Es gibt jeden Tag ein sehr gutes Essen, denn die Mütter sollen
sich in jeder Hinsicht erholen. Wir machen Spiele und unternehmen
Spaziergänge im tiefen Schnee, auch eine zünftige
Schneeballschlacht darf nicht fehlen. Ausflüge in das schöne
oberbayerische Bergland führen uns nach Mittenwald oder
Garmisch-Partenkirchen‚ auch nach Oberstdorf.
Weihnachtsputz im Müttererholungsheim Huglfing in Oberbayern
1952.
Nun ist es Heiligabend. Ein Bergbauer bringt uns einen großen
Tannenbaum, der im Speisesaal auf einem Brett mit vier Beinen
aufgestellt wird. Wir schmücken ihn mit vielen Strohsternen,
glitzernden Kugeln‚ Lametta und Kerzen, auf die Spitze setzen
wir einen Rauschgoldengel. Auf dem Brett unter dem Weihnachtsbaum
errichten wir eine Miniatur-Landschaft mit dem Stall von
Bethlehem, der Krippe mit dem Jesuskind und Josef und Maria. Im
Herbst haben wir dafür Moos, Wurzeln und bunte Beeren gesammelt.
Als Beleuchtung stellen wir Teelichter in das feuchte Moos.
Dann werden die Kerzen angezündet, wir hören eine
Weihnachtsandacht und singen viele Weihnachtslieder. Danach gibt
es eine Bescherung, jede erhält ein kleines Geschenk und einen
bunten Teller. Wir genießen ein herrliches Weihnachtsmenü: eine
Hühnersuppe, Schweine- und Rinderbraten, dazu Kartoffelklöße,
Rotkohl und als Nachtisch Birne Helene. Dazu gibt es Punsch zu
trinken. Es ist wirklich ein sehr harmonischer, friedvoller
Heiliger Abend. Die Mütter gehen zu Bett‚ und wir vier räumen
ab. Die Kerzen am Christbaum werden gelöscht, die Teelichter an
der Krippe ebenfalls. Nun ziehen wir uns warm an, denn wir wollen
nach Huglfing in die Christmette.
Der Schnee liegt an den Straßenrändern über einen Meter hoch
und glitzert im Mondlicht. Als wir den Berg zur Kirche
hinaufkommen, ist dies ein ganz feierlicher Moment: Im Schnee
flackern viele Windlichter, und vom Kirchturm bläst ein Trompeter
"Vom Himmel hoch, da komm' ich her". Die Kirche ist sehr
gut besucht, wir müssen stehen. Kinder führen ein Krippenspiel
mit echten Tieren auf, ein Esel und ein Kalb stehen an einer
Holzkrippe mit Stroh, nur das Jesuskind ist eine Puppe.
Langsam und frohen Herzens kehren wir zum Mütterheim zurück.
Alles ist dunkel, die Mütter schlafen schon, und auch wir freuen
uns auf unser warmes Bett. Oh Schreck!
Als wir die Haustür aufsperren, kommen uns schwarze Rauchschwaden
entgegen. Schnell öffnen wir alle Türen und Fenster, damit der
Rauch abziehen kann. Dann suchen wir die Feuerquelle. Beim Anblick
der Krippe erschrecken wir: Alle Figuren sind schwarz verkohlt,
nur die Krippe selbst mit dem Jesuskind und Maria und Josef ist
unversehrt. Wir haben ein brennendes Teelicht übersehen, und nur
das feuchte Moos verhinderte, daß alles komplett verbrannte. Es
kommt uns an diesem Heiligen Abend wie ein Wunder vor, daß
niemand zu Schaden gekommen ist.
Brigitte Meyer-Rudat, hier eine der vier Haustöchter, irrt
zwei Jahre später, am Heiligabend 1954, durch Londons Nebel. Mehr
davon in der nächsten Geschichte.
Christmas time 1954
Zwei Jahre später. Zwölfmal schlägt es vom Big Ben - ja, ich
stehe mitten in London an der Themse. Ich bin 19 Jahre alt und
schon vier Monate hier. Es ist kurz vor Weihnachten. Die Tage sind
grau in grau, abends und nachts gibt es dicken Nebel. Oft ist er
gelblich und riecht sehr stark nach Schwefel. Ich bin deshalb
schon dreimal nicht in die Englisch-Abendschule gegangen. Es ist
wirklich unangenehm, plötzlich mit wildfremden Menschen
zusammenzustoßen, richtig gruselig. In den Krimis von Edgar
Wallace spielt dieser Nebel nicht umsonst immer eine große Rolle.
Jetzt ist es Mittagszeit und ich habe für meine Mutter und meine
Oma im fernen Deutschland in einem Antiquitätengeschäft ein
Weihnachtsgeschenk erstanden: zwei wunderschöne Kerzenständer,
mit Gravierungen reich verziert. Sie waren nicht ganz billig. Ob
sie aus echtem Messing bestehen, weiß ich nicht. Mit den
passenden Bienenwachskerzen werden sie jedenfalls feierlich
aussehen. -
Wie
gut geht es uns inzwischen. Ich muß an das erste Weihnachtsfest
nach dem Krieg denken. Wir waren als Flüchtlinge aus Pitzerwitz
in Pommern in Buckenhof bei Erlangen, Mittelfranken,
untergekommen: zwei Zimmer zu ebener Erde, mit alten Möbeln, drei
riesige ausgestopfte Vögel hingen an den Wänden und machten mir
angst. Es war kalt, wir hatten zwar einen eisernen Herd, aber
keine Kohlen und auch kein Holz, doch wir waren froh, daß wir
nicht in ein Flüchtlingslager zu ziehen brauchten. Unsere Wirtin
legte uns zum Fest ein paar Briketts vor die Tür und einen Mantel
für mich. Den hatte sie aus einer alten Jacke genäht, dazu eine
selbstgestrickte Mütze, einen Schal und Handschuhe. Das war meine
schönste Überraschung!
Für ein wenig Marmelade mußte ich eine Stunde in der Schlange
stehen. Zehn Jahre alt war ich damals, als die Amerikaner in
unsere Schule kamen und dafür sorgten, daß alle Flüchtlingskinder
Schulspeisung bekamen. Eine Woche vor Weihnachten landete auf dem
Dorfplatz in Uttenreuth, wo ich zur Schule ging, sogar ein
amerikanischer Hubschrauber. Ein Nikolaus in rotem Mantel mit weißem
Pelzbesatz stieg aus. Alle Flüchtlingskinder wurden in den großen
Saal der Dorfgaststätte eingeladen. Jedes Kind erhielt eine Tüte
mit Süßigkeiten, einen Becher Kakao und weiche weiße Brötchen.
Diesen herrlichen Geschmack und den freundlichen Klang der fremden
Sprache habe ich nie vergessen. Wie gut, daß ich als Kind immer
so aufmerksam zugehört habe.
1945 wohnten farbige Amerikaner in einem früheren Café in
unserer Nähe und riefen mir über den Zaun lachend "Hallo
Baby, how are you?" und anderes zu. Wenn ich dann auf
Englisch antwortete, bekam ich meistens eine Süßigkeit,
Kaugummi, Schokolade oder Bonbons. Einmal sprach ich mit den GI's
einen ganzen Satz in ihrer Sprache. Alle klatschten vor lauter
Freude darüber. Einer von ihnen hob mich über den Zaun. Sie
liefen mit mir hinter das große Haus, setzten sich um den
Gartentisch und grinsten mich an. Dann brachte mir Jonny in einem
silbernen Becher eine Riesenportion Eiskrem mit Schlagsahne und
Schokoladenstreusel. Noch nie hatte ich solch ein leckeres Eis
gegessen! Da fing ich an, mit großem Eifer Englisch zu lernen. -
Es
hat sich gelohnt, denn in der Foreigner School‚ die ich hier in
London abends besuche, komme ich sehr gut mit und mein Englisch hört
sich mittlerweile ganz gut an.
Die Londoner Geschäfte locken weihnachtlich geschmückt, jedoch
anders als in Deutschland. Alles ist künstlich, auch die
Tannenzweige, und alles scheint mir so grell. Es erinnert mich
mehr an Karneval. Weihnachtslieder werden auch gespielt: "Jinglebells,
jinglebells" oder "I'm dreaming of a white
Christmas". Ich kaufe mir einen unechten Tannenzweig und eine
dicke rote Kerze mit Goldschleifchen.
Ich arbeite in einem Hotel. Wir haben nur zwei Dauergäste, die
Dame des Hauses liegt im Krankenhaus, und das zweite deutsche Mädchen
hat Urlaub. Essen kann ich für uns drei Personen schon kochen, es
gibt genug Lebensmittel. Aber von Weihnachten ist nichts zu spüren.
Der Hausherr weint nur noch, weil er Angst um seine Frau hat.
Zwei Tage vor Weihnachten höre ich in der Royal Festival Halle
ein wunderbares Konzert, für das ich Karten erstanden habe. Die
Wiener Philharmoniker spielen die Neunte Symphonie von Beethoven.
Es herrscht eine einzigartige festliche Atmosphäre. Meine
Freundin steht unten in der Halle und winkt mir zu.
Zum ersten Mal in meinem Leben trage ich Pumps und einen wunderschönen
Seidenripsrock. Dem stimmungsvollen Rahmen angepaßt, will ich in
der Pause die breite Marmortreppe hinunterschreiten. Da gleite ich
mit den schönen glatten Pumps aus und - hopp-hopp-hopp - rutsche
ich auf meinem Allerwertesten die Treppe hinunter! Die
feingekleideten Konzertbesucher um mich herum sind erschrocken.
Zwei galante Herren helfen mir wieder auf die Beine. Wie gut, daß
die Sitze gepolstert sind. Trotz dieses Mißgeschicks bleibt das
Konzert ein unvergeßlicher Kunstgenuß.
Jetzt werde ich doch ein wenig traurig. Heute ist Heiligabend. Das
Päckchen von Mutti und Oma ist noch nicht eingetroffen, die Lady
liegt immer noch im Krankenhaus. Ich bin den Tränen nahe, als
mich gegen 17 Uhr eine Leiterin vom Deutschen Jugendkreis anruft
und fragt, ob ich den Heiligen Abend nicht doch mit meinen
Landsleuten zusammen feiern möchte. Natürlich will ich das. Nur
wie finde ich sie?
Per Telefon erhalte ich eine genaue Wegbeschreibung. Nachdem ich
alles versorgt habe, mache ich mich guten Mutes auf den Weg. Es
ist bereits nach 19 Uhr. Es regnet, die Straßenbeleuchtung brennt
nicht gerade sehr hell. Die Straßen‚ die Häuser, alles sieht
gleich und recht trübsinnig aus. Die wenigen Leute, denen ich
begegne, kommen mir etwas angetrunken vor. Die nach einer Straße
fragen?
Nein, ich muß dieses Haus doch finden! Also nochmals um den
U-Bahnhof herum, über den Platz, zur Kingsroad, dann rechts um
die Ecke, ein großes Backsteinhaus. Ich stehe davor: es ist zwar
die richtige Nummer - nur leider die falsche Straße! Ich bekomme
ganz weiche Knie, mir wird hungrig und mulmig. Ich nehme meinen
ganzen Mut zusammen und klingele an einer Haustür, einmal,
zweimal.
Die Tür wird geöffnet. Eine junge Frau nimmt mich bei der Hand
und zieht mich in das Wohnzimmer. Da sind keine Zweige, kein
Tannenbaum mit Kerzen. Nein, bunte Luftschlangen hängen quer
durch den Raum‚ in der Mitte ist eine Tanzfläche und ein wenig
angeheiterte Menschen drücken mir ein Glas in die Hand. "Very
fine cherry", rufen sie, "drink, please drink!"
Ich versuche nochmals nach der Straße zu fragen, es ist zwecklos.
Ich renne einfach hinaus. Jetzt haben sie es geschafft, ich heule
laut vor mich hin und versuche, mein jetziges Zuhause zu finden.
Dort angekommen, ist es bereits 22 Uhr. Ich unternehme einen
letzten Versuch, den Abend zu retten, und es gelingt mir tatsächlich,
meine Bekannte telefonisch zu erreichen. Ja, sie warten immer noch
auf mich. Sie nennt mir eine Buchhandlung am Trafalgar Square, wo
sie mich gleich abholen wird. Erneut mache ich mich auf den Weg -
und finde diese Buchhandlung!
In einigen Minuten sind wir am richtigen Haus. Es ist einfach
wunderbar: Als die Tür aufgeht, steht dort ein kleiner Tannenbaum
mit brennenden Kerzen, geschmückt mit Strohsternen und Lametta.
Vor Freude wird mir ganz warm ums Herz. - Ja, Christ ist geboren,
freut euch alle Christenheit.
Am ersten Weihnachtstag treffen sich hier morgens ab neun Uhr
viele Menschen aus verschiedenen Ländern, die gemeinsam
Weihnachtslieder singen und plaudern wollen. Auch meine deutschen
Freunde sind da. Es ist ein wunderbares Erlebnis.
Lausen
bei Leipzig
1933–1939
Gerta
Kohlmann
Weihnachtsstollen
Während
meiner Kindheit in den dreißiger Jahren lebte ich mit meinen
Eltern und vier älteren Geschwistern in einem kleinen Dorf der
Leipziger Tiefebene.
Besonders gut erinnere ich mich an die alljährlich
wiederkehrende, für uns Kinder schönste und geheimnisvollste
Zeit in unserer Familie: die Adventszeit. Alle flüsterten
untereinander, viel öfter als sonst sah man ein verschmitztes Lächeln
die Gesichter erhellen, und ein Augenzwinkern konnte mehr aussagen
als tausend Worte. Für mich als die Kleinste war das alles sehr
aufregend, schließlich glaubte ich noch fest an den
Weihnachtsmann!
Das Wichtigste für uns alle im Advent war mit Sicherheit das
Zauberwort "Weihnachtsstollen". Jeder wirkte an der
Herstellung dieses wohlschmeckenden Gebäcks mit, die eine sorgfältige
Vorbereitung benötigte.
Bevor wir überhaupt mit unserem Werk beginnen konnten, mußte
meine Mutter einige Kilometer ins Nachbardorf zum Bäcker laufen,
um einen Backtermin zu vereinbaren. Von dort brachte sie auch
gleich die Hefe mit.
Alle anderen Zutaten kauften wir im nächstgelegenen
Lebensmittelgeschäft, was genauer Überlegung bedurfte. Wir
hatten damals nur sehr wenig Geld, doch Mama wußte sich zu
helfen. Das ganze Jahr über sammelte sie die Rabattmarken des
Ladens, wir Kinder klebten sie sorgfältig in die dazugehörigen
Heftchen, die Mama gewissenhaft nur für den Stolleneinkauf
aufhob.
Endlich war es so weit. Mit unserem Handwagen fuhren wir drei
Kilometer zum Lebensmittelhändler, und ich war stolz, auf dem
Hinweg im Wagen sitzen zu dürfen. Im Geschäft angekommen, bot
sich meinen Kinderaugen eine wahre Wunderwelt. So viele große Säcke
standen am Boden und alles zusammen duftete so lecker und
verwirrend!
Der Kaufmann wußte genau, in welchen Säcken sich die Zutaten für
unsere Stollen befanden, nahm seine Schaufel und füllte wunschgemäß
alles in Tüten. Süße und auch ein paar bittere Mandeln, in
andere Beutel Rosinen, Korinthen, Zitronat, Zucker, Mehl,
Staubzucker, ja und die Butter schnitt er von einem großen Block
ab. Er wog alles genau ab und füllte schließlich noch eine große
Flasche voll Rum. Wir luden dann unseren Einkauf auf den Handwagen
und traten den Heimweg an.
Jetzt konnten die Vorbereitungen richtig beginnen. Meine großen
Geschwister, die schon mit Messern arbeiten durften, hackten die
gebrühten und abgezogenen Mandeln, dann schnitten sie das
Zitronat in kleine Würfel. Ich war noch zu jung für den Umgang
mit scharfen Klingen und wurde zum Verlesen von Rosinen und
Korinthen eingeteilt, denn da waren noch zu viele kleine Stiele
dran. Nach allen Mühen füllten wir die Früchte in eine Schüssel,
und mein Vater trat in Aktion: Er beträufelte die Mischung mit
Rum, bis sie feucht glänzte.
Während wir uns am Abend ausruhten, begann für Mama die
Hauptarbeit. Sie bereitete den Teig, was viel Kraft kostete, denn
das hieß kneten, kneten und nochmals kneten. Zunächst bereitete
sie das Hefestück mit warmer Milch, dann verarbeitete sie es mit
rund 15 oder mehr Pfund Mehl, Zucker, Butter, Eiern, Milch und
etwas Salz in einem großen Asch (sächsisch für Schüssel,
kleine Wanne) zu einem Teig, der zwischendurch immer wieder ruhen
mußte, so daß sie viel Zeit dafür benötigte. Endlich war es
geschafft, und der Asch mit dem Teig wurde in mehrere Decken
verpackt und auf den Handwagen gestellt. Dazu kam die Schüssel
mit den rumgetränkten Früchten. Am nächsten Morgen, zwischen
vier und fünf Uhr, liefen Mama und zwei meiner Brüder zur
Backstube ins nächste Dorf.
Von dem Moment an war unser mühevoller Einsatz vergessen, denn
wir warteten jetzt nur noch darauf, daß der Bäcker die fertigen
Stollen brachte. Wenn er dann mit seinem von einem Schimmel
gezogenen Kastenwagen vorfuhr und uns die Herrlichkeit übergab,
durften wir das Gebäck zwar noch nicht anrühren, doch jedes Jahr
bereitete er aus dem Rest des Hefeteigs einen großen, viereckigen
Butter-Zucker-Kuchen. Das war für uns, die wir an altbackenes
Brot gewöhnt waren, eine wahre Köstlichkeit, und wir verspeisten
ihn bis auf den letzten Krümel noch am selben Tag.
Nach dem Genuß dieser Delikatesse fiel es uns schon gar nicht
mehr schwer, noch die zwei Wochen zu warten, bis der Stollen
endlich angeschnitten wurde. Und dann zählte wirklich nur noch
der wunderbare Geschmack des Gebäcks, das inzwischen eine weit über
meine Heimat Sachsen hinaus bekannte Spezialität geworden ist.
Aus:
"Pimpfe, Mädels & andere Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 4.
Altenburg, Thüringen;
1937
Maria
Kühl
Balduin, der Puppenspieler
Wenn
es draußen ungemütlich wurde, tagelang regnete und der Sturm
durch die Bäume fegte, wenn es merklich kühler wurde und wir
Kinder lieber in der warmen Stube spielten, fragte bestimmt
irgendeiner von uns: "Na, wetten, daß Balduin bald kommt?"
Balduin war ein Landstreicher, der jeden Herbst kam, um bei uns zu
"überwintern". Für uns Kinder bedeutete das eine herrliche
Abwechslung in diesen grauen Herbst- und Wintertagen, denn Balduin
war Puppenspieler.
Das ganze Jahr über zog er durchs Land und spielte in Thüringen
auf Dorffesten. Sein "Ensemble" trug er im Rucksack. Er benötigte
nur ein paar Puppen, um sein Publikum zu begeistern. Über eine
lange Leine spannte er ein dunkelrotes, fettiges Samttuch, das er
mit Klammern befestigte. Das war "Balduins Puppentheater".
Wenn er hier bei uns in Altenburg den Winter verbrachte, führte
er für uns und unsere Freunde aus der Nachbarschaft Stücke auf.
Ich empfand es immer als eine Ehre, daß dieser große, dunkle
Mann, der aus einer anderen Welt zu kommen schien, nur für uns
Kinder spielte.
Er hatte etwas Fremdländisches an sich, etwas Rätselhaftes, er
war mir ein bissel gruselig, was meine Phantasie und meine Neugier
auf Geschichten und Märchen noch mehr anregte. Er verzauberte uns
mit seinen Puppen, ließ sie singen und tanzen, sich beschimpfen
und prügeln, aber zuletzt wurde immer alles gut. Balduin stellte
Begebenheiten dar, die sich irgendwo auf einem Dorf oder in einer
kleinen Stadt in etwa so zugetragen hatten. Und damit ließ er uns
teilhaben an der großen, weiten Welt.
Wenn er dann endlich hier ankam, hämmerte er gewaltig an unsere
Haustüre, weil er wußte, daß er erst eine bestimmte Prozedur über
sich ergehen lassen mußte: Großmutter und Mutter schrien dann: "Balduiiin! Draußen bleiben!"
Und er blieb vor der Tür stehen. Vater brachte ihn in die
Werkstatt. Dort mußte Balduin seine total abgewetzten und von Flöhen
und Wanzen besiedelten Klamotten ausziehen, sie wurden sogleich
verbrannt. Mutter rannte in die Waschküche, ließ Wasser in den
großen Kessel ein und zündete darunter ein Feuer an. Auch der
kleine Badeofen wurde angeheizt. In der Werkstatt bekam Balduin
vom Vater einen Mantel, dann mußte er sich in der Badewanne
abschrubben, rasieren und von meinem Vater die Haare stutzen
lassen.
Dieses Badevergnügen war für uns Kinder schon eine
Extra-Vorstellung. Wir lagen vor der Waschküche auf der Lauer und
warteten darauf, bis er erst leise, dann immer lauter zu singen
begann. Da unsere Badestube ein Gewölbe hatte, klang es
vortrefflich. Und es waren bestimmt keine anständigen Lieder,
denn mich schauderte es immer sehr. Aber natürlich wollte ich das
alles genauso miterleben wie meine Brüder. Ich war gerade sechs
Jahre alt.
Dann kam ein total rotgesichtiger, völlig entstellter Balduin aus
der Badestube heraus. Ohne Bart, mit kurzem Haar, sauberem Hemd,
sauberen Hosen, frischen Socken und Holzpantoffeln. "Na, Frau
Meestern, gefall‘sch Euch?"
Ich weiß noch genau, wie er meine Mutter angrinste mit seinen
funkelnden, dunklen Augen. Dann setzte er sich an den gedeckten
Tisch und aß, aß und aß. Ganz langsam, ganz bedächtig mahlte
er mit den Backenknochen, wobei er lustig um sich blickte. Wir
Kinder standen am Tisch und wunderten uns nur, was dieser Mensch
alles in sich hineinstopfen konnte. Nach diesem ausgiebigen Essen
verschwand Balduin in der Gesellenkammer über der Werkstatt und
schlief stundenlang. Meine Brüder hatten ihn da oben neben der
Leistenkammer belauscht und kamen zurück mit der Bemerkung: "Der schnorcht soo sehre, da biechen sisch de Balken!"
(weiter gehts im Buch)
Aus:
"Pimpfe, Mädels & andere Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 4.
Finsterwalde,
Niederlausitz
Dezember 1944
Gretel
Hardeland
Die letzte Kriegsweihnacht
In
den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges lebten wir in unserer
Kleinstadt verhältnismäßig ruhig und unbehelligt. Das änderte
sich aber mit zunehmender Kriegsdauer.
Seit ihrer Ausbombung in Essen 1943 lebten meine Großeltern bei
uns in Finsterwalde. Unsere Mutter wurde in einen Maschinenbetrieb
zum Ankerwickeln zwangsverpflichtet. Sie war vorher nie berufstätig
gewesen, und schon gar nicht wußte sie, wozu der Anker bei einem
Elektromotor dient. So stand sie recht hilflos vor ihrer Maschine
und schaffte ihr Tagessoll einfach nicht. Der Meister, ein
Bekannter, half immer mal, konnte aber nicht ständig bei ihr an
der Werkbank stehen.
Neben Mutter arbeitete ein zwangsverpflichteter junger Franzose.
Er übernahm, nachdem er sein eigenes Pensum geschafft hatte,
stillschweigend Mutters Teil. Mutter brachte ihm dafür Frühstücksbrote.
Der Franzose riskierte damit Kopf und Kragen. Die Verabredung
blieb natürlich nicht unbemerkt, aber die Kollegen hielten fest
zusammen, keiner ließ eine Bemerkung fallen. Obwohl der Franzose
in einem Lager für Zwangsarbeiter lebte, sah er in seinem
einzigen Anzug immer adrett gekleidet aus, was uns unter diesen
Umständen ein Rätsel war. Er war stets freundlich, alle
Arbeitskollegen mochten ihn.
Eines Tages stand in unserem Hof, hinten beim Kohlenschuppen, ein
völlig erschöpfter, zerlumpter Mann. Wie wir später erfuhren,
war er, ein russischer Arzt, ebenfalls zur Zwangsarbeit nach
Deutschland deportiert worden. Der Mann sprach gut Deutsch. Das
verwunderte mich sehr, hatte ich doch in der Schule gelernt, alle
Russen seien Untermenschen, Bestien, Analphabeten. Ich war 15
Jahre alt und wußte es nicht anders.
Der Russe fragte, ob er für ein Stück Brot bei uns Holz hacken
oder Kohlen schleppen dürfe.
Damals gab es viele Zwangsarbeitslager, in denen es sehr grausam
zuging. Dem russischen Arzt zufolge schien es in dem Lager, in dem
er untergebracht war und das außerhalb von Finsterwalde lag, erträglich
zu sein. Er hatte regelmäßig die Möglichkeit, aus dem Lager
herauszukommen, wenn auch meistens heimlich. Aber der ständige
Hunger setzte den Häftlingen zu.
Wenn er, von den Nachbarn unbemerkt, abends bei uns eintraf, bekam
er erst einmal ein warmes Essen. Beim Tee erzählte er von seiner
Familie, von seinen Geschwistern, die ebenfalls Mediziner waren.
Seine größte Angst war, nach Kriegsende – und er hatte recht
mit seiner Behauptung, es werde bis dahin nicht mehr lange dauern,
– nach der Rückkehr in seine Heimat als Kollaborateur
hingerichtet zu werden. Leider geschah das tatsächlich mit
zahlreichen Zwangsverschleppten. Stalin und seine Männer glaubten
diesen armen Menschen nicht, daß sie nicht freiwillig mit den
Deutschen mitgegangen waren.
Weihnachten 1944 kam mein Vater zum ersten Mal nicht nach Hause.
Am Heiligen Abend meinte unsere Mutter, wir bekämen später
Besuch. Wir sollten uns leise unterhalten, nur die
Weihnachtslieder könnten wir schön laut singen. Mutter stellte
sich ans Küchenfenster, lauschte nach draußen zum Hof. Schließlich
öffnete sie die Tür, und wer kam da herein? – Der Franzose aus
der Fabrik und der Arzt aus Rußland!
Zur letzten Kriegsweihnacht hatten wir selbst nicht viel zu essen.
Damit es auch für bunte Teller für die beiden Männer reichte,
fielen unsere ein bißchen kleiner aus. Was machte das schon!
Mutti hatte für uns alle ein kräftiges, warmes Essen gezaubert.
Danach saßen der Russe und der Franzose am Ofen, während am Baum
die Kerzen brannten und wir Weihnachtslieder sangen.
Spätabends verließen die Männer vorsichtig das Haus. Die
anderen Mieter durften nicht merken, daß sie bei uns gewesen
waren. Auf Muttis Eltern konnten wir uns verlassen, sie verrieten
nichts. Wie wir aber meinen kleinen Bruder überzeugt hatten, noch
nicht einmal seinem besten Freund von unseren Besuchern zu erzählen,
weiß ich heute nicht mehr.
Gretel Hardelands Vater trug auch zu Hause immer Uniform. Nur
gut, daß er nicht ahnte, wen die Mutter am Heiligen Abend 1944
eingeladen hatte.
Bedrückend
war für meine Mutter und mich die Tatsache, daß wir auch meinem
Vater, der in den letzten Kriegsmonaten nur noch einmal nach Hause
kam, auf gar keinen Fall etwas erzählen durften. Er war bis zum
Kriegsende überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus. Schon
in Friedenszeiten zeigte er sich gern in Uniform, sogar bei der
Taufe meines Bruders. Während des Krieges erinnere ich mich an
keinen Urlaubs- oder Feiertag, an dem er nicht seine Uniform
anhatte, sogar am Heiligabend. Ob er uns aus "Patriotismus"
verraten hätte? ...
Mit Sicherheit hätte er sich sofort von meiner Mutter getrennt
aus maßloser Enttäuschung, daß sie es gewagt hatte, "Untermenschen" ein wenig Nächstenliebe zu schenken.
Aus:
"Wir sollten Helden sein", Reihe ZEITGUT, Band 12.
Birkach*
bei Augsburg, Bayern
Weihnachten 1946
Liselotte Miller
Arm und doch glücklich
Durch
die politischen Nachwirkungen des Krieges waren wir 1946 in ein
kleines Dorf in den westlichen Wäldern von Augsburg verschlagen
worden, dort, wo sich Fuchs und Hase "Gute Nacht" sagten. Eine
lange, beschwerliche Zeit lag hinter uns: der Abschied von der
niederschlesischen Heimat, ein menschenunwürdiger Transport im
Viehwaggon und mehrere Aufenthalte in Massenlagern. Endlich
brachte uns ein klappriger LKW mit anderen Leidensgenossen an ein
unbekanntes Ziel der erzwungenen Reise.
Da standen wir nun mit unseren letzten Habseligkeiten auf dem
Dorfplatz: Mutter, mein fünfjähriger Bruder Werner, meine achtjährige
Schwester Ursula und ich, elfjährig. Eine kleine Wohnung war uns
zwar zugeteilt worden, aber die Leute hatten uns nicht gewollt.
Niemand wollte uns eigentlich. Wer will schon eine fremde Frau mit
drei Kindern im Haus?
Werner drückte sich an die Mutter und begann zu weinen. Die
herbstliche Kühle kroch durch unsere Kleider. Zuletzt, als alle
anderen schon einen Hauswirt gefunden hatten, erbarmte sich ein älterer
Bauer. Er lud uns auf seinen Bretterwagen und "Bräundl", sein
Haflinger, zog uns zu einem kleinen Hof, wo wir endlich ein Dach
über dem Kopf fanden. Der Bauer wies uns eine freundliche aber
unbeheizbare Kammer zu, in der zwei Betten mit Seegrasmatratzen
standen. Dieser Raum sollte zur eigentlichen Privatsphäre unserer
neuen Heimat werden. Die Möbel, eine abgewetzte Truhenbank, ein
wackliger Stuhl und ein Büffet, hatten bestimmt schon viele gute
und schlechte Tage erlebt.
Die ebenerdige Sommerküche, von der aus die Bäuerin den Backofen
im Freien und den Kachelofen der eigenen Stube befeuerte, durften
wir mitbenutzen, ebenso den riesigen Herd, der fast ein Drittel
der Küche einnahm. Dieser riesige Herd faszinierte uns. Besonders
tröstlich empfanden wir das große Wasserschiff, auf das man sich
in der kalten Jahreszeit abwechselnd setzen konnte. Was die Bäuerin
zum jähen Entschluß ihres Josef gesagt haben mochte, eine Flüchtlingsfamilie
aufzunehmen, erfuhren wir nie. Man konnte es nur ihrer säuerlichen
Miene entnehmen.
So nach und nach erfuhren wir mehr über unsere Wirtsleute. Auch
sie hatten durch den Krieg großes Leid erfahren, war doch ihr
einziger Sohn auf den Schlachtfeldern Rußlands geblieben. Sepp
und Anna, beide nicht mehr die Jüngsten, kränkelten. Ihre häufige
Verdrossenheit ließ sich wohl nicht zuletzt damit erklären, daß
sie einfach zu wenige Worte fanden, um sich den Schmerz von der
Seele zu reden. Da auch die Tochter, ihr noch einziges Kind, kurz
vor der Heirat in ein weit entferntes Dorf stand, hatten sie sich
wohl in meiner Mutter eine Arbeitskraft erhofft und dabei uns drei
Kinder mit in Kauf genommen.
Obgleich ihr die Arbeit fremd war, half Mutter – nicht zuletzt
des lieben Friedens willen – wo immer sie konnte. Schon vor fünf
Uhr früh fuhr sie die Milch zur Rampe an der Sammelstelle, wo das
Milchauto sie abholte. Mir als der Ältesten wurde das Kühehüten
anvertraut, das ich mit großer Begeisterung übernahm. Dabei
konnte ich ungestört meinen Gedanken und Phantasien nachhängen,
im Feuer Kartoffeln braten oder aus aufgetrennter Wolle allerlei Nützliches
stricken, solange sich das gefräßige Vieh nicht am Klee der
Nachbarweide vergriff. Im großen und ganzen mochte ich Kühe. Wir
Kinder konnten das Heimweh unserer Mutter und ihre Traurigkeit
nicht verstehen. Litten wir auch manchmal an der eingeschränkten
Freiheit im Haus, so war diese draußen fast grenzenlos: Wald und
Wiesen, soweit das Auge reichte, die Tiere im warmen dampfenden
Stall, die Dorfkinder, mit denen uns bald eine innige Freundschaft
verband. Hier gefiel es uns, hier wollten wir bleiben.
Meine damalige Klasse vor unserer kleinen Dorfschule im
Nachbarort Klimmach.
Mit Freude gingen wir zur Schule in den Nachbarort nach Klimmach,
wo in einem einzigen Raum alle Klassen gleichzeitig unterrichtet
wurden. Während der junge kriegsversehrte Lehrer den einen den
Lehrstoff beibrachte, arbeiteten die anderen still. Wie ein
Schwamm sogen wir auf, was wir sahen und hörten, hatten wir doch
längere Zeit keine Schule mehr besuchen können. Wir begannen das
karge Leben zu lieben, auch wenn sich unsere Gedanken in diesen
Hungerwintern, die zugleich mit sibirischen Temperaturen und
riesigen Schneemengen einhergingen, zwangsläufig um die
Beschaffung von Nahrung und Heizmaterial drehten. Wie schätzten
wir damals die Wälder! Wir lebten im Rhythmus der Jahreszeiten
und ernteten dankbar, was sie uns gerade boten. Im Gegensatz zu
den Städtern mußten wir nie hungern. Die tägliche Brotration
beim Bäcker war sicher, ebenso, als Höhepunkt jeden Genusses,
das Eck "Velveta"-Schmelzkäse, das es auf Marken einmal pro
Woche in der Milchsammelstelle gab. Der Bedarf an Süßem wurde
mit Zuckerrübensirup gedeckt. Zur Aufbesserung unserer Mahlzeiten
tauschte Mutter ihre letzten Damasttischdecken und Tassen aus
Rosenthalporzellan gegen ein Stück Butter hier oder ein Pfund
Mehl dort. Uns Kinder rührte das wenig, der Teller mußte voll
sein.
Aus unserer kleinen, bescheidenen Zufriedenheit wurde ein großes
Glück, als drei Tage vor dem Weihnachtsabend des Jahres 1946
unerwartet unser Vater vor der Tür stand. Drei Jahre Ostfront und
zwei Jahre Arbeitseinsatz als Kriegsgefangener in einer
Ziegelbrennerei in Kasachstan hatten ihn gezeichnet. Die Sohlen
seiner Schuhe waren mit Schnüren zusammengehalten, und um seinen
ausgezehrten Körper schlotterte ein viel zu weiter Mantel. Trotz
unendlicher Wiedersehensfreude hatte sein Blick etwas Abwesendes,
das sich erst langsam verlor.
Der einzige, der unsere Freude nicht teilte, war unser Jüngster.
Werner verstand nicht, daß sich nun plötzlich ein Fremder
zwischen ihn und seine geliebte Mama drängte und die innige
Einheit seines jungen Lebens zu stören wagte. An diesem ersten
gemeinsamen Heiligen Abend wollten wir Vater verwöhnen. Er sollte
es fast so schön haben wie früher. Dazu gehörte selbstverständlich
ein Christbaum. Dürres Bruchholz durften Notleidende jederzeit
holen, selbst gegen den Willen der Waldbesitzer. Das hatte sogar
der Pfarrer von der Kanzel gesagt. Aber grünes Holz?
Ratsuchend wandte ich mich an Peppi, meine neue Freundin, die mich
nach und nach in die Geheimnisse des Dorflebens einweihte. Für
die Beschaffung des Christbaumes gab es folgende Regeln: Er mußte
aus dem Staatsforst sein. Privatwald war tabu. Der Förster war
weit, aber bei den Bauern konnte man es nie wissen. Von einem
guten Christbaum erwartete man einen tadellosen Wuchs. Außerdem
durfte er nicht zu buschig, aber auch nicht zu nackt sein. Jeder
andere war ein "Glump", und man sollte sich schämen.
Unter Beachtung all dieser Ratschläge glückte unsere Mission,
und Peppi und ich stellten eine mannsgroße Fichte vor das Küchenfenster,
weil im Zimmer kein Platz war. Den einzigen Schmuck bildeten ein
paar zerknitterte Lamettastreifen, Relikte aus den Kriegstagen,
die zur Irritierung der Radaranlagen deutscher Flakgeschütze
abgeworfen worden waren.
Nach vollbrachter Tat spürten wir unseren leeren Magen und
freuten uns auf das Festmahl. Es sollte sogar eine leibhaftige
Gans geben! Weil im Dorf die Hühnerpest ausgebrochen war, hatte
sie die Bäuerin noch eilig ins Jenseits befördert. So lag nun
die Gans bläulich und etwas hartbrüstig, aber herrlich duftend,
als Weihnachtsgeschenk von Sepp und Anna in einer geliehenen
Pfanne. Dazu aßen wir Kartoffeln und Blaukraut und tranken
Apfelschalentee. Auf die Nachspeise, einen Götterpudding, mußte
wir leider verzichten, da sich die Enten darüber hergemacht
hatten, als er zur Abkühlung in den Schnee gestellt worden war.
Als Höhepunkt und Abschluß der Weihnachtsschlemmerei erwarteten
wir noch einen großen Teller Plätzchen; die Zutaten vom Mund
abgespart, zusammengetauscht, zigmal versteckt und doch immer
wieder gefunden. Nach dem Essen reichte Mutter ihn herum, und als
die Reihe sich zu bedienen an Bauer Sepp war, geschah das
Unvorhergesehene, die Katastrophe. Er sagte: "Vergelts Gott",
nahm den Teller und verschwand geehrt in seiner Stube!
Wir trösteten uns mit weihnachtlichen Weisen aus dem Volksempfänger,
die wir alle mitsangen. Die Eltern hörten noch mit einem halben
Ohr die Rede des neuen Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Hans
Ehard, bis es Zeit zum Aufbruch in die Mitternachtsmesse wurde.
Bauer und Bäuerin traten mit ihrem Sonntagsgewand zur Tür
heraus. Anna trug einen großen hellbraunen Fuchspelz, den sie wie
eine Königin um die Schultern geschlungen hatte, und der sich mit
dem Kopf im eigenen Schwanz festbiß.
Es war eine sternklare Nacht. Der Schnee häufte sich beidseits
des Weges. Einer trat in die Fußstapfen des anderen. Von allen
Seiten zitterten die Lichter der Stalllaternen dem steilen Hügel
zu, über den der Weg, umsäumt von Wäldern, zur Kirche im
Nachbardorf führte. Der Papa war wieder da! Wir fühlten uns
geborgen nach all den vaterlosen Jahren, kuschelten uns
abwechselnd an ihn und spürten nicht die Kälte durch unsere dünnen
Schuhe. Es ging wieder aufwärts.
Aus:
"Lebertran und Chewing Gum", Reihe ZEITGUT, Band 14.
Hamburg
Dezember 1946
Inge
Vogl
Mein Lied
Vorweihnachtszeit
in Hamburg. Am Hauptbahnhof steige ich aus. Hoffnungsvoll, tief in
meiner Manteltasche, trage ich die Lebensmittelmarken. Wie dünne
Briefmarken befühle ich sie ab und an. Ein Wert für wahlweise
250 Gramm Butter oder Schmalz.
Die Luft ist diesig und frostig. Es dunkelt rasch. Nur zwei
Stunden habe ich Zeit, dann machen die Läden zu. Ich bin elf
Jahre alt. Da! Das erste Lebensmittelgeschäft.
"Butter oder Schmalz? Nee, Kleine, ist schon ausverkauft."
Der nächste Laden. "Tut mir leid, haben wir nicht."
Meine Hoffnung hat nun einen Dämpfer. Trotzdem habe ich noch Mut.
Die Gaslaternen werden angezündet. Licht in Wohnungen und in
leeren Schaufenstern. Meine Schritte werden länger. Mein Kopf
will dichten: "Wiehnachtsmann, stick de Lichter an ..."
Wieder ein Geschäft. "Ich möchte gerne Butter oder Schmalz."
– Statt einer Antwort höre ich einen Seufzer und sehe ein
Kopfschütteln.
Der Himmel hat sich in Schwärze versteckt.
"Wiehnachtsmann, stick de Lichter an, op’n Steendamm, dat ick
seehn kann..."
Holla, da drüben ist ein Milchgeschäft.
"Butter, Schmalz? Nein, wir haben nichts zugeteilt bekommen."
"Onkel, wie spät ist es?"
"Halv soß, min Deern. Mußt no Hus gohn, is all düster."
Auch in meiner Seele wird es ein wenig dunkel. Die Straßenlaternen
leuchten tröstlich hell. Wann sie die wohl ausmachen? – Genau,
das ist es!
"Wiehnachtsmann, stick die Lichter an, opn Steendamm, dat ick
seehn kann. Pust se wedder ut –" und was reimt sich auf "ut"?
– Mir fällt nichts ein. Dafür bekommt das Ganze eine Melodie
und einen Takt für meine Füße.
Hier.
Ein Kellergeschäft! Und wenn die auch nichts haben? Mein Mund
fragt. Meine Augen betteln stumm. – Nichts, schon seit 14 Tagen
nichts.
Auf der Straße packt mich die große Enttäuschung und Zorn
kribbelt im Genick.
Das Hansa Theater. Ich bleibe stehen. Große Sehnsucht im Herzen
schaue ich zu. Taxen, Türen auf, hübsche Herren und Damen
steigen aus, in toller Uniform neigt sich ein Pförtner, öffnet
die Tür und nimmt einen rotsamtenen Vorhang zur Seite. Wie im Märchen!
Wie Weihnachten, so hell, feierlich, geheimnisvoll.
Enttäuscht, zornig, trotzig, sehnsüchtig gehe ich jetzt singend
um die Straßenecke:
Wiehnachtsmann,
stick de Lichter an,
op’n Steendamm, dat ick seehn kann.
Pust se wedder ut, krist wat an de Schnut!
Genau!
Das ist es! Auf "ut" paßt "Schnut".
Oh, noch ein Milchgeschäft!
Die Frau dreht gerade den Schlüssel um. Zu. Läßt mich nicht
mehr hinein. Meine Nase wird platt an der Schaufensterscheibe.
Meine Augen gehen flink durch den fast leeren Raum. Da, in der
Ecke! Ein volles Faß Schmalz!
Mein Lied singend, fahre ich mit der U-Bahn heim in die kleine
Schrebergartensiedlung nach Wandsbek Gartenstadt, wo wir seit
unserer Ausbombung wohnen.
Am folgenden Morgen stehe ich in aller Frühe auf und mache mich
erneut auf den Weg in die Innenstadt. Selig vor Freude, mit 250
Gramm Schmalz in der Tasche, fahre ich laut singend nach Hause.
Mein Weihnachtsmann-Lied habe ich bis heute nicht vergessen. Es
gehörte bis jetzt ganz alleine nur mir!
Oder hat mich vor 50 Jahren jemand singen hören?
Aus:
"Nachkriegs-Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 2.
Reckenthin
bei Pritzwalk, Mecklenburg-Vorpommern
Dezember 1946
Evelyn
Steudel
Ein Sack Weihnachtsholz
Anno
1946. Weihnachten kam näher und näher, aber nichts Wärmendes
und nichts Sättigendes rückte in Sicht. Wir drei Kinder, fünfzehn,
zwölf und acht Jahre alt, hatten Angst vor diesem Weihnachtsfest.
Unsere Mutter sagte in ihrer Naivität immer nur den einen
stereotypen Satz: "Der liebe Gott wird schon sorgen!"
Bis jetzt schien es so, als hätte der liebe Gott uns vergessen,
wie schon so oft. Uns graute vor Eiseskälte in der Stube unter
dem geklauten Tannenbaum. Weder Holz noch Kohlen waren vorrätig,
und das nasse Reisig, das wir täglich aus dem leergeräumten Wald
klaubten, qualmte nur im Ofen. Wärme gab es nicht ab.
Es war die Zeit der vielen Tanzvergnügungen auf den Dörfern. Die
Menschen freuten sich darüber, wieder in hell erleuchteten,
warmen Sälen die Nächte durchtanzen zu können. Und da Mamas
lieber Gott sich in Sachen "warme Weihnachtsstube bei Zobels"
immer noch nicht rührte, beschlossen wir drei Kinder, zur
Selbsthilfe zu greifen. Unser Vorhaben fanden wir bestätigt durch
das Bibelwort: "Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!"
Also mußten wir selbst für Holz sorgen.
Am 22. Dezember war nun im Nachbardorf wieder Tanz angesagt. Auch
die Einwohner unseres Dorfes marschierten durch die nächtliche Kälte
dorthin. So machten wir uns – ohne Wissen unserer Mutter –
einen Plan, bei dem jeder eine Aufgabe zu erfüllen hatte: Meine
ältere Schwester erkundete, von welchem Hof die Leute zum Tanz
gingen, und spähte deren Holzbestände aus. Ich organisierte
einen Sack – heil mußte er sein!
Unser kleiner Bruder kannte die Hunde im Dorf. Er besuchte sie
alle und wollte feststellen, ob er mit ihnen so auf Du und Du
stand, daß er den einen, auf den es dann ankommen würde,
beruhigen könnte.
Endlich war der Tanzabend herangekommen. Die meisten Höfe standen
still und verlassen, und stockdunkel war es sowieso. Meine
Schwester hatte einen großen Bauernhof mit traumhaften
Brennholzbeständen ausgeguckt. Und mein Bruder hatte nachmittags
noch dessen Hund eine gekochte Kartoffel gebracht, das einzige,
was wir unbeobachtet verschwinden lassen konnten. Ich hatte mir
den Sack fest um den Leib gebunden. In der schützenden Dunkelheit
konnte das weihnachtliche Holzabenteuer beginnen.
Wir schlichen unauffällig zu dem dunklen Hof mit dem vielen
trockenen Holz. Mein Bruder kroch leise in die Hundehütte zu dem
schwarzen Bello, und meine Schwester und ich schlichen mit dem
Sack an die Rückwand des Holzschuppens. Natürlich war der
Schuppen verschlossen, denn außer uns gab es viele kleine Flüchtlingskinder,
die nach Holz suchten.
Nun war es so weit! Durch die Latten der hölzernen Trennwand
konnten wir gut mit unseren Händen greifen und Holzstück für
Holzstück herausziehen. Wir hantierten leise und füllten schnell
den Sack mit duftenden, ganz trockenen Birken- und
Fichtenscheiten, wie unser Ofen sie noch nie erlebt hatte. Der würde
sich wundern!
So hatten wir mit unseren kleinen Händen bald ein kreisrundes
Loch in der Innenseite der hohen Holzwand entstehen lassen, dabei
jegliche physikalische Gesetze außer acht lassend. Als unser Sack
fast voll war, geschah das Unglück: Mit donnerndem Getöse
krachte die ganze hohe Holzscheitwand zusammen. Es krachte und
polterte so gewaltig in die nächtliche Stille hinein, daß alle
Hunde des Dorfes gleichzeitig in ein fürchterliches Gekläffe
fielen. In panischem Schrecken ergriffen wir unseren Sack und
machten uns über den Hinterhof davon. Mein kleiner Bruder kam
leise fluchend und hinkend hinterher. Bellos Kette hatte sich bei
dessen plötzlichem Gespringe und Gekläffe um sein linkes Bein
gewickelt, so daß er eine blutige Schramme davontrug, die man
durch das Loch in seiner Hose sah.
Aber das zählte alles nicht, auch nicht unsere aufgerissenen Hände.
Wir kletterten über zwei Koppelzäune und schoben den Sack jedes
Mal unten durch. Ungesehen und mit viel Herzklopfen kamen wir mit
der kostbaren Beute an dem Stallgebäude an, in dem wir ganz oben
neben der Schrotkammer wohnten. Mühsam asteten wir den Sack die
steile Stiege im Dunkeln empor. Leise öffneten wir die Stubentür
und stellten strahlend das Diebesgut vor unsere verdutzte Mutter
hin.
"Mama, Weihnachten ist gerettet, es wird warm!" sagten wir fröhlich.
"Der liebe Gott hat uns vergessen, aber wir haben ihn an uns
erinnert, und er hat uns geholfen."
Während wir stolz unseren Sack Holz auskippten, schichtete sie
Scheit für Scheit hinter dem Ofen auf. Sie sprach dabei kein
Wort, und es fiel ihr auch keiner von ihren frommen Sprüchen ein,
mit denen sie uns sonst traktierte. Aber auf die Holzscheite
fielen ihre Tränen.
Aus:
"Nachkriegs-Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 2.
Berlin-Neukölln
1948/49
Wulf
Köhn
Blockade-Weihnachten
Es
ging langsam auf Weihnachten zu. Die Tage wurden kürzer, und die
Dunkelheit kam früher. Wir wohnten in Neukölln, im
amerikanischen Sektor von Berlin. Zu den Ärgernissen der
Blockadezeit gehörte auch das regelmäßige Abschalten des
Stroms. Es gab ihn täglich nur stundenweise, in der übrigen Zeit
war "Stromsperre". Solange es draußen noch hell war, wenn ich
ins Bett mußte, bemerkte ich das kaum. Aber jetzt wurde es am späten
Nachmittag schon dunkel, während ich noch nicht einmal mit meinen
Schularbeiten fertig war.
Die Abende spielten sich bei Kerzenschein ab. Aber selbst die
Kerzen waren knapp und wir mußten damit sparsam umgehen. Mein Großvater
hatte ein Gerät gebastelt, mit dem wir Kerzen gießen konnten. In
einer alten Konservendose wurde das Kerzenwachs erhitzt und in
eine Röhre gegossen, in der ein Baumwollfaden befestigt war.
Unser bisheriger Sammeleifer, der sich auf Heu, Stroh, Eicheln,
Brennesseln, Pferdeäpfel und Pflaumenkerne erstreckte, wurde
jetzt auf Kerzenreste ausgedehnt. Wir sammelten auch alles, was
einigermaßen nach Fett aussah und nicht eßbar war. Das Ergebnis
unserer selbstgegossenen Kerzen war im wahrsten Sinne des Wortes "betrüblich", denn diese Kerzen erzeugten meist ein äußerst
trübes Licht. Wir ließen den Lichtschalter in unserer Stube auch
nachts an, damit wir sofort bemerkten, wenn es zwischendurch eine
Stunde Strom gab. Dann wurden sofort die Arbeiten erledigt, zu
denen man Strom oder Licht brauchte. Meine Mutter fing dann
manchmal mitten in der Nacht zu bügeln an, während ich
verschlafen meine Schulhefte herausholte und zu lesen und zu
rechnen begann.
Der Nachbarfamilie Lezius ging es da besser. Sie hatte in der Küche
eine Gaslampe, die auch bei Stromsperre funktionierte. Zum Glück
wurden die Straßenlaternen vielerorts mit Gas betrieben, so daß
es draußen nicht ganz dunkel war, wenn wir spät abends unterwegs
waren. Es gab aber auch Stadtteile mit elektrischer Straßenbeleuchtung.
Dort konnte man bei Stromsperre wirklich kaum die Hand vor Augen
sehen.
Die Fenster unseres Treppenhauses gingen zum Hof hinaus, so daß
der Schein der Straßenlaternen dort nicht hinreichte. Kamen wir
abends aus dem Kindergarten nach Haus, war es so dunkel, daß man
noch nicht einmal einen leichten Lichtschein durch die
Fensterscheiben sah. Wir zogen uns dann am Treppengeländer nach
oben, ertasteten das Schlüsselloch und tappten durch den dunklen
Flur in die Küche, bis wir eine Kerze angezündet hatten. Selbst
das war sehr umständlich, denn wir hatten keine Streichhölzer.
Der einzige Weg führte über den Gasanzünder, mit dem erst der
Kocher angezündet wurde. Dann konnte daran die Kerze angesteckt
werden. Bis dahin aber geschah alles bei völliger Dunkelheit. Als
ich einmal den Gasanzünder verlegt hatte, mußte meine Mutter
Herrn Lezius bitten, uns eine Kerze anzuzünden, damit wir den Anzünder
finden konnten. Dabei hatte er nur am anderen Ende unserer
Kochmaschine gelegen.
Einmal gingen wir nach Treptow, da fiel mir eine große Uhr auf,
die an einer Häuserwand befestigt war.
"Wie wird die denn aufgezogen?" fragte ich meine Mutter.
"Die braucht man nicht aufzuziehen, die läuft mit Strom."
"Aber was ist bei Stromsperre? Bleibt die Uhr dann stehen?"
Da erfuhr ich zum ersten Mal, daß es eine regelmäßige
Stromsperre nur in West-Berlin gab, weil die Blockade insgesamt
nur den Westteil der Stadt betraf, und ich begann, die
Ost-Berliner zu beneiden.
Mit
Beginn der Blockade waren die wenigen Lebensmittel, die es nach
der Währungsreform schon wieder gegeben hatte, wieder aus den
Geschäften verschwunden. Es gab jetzt fast gar nichts mehr. Wir
standen jeden Monat dreimal vor den Dekadenstellen, wo die
Lebensmittelkarten für jeweils zehn Tage ausgegeben wurden, und
anschließend wieder in Schlangen vor Geschäften, in denen oft
schon alles ausverkauft war, ehe man drankam.
Manchmal wechselte ich mich mit meiner Mutter ab, und wir standen
gleichzeitig an zwei Schlangen. Ich mußte ihr dann immer den
Platz "freihalten". Mitunter kam ich in Schwierigkeiten, wenn
ich plötzlich vorne stand, aber meine Mutter noch nicht wieder da
war. Dann stotterte und stammelte ich, konnte aber nichts kaufen,
da ich kein Geld und keine Marken hatte. Später ließ mir Mutter
beides in einem Portemonnaie zurück, damit das nicht wieder
passierte.
Die Luftbrücke brachte uns einige haltbare Lebensmittel. Neben
den Trockenkartoffeln gab es "POM", ein grünliches Pulver,
das als Kartoffelersatz verwendet wurde. Es bestand wohl hauptsächlich
aus Mais und Soja. Ich aß den daraus angerührten Brei sogar
gern, wenngleich andere darüber schimpften. Viele Gemüsesorten
gab es als getrocknete Schnitzel, von denen mir vor allem noch die
von Roten Beten in Erinnerung geblieben sind. Ich durfte mir, wenn
ich spielen ging, ab und zu eine kleine Handvoll davon mitnehmen.
Man hatte lange etwas davon, denn die Schnitzel mußten erst lange
im Munde aufweichen, ehe sie eßbar wurden.
Für Kinder gab es noch Trockenmilch, die man nicht nur zu einem
Getränk, sondern – mit Mehl gestreckt – auch zu einem süßen
Brei anrühren konnte. Der wurde mit dem Löffel direkt aus der
Tasse gegessen. Eine seltene Delikatesse war das Eipulver. Mit
Wasser angerührt und auf der Pfanne gebraten, entstand eine Art Rührei,
allerdings ohne Speck und Schinken. Daran war überhaupt nicht zu
denken.
Daß die Luftbrücke keine richtige Brücke war, sondern aus einer
endlosen Kette von Flugzeugen bestand, wurde mir schnell klar,
denn wir wohnten genau in der Einflugschneise zum Flughafen
Tempelhof. Alle zwei bis drei Minuten flog eine Maschine mit dröhnenden
Motoren nur wenige Meter über unser Haus hinweg, in endloser
Reihe, Tag und Nacht. Wenn das Brummen eines Flugzeugs in der
Ferne kaum verklungen war, kündigte sich auf der anderen Seite
schon das nächste an. Für mich war dieses Geräusch nicht beängstigend,
eher beruhigend – bis ich eines Tages erfuhr, daß in der
Handjerystraße ein Flugzeug abgestürzt und auf ein Wohnhaus
gefallen war. Dabei waren einige Hausbewohner ums Leben gekommen.
Parallel zur Zietenstraße, in der wir wohnten, lag die damalige
Prinz-Handjery-Straße, dort vermutete ich die Absturzstelle, fand
sie aber nicht. Ich wußte ja nicht, daß die Wilmersdorfer
Handjerystraße gemeint war. Obwohl meine Mutter mir das erklärte,
hatte ich von da an dennoch Angst. Wie schnell konnte eine
Maschine auch auf unser Haus stürzen! Manche Nacht lag ich nun in
meinem Bett und konnte nicht einschlafen, während ein Flugzeug
nach dem anderen über unser Dach hinwegbrummte.
Die
Amerikaner oder: "Xänkju!"
Für mich waren die Amerikaner der Inbegriff des schlechten
Benehmens und eines besseren Lebens zugleich. Ich hatte bis dahin
zwar noch keine Gelegenheit gehabt, einen kennenzulernen, aber
meine Mutter mahnte mich ständig: "Benimm dich nicht wie ein
Amerikaner!"
Die Amerikaner, kurz Amis genannt, schienen ständig in der Nase
zu bohren, sich bei Tisch am Kopf zu kratzen und die Beine auf den
Tisch zu legen. Letzteres hatte ich zwar noch nie gewagt, aber gehört,
das sei die normale Sitzhaltung eines jeden Amerikaners.
Wir hatten damals eine scheußliche Sandseife im Kindergarten. Sie
erzielte ihre Reinigungswirkung wohl weniger aus den
Seifenanteilen als vielmehr aus dem Scheuereffekt, sie erzeugte
auch keinerlei Schaum, sondern eine Art Sandpampe, die zusammen
mit dem Schmutz wieder abgewaschen wurde. Eines Tages bekamen wir
ein Stück weißer Seife, die wundervoll weich war und stark schäumte.
Wir erfuhren, das wäre amerikanische Seife. Von nun an
bezeichneten wir alles als "amerikanisch", was qualitativ
besser war als die gewohnten Dinge.
Ein andermal brachte ein Junge eine kleine Tafel Blockschokolade
mit, die noch an einem weißen Fallschirm hing. Er hatte sie auf
der Straße gefunden. Dabei erfuhren wir, daß die Amerikaner für
die Kinder Schokolade und andere Süßigkeiten an Fallschirmen
abwarfen, kurz bevor sie landeten. Ich habe oft zu den Flugzeugen
hinaufgeschaut, wenn sie tief über mich hinwegflogen. Es gab
normale Flugzeuge mit einem Rumpf und zwei Propellern, aber auch
größere mit Doppelrumpf und vier Propellern. Es gelang mir
allerdings nie, einen Fallschirm zu erwischen. Ein einziges Mal
sah ich einen einsamen Fallschirm nach unten trudeln, aber bevor
ich ihn erreichen konnte, hatten sich bereits mehrere Jungen
darauf gestürzt.
Irgendwann gab es in der Schule aber für jeden eine Tafel
Blockschokolade – die erste Schokolade in meinem Leben. Sie
bestand aus einem einzigen Riegel mit fünf Kästchen. In jedes Kästchen
war ein Buchstabe eingeprägt, so daß sich das Wort BLOCK ergab.
Man brauchte schon gute Zähne, um davon etwas abzubeißen. Die
meisten Jungen verspeisten die Schokolade sofort, aber ich nahm
sie mit nach Hause. Meine Mutter stellte mir frei, meinem Bruder
etwas abzugeben; ich gab ihm zwei Kästchen und meiner Mutter
eins, das sie aber nicht annahm. Da hob ich es für Großvater
auf, der es aber mit Hinweis auf seine Zähne ebenfalls ablehnte.
So konnte ich es mit ruhigem Gewissen selber essen. Es war ein
ganz besonderer Genuß.
Den Geschmack kannte ich zwar schon ein bißchen vom
Schokoladenreis her, den es einmal wöchentlich als Quäkerspeise
gab – einen dicken dunkelbraunen Reisbrei; aber der Genuß der
reinen Schokolade war ungleich eindrucksvoller. – Außerdem
kostete es immer ein gewisses Maß an Überwindung, den
Schokoladenreis zu essen, da er häufig kleine weiße Maden
enthielt, die deutlich in dem braunen Brei zu sehen waren. Wir
fischten sie zwar heraus, wenn wir sie sahen, werden aber bestimmt
viele unentdeckte mitgegessen haben. Das war trotzdem kein Grund,
auf die Speise zu verzichten.
In der Adventszeit erkrankte meine Mutter wieder an der Kopfgrippe
und lag meist im Bett. Eines Tages entdeckte ich, daß in der
Hermannstraße Weihnachtsbäume verkauft wurden. Da meine Mutter
zu schwach war, um sich selbst darum zu kümmern, drückte sie mir
50 Pfennig in die Hand und schickte mich los. Ich sprach den Händler
an, zeigte ihm das Geld und sagte ihm, daß ich das für einen
Baum ausgeben könne. Er überlegte einen Augenblick und führte
mich zu einem kleinen Baum, den ich gut allein tragen konnte. Er
stellte ihn auf, drehte ihn hin und her, damit ich ihn gut
betrachten konnte, und fragte, ob er mir gefalle. Er gefiel mir,
und ich nahm ihn mit.
Meine Mutter war entsetzt, als sie den Baum sah: "Mein Gott, was
hast du dir denn da andrehen lassen?"
Ich fand ihn ganz in Ordnung. Bei näherem Hinsehen stellte sich
allerdings heraus, daß es nur ein halber Baum war: Er hatte nur
an einer Seite Äste, die andere Seite war völlig kahl. Der Händler
hatte den Baum so geschickt vor mir gedreht, daß ich immer nur
die volle Seite zu sehen bekam. Meine Mutter lächelte aber dann
doch; immerhin war es mein erster Einkauf mit eigener
Entscheidung. Wir stellten den Weihnachtsbaum auf ein kleines
Tischchen an die Wand, da war die Rückseite ohnehin nicht zu
sehen. Ich fand diese Lösung übrigens so praktisch, daß ich
heute noch nach solchen Bäumen Ausschau halte: Man kann sie
dichter an die Wand stellen, ohne daß sie umfallen.
Kurz
vor dem Weihnachtsfest wurde uns im Kindergarten angekündigt, daß
uns Amerikaner besuchen würden.
(weiter gehts im Buch)
Gekürzt
aus: "Nachkriegs-Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 2.
Kürten,
Nordrhein-Westfalen
etwa 1956
Günther
Paffrath
Der Weihnachtsbaumdieb
Am
6. Oktober feierten wir das Erntedankfest. Bis dahin war ich kein
sehr eifriger Kirchgänger, wobei ich unter "eifrig" ohnehin
größere zeitliche Intervalle des Kirchenbesuchs verstehe. Doch
zu diesem besonderen Anlaß war es für mich als Jungbauer ein
inneres Bedürfnis, dem Schöpfer für Milch und Eier, Korn und
Kartoffeln zu danken.
An diesem Tag wurde in unserer Kirche der neue Pfarrer eingeführt.
Da ich in der zweiten Reihe, unmittelbar hinter seiner Familie, saß,
konnte ich das feierliche Geschehen aus nächster Nähe
beobachten. Kirchenbesucher, Presbyter und Amtsbrüder des neuen
Pastors blickten mit ernsten Gesichtern drein. Ganz anders jedoch
der neue Pfarrer. Er erschien mir quirlig und fröhlich, sein
rotblondes Kraushaar wippte bei jeder Bewegung. Neben ihm saß in
betont aufrechter Haltung seine dunkelhaarige Frau, daneben die
Tochter mit dem in unserer Region seltenen Namen Rahel. Und genau
hinter dieser saß ich. Was mir an der etwa Achtzehnjährigen
auffiel, war ihr wunderschönes, schwarzes, kräftiges Haar, das,
zu einem langen Zopf geflochten, über ihr dunkelblaues Samtkleid
herabhing. Ich konnte den Blick von dieser Haarpracht einfach
nicht wenden.
Als wenig später der Organist unvermittelt die ersten Musiktöne
in voller Kraft erklingen ließ, wendete sich der prächtige
Haarkopf in Richtung Orgel. Für einen Moment vergaß ich fast zu
atmen und starrte auf dieses feine Profil, einer marmornen Göttin
gleichend.
Die dunkelblauen Augen, langbewimpert unter schwarzen Brauen,
sahen an mir vorbei hinauf zur Orgel. Wenn sie mich angeschaut hätten,
ich glaube, ich wäre überrot geworden. Ihr Blick streifte mich
jedoch nicht einmal. Dennoch hatte mich die Schönheit des Mädchens
innerhalb weniger Sekunden in ihren Bann gezogen. Rahel!
In der Folgezeit sprach ich den Namen der Angebeteten oft leise
vor mich hin. Wie gut konnte ich Jakob verstehen, der für seine
Rahel sieben Jahre umsonst gearbeitet hatte. Ich würde mindestens
sieben mal sieben Jahre für meine Rahel arbeiten.
Vorerst begann ich, meine Lebensgewohnheiten zu ändern. Anstatt
dreimal im Jahr ging ich fortan jeden Sonntag zur Kirche, hoffend,
hinter dem schwarzen Zopf, hinter der märchenhaften Lichtgestalt
sitzen zu dürfen.
Meinen Eltern entging diese wundersame Wandlung nicht.
Wahrscheinlich fragten sie sich, welches Schlüsselerlebnis mich
wohl der Kirche so nahegebracht haben könnte.
Meine Verhaltensänderung beschränkte sich nicht auf den eifrigen
Kirchenbesuch. Auch meine Umgangsformen wurden andere, und ich
legte größeren Wert auf meine Garderobe sowie auf gerade Körperhaltung
und auf meinen Gang, der gravitätischer wurde.
Dennoch dauerte es bis in den November hinein, ehe ich es wagte,
Rahel nach dem Gottesdienst auf dem Kirchvorplatz anzusprechen.
Ich machte sie darauf aufmerksam, daß die Witterung sehr
unfreundlich sei, was sie bestätigte. Sie bot mir an, mich unter
ihren Schirm, einen kleinen, lilageblümten, zu stellen. Dieser
schützte zwar ihr schönes Haupt vor dem Regen, mich jedoch
benutzte er mehr als Regenrinne. Dennoch war es für mich der
herrlichste Augenblick meines jungen Lebens. Ich genoß förmlich
jeden Tropfen, der von ihrem Schirm auf meinen Nacken floß.
In eine freundlich-lockere Unterhaltung vertieft, schritten wir
die wenigen Meter bis zum Pfarrhaus, wo ich mich von ihr
verabschiedete. In ihren dunkelblauen Augen sah ich ein kurzes
Aufleuchten, als ich die Hoffnung äußerte, es möge doch am nächsten
Sonntag aus dem Sonn- ein Regentag werden, der es mir erlaube,
mich wieder unter ihren Schirm stellen zu dürfen.
Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung, der folgende Sonntag war
ein strahlender Novembertag. Nach dem Gottesdienst trat ich wieder
zu Rahel und wies darauf hin, daß heute ein besonders schöner
Tag sei, was sie ebenso fand. Diesmal führten wir ein etwas längeres
Gespräch. Mit Freude stellte ich eine harmonische Übereinstimmung
zwischen ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrem Wesen fest.
Jetzt nahm mein Bestreben, ihr möglichst nahe zu sein, neue
Dimensionen an.
Nachdem ich bereits Mitte November dem Kirchenchor beigetreten
war, schloß ich mich Anfang Dezember einem Bibelkreis und einer
kirchlichen Jugendgruppe an. Alle diese Bemühungen zielten darauf
hin, nicht nur vor Rahel, sondern auch vor ihren Eltern zu
bestehen, die möglicherweise Vorbehalte gegen einen
freundschaftlichen Umgang ihrer Tochter mit einem Jungbauern haben
könnten. Insgesamt war ich in einer sehr glücklichen Stimmung,
die sich auch von der immer winterlicher werdenden Witterung nicht
beeinträchtigen ließ. Der Winter nahte indessen mit Schneeregen
und Reif.
Ende November verhandelten mein Vater und ich mit mehreren
Weihnachtsbaumaufkäufern. Wir hatten vor einigen Jahren eine große
Waldwiese mit jungen Fichten bepflanzt, die in diesem Jahr
Weihnachtsbaumgröße erreicht hatten und verkauft werden konnten.
Anfang Dezember begann also die "Waldernte". Der Ertrag für
zahlreiche harte Arbeitsstunden sollte nun zu unserem Wohl in bare
Münze umgewandelt werden. Mitte Dezember war die Aktion
abgeschlossen. Nur vereinzelt erschienen noch private Käufer, um
ihren Weihnachtsbaum direkt bei uns, dem Erzeuger, zu erwerben.
Wir waren somit in jenen Tagen häufig draußen in der
Fichtenparzelle. Dabei fiel uns auf, daß immer wieder Bäume
fehlten, also Diebe am Werk gewesen sein mußten. Meistens an
Stellen, wo ohnehin schon Bestandslücken waren. Offenbar hatte
man sich daran erinnert, daß es sich in unserem Wald leicht
klauen und unter einem gestohlenen Weihnachtsbaum gut singen ließ.
Da wir uns nur ungern die Früchte unserer Arbeit fortnehmen und
der Willkür in unserem Wald freie Bahn lassen wollten,
patrouillierten wir regelmäßig um unseren Baumbestand.
Eines Abends, es schneite leicht, war ich wieder auf der Pirsch.
Bald wurden die Flocken dichter und dichter.
"Bei Schnee wird es einfacher sein, eine Spur zu verfolgen",
dachte ich mir und malte mir aus, wie ich einen Dieb mit harschen
Worten anhalten und zur Rede stellen würde. Es tat mir gut,
meinem Zorn über die Baumklauer in leisen Selbstgesprächen
freien Lauf zu lassen.
Da plötzlich sah ich etwa hundertfünfzig Schritte unterhalb von
meinem Standort eine Gestalt in dunkelgrünem, inzwischen
schneebesprühtem Loden aus unserer Parzelle treten. Eine spitze
Kapuze, ebenfalls schon schneeüberzuckert, ließ den Menschen wie
einen Riesenwichtel erscheinen. Mühsam schleppte er zwei
Weihnachtsbäume mit sich den Berg hinan. Ich stieß einen Ruf aus
und begann, den Hang hinabzurutschen. Der Kapuzen-Mensch schien
mich gesehen zu haben, denn er schlug eilig einen schmaleren
Nebenweg ein. Als ich parierte, änderte er die Richtung, dennoch
kam ich ihm immer näher. Schließlich war ich nur noch wenige
Meter hinter ihm.
Er hatte an Geschwindigkeit zugelegt und mußte sich gehörig
anstrengen, denn die Weihnachtsbäume ließen sich gewiß nicht
leicht ziehen. Obgleich er wissen mußte, daß ich direkt hinter
ihm war, hielt er nicht an. Da ich wegen der Enge des Weges und
der Breite der beiden Bäume nicht an ihm vorbei konnte, rief ich
laut: "Hallo!"
Dann noch einmal: "He, hallo!"
Der Dieb blieb stehen, drehte sich um, und ich erstarrte. Unter
der schneebedeckten Zipfelmütze schauten rotblonde Locken und
darunter das Gesicht unseres neuen Pfarrers hervor!
Ich geriet in große Verlegenheit, hatte ich doch den Vater meiner
Angebeteten beim Weihnachtsbaumklau gestellt. Der Pfarrer mochte
die "Baumentnahme" vielleicht als Kavaliersdelikt ansehen, möglicherweise
hatte er sich auch gar nichts dabei gedacht. Für mich aber würde
es das Ende meiner großen Liebe bedeuten, fände ich jetzt nicht
die richtigen Worte. Ich begann das Gespräch mit der überflüssigen
Frage: "Haben Sie Weihnachtsbäume geholt?"
"Das habe ich, junger Freund. Aber – wo bin ich bloß hier?
Ich habe wohl den rechten Weg verfehlt!"
Im Innern bestätigte ich letztere doppeldeutige Feststellung,
stieß indessen, heiser vor Erregung, lediglich hervor: "Woher
haben Sie die Bäume?"
"Die habe ich vom Schöpfer erstanden, einen für mich und einen
für das Gemeindehaus. Aber weshalb fragst du, mein Sohn?"
Seine ruhige, freundliche Art und die Formulierung "mein Sohn"
verwirrten mich ziemlich, darum fragte ich erneut: "Bei wem kann
man solche schönen Bäume erwerben?"
"Bei Gott, in Gottes freier Natur", wiederholte er.
Seine Unbefangenheit irritierte mich.
"Weshalb fragst du so eindringlich?", wollte der Pfarrer
wissen. "Und warum bist du mir so auffällig gefolgt? Ich habe
dich schon eine Weile hinter mir gespürt. Gelt, du bist doch der
fleißige Kirchgänger, der mir schon immer aufgefallen ist und
von dem meine Tochter Rahel manchmal spricht?"
Bevor ich, nach den passenden Worten suchend, etwas erwidern
konnte, beantwortete er seine Frage selbst: "Laß mich raten,
junger Freund. Du willst sicher auch einen Baum haben, und weil
ich gleich zwei besitze, denkst du, ich könnte dir getrost einen
abgeben, so wie das der Martin mit seinem Mantelteil getan und wie
es unser Heiland gepredigt hat. Es sei drum so, wie du es dir wünschst.
Du kriegst den rechten hier. Es ist der größere Baum, ihn hatte
ich fürs Gemeindehaus ausgewählt."
Einen Augenblick sah er mich schweigend an, dann fügte er hinzu: "Sicher bist du damit einverstanden, wenn ich dich bitte, mir für
diesen schönen Baum, den ich eigenhändig gefällt und bis
hierher geschleppt habe, zehn Mark zu zahlen. Der Küster kann
dann einen Ersatzbaum kaufen."
Ich war drauf und dran, ihm die Meinung zu sagen: Der Baum würde
aus unserem Wald stammen, er könne doch nicht verlangen, daß ich
meinen eigenen Baum kaufe und ihm den zweiten kostenfrei überlasse!
Und daß ich es nicht gutheißen würde, wenn er sich in einem
fremden Wald einfach bediene ...
Jedoch war ich viel zu verwirrt, um klare Worte zu finden, verschüchtert
stieß ich lediglich hervor, ich wisse nicht, ob ich genug Geld
bei mir hätte.
Ich kramte nach meiner Geldbörse, fand sie auch in einer meiner
zahlreichen Jackentaschen und bezahlte tatsächlich meinen eigenen
Baum.
Den Dieb ließ ich unbehelligt von dannen ziehen. Allerdings nahm
ich mir insgeheim vor, zur Strafe den Gottesdienst mindestens drei
Wochen lang nicht zu besuchen.
So geschehen an einem Freitag.
Am darauffolgenden Sonntag saß ich wieder brav hinter Rahels
langem, schwarzem Zopf.
Aus:
"Halbstark und tüchtig", Reihe ZEITGUT, Band 17.
Inhalt
Die
Orte unserer Weihnachtsgeschichten 8
Alle Jahre wieder 9
Erna
Hannemann
1918 – meine schönste Weihnachtsfeier 10
Erna Hannemann
Tante Käthes große Überraschung 15
Ernst Haß
Grünkohl-Weihnachten 17
Bruno Rettelbach
Früh übt sich ... 21
Gerta Kohlmann
Weihnachtsstollen 27
Elisabeth Kirch-Schuster
Der Kaufladen 31
Maria Kühl
Balduin, der Puppenspieler 35
Gertrud-Karola Wolff
Die Weihnachtsgans 43
Adolf Wondrejz
Weihnachten an der Wolchow-Front 46
Irmgard Pondorf
Ein ungewöhnliches Geschenk 53
Friedrich Göhrs
Der Kriegsweihnachtsmann 56
Hildegard Brandt
Retter in der Not 59
Bernadette Schnüttgen
Das Geheimnis von Haus Nr. 37 62
Gretel Hardeland
Die letzte Kriegsweihnacht 67
Hans Döpping
"En avant!" oder: Der Bettler und die Könige 71
Eckhard Müller
Später Besuch 77
Liselotte Miller
Arm und doch glücklich 81
Gerda Weinert
Ein weißer Weihnachtsmann 87
Inge Vogl
Mein Lied 95
Georg Günther
Die Annonce 98
Benno Schweizer
Heimliche Bescherung 102
Evelyn Steudel
Ein Sack Weihnachtsholz 105
Hans Engels
Das Tretauto 108
Luise Rüth
Großvaters Bescherung 112
Heinrich Schröter
Nur zwei Worte 115
Anneliese Weiss-Müller
Goldene Ringe 116
Dorothea F. Voigtländer
Weihnachten im Keller 119
Wulf Köhn
Blockade-Weihnachten 122
Klaus Seiler
Die Schüssel auf dem Schrank 131
Klaus Seiler
Schlesische Mohnklöße 134
Ernst Haß
Willis Heimkehr 139
Ernst Haß
Gerhard 144
Barbara Weiske
Eine Weihnachtsgeschichte 148
Renate Beitsch
Abgesahnt 152
Brigitte Meyer-Rudat
Drei ganz verschiedene Weihnachtsfeste 156
Bernadette Schnüttgen
Vergebliche Liebesmühe 165
Günther Paffrath
Der Weihnachtsbaumdieb 167
Elisabeth Schmack
Warten auf das Christkind 173
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