Kurzbeschreibung
Vom vierten bis zum siebten Lebensjahr, wenige Jahre nach dem
zweiten großen Krieg, als Flüchtlingskind aus dem Osten in einem
Lager zu leben bleibt nicht ohne Spuren. Viele Erinnerungen, Bilder
und Szenen sind aufbewahrt wie in einer Blackbox. Klaus Seiler hat
seine Box aufgeschlossen und sich das damals Erlebte von der Seele
geschrieben.
Die als Miniaturen festgehaltenen
Erinnerungen zeigen, wie nach dem Verlust der alten Heimat und der
Ankunft in der Fremde beinahe alle Kräfte einer Familie jahrelang
allein dem Überleben dienten. Das Leben war auf das Elementare
reduziert: Essen und Trinken, Säen und Ernten, die Sorge um die
Tiere, der Kampf gegen die Kälte, das Sammeln von Vorräten.
Bewegend und nachdenklich erzählt
Klaus Seiler von Not und Elend, von schönen wie von traurigen
Momenten, von Demütigungen und Zuspruch. Seine Aufzeichnungen stehen
beispielhaft für das Schicksal und die Traumata Hunderttausender Flüchtlingskinder
im Nachkriegsdeutschland
Autor
Klaus Seiler wurde 1944 geboren. Die
Familie, die aus Schlesien stammt, flüchtete im Januar 1945 bis in
die Nähe von Berlin. 1947 Übersiedelung nach Niedersachsen. 1947 bis
1951 Flüchtlingslager in der Nähe von Bennigsen am Deister, Kreis
Springe bei Hannover. Aus dieser Zeit stammen die Erinnerungen. Von
1963 bis 1968 Studium der evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen
und Göttingen. 1971 bis 1994 Gemeindepastor in Stade, seit 1994
Krankenhausseelsorger im Elbe-Klinikum Stade und Pastoralpsychologe im
Sprengel Stade.
Klaus Seiler ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter. Er lebt
in Stade.
Leseproben aus »Barackenkind«
Bevor es anfängt ...
Vom vierten bis zum siebten
Lebensjahr, von 1947 bis 1951, also wenige Jahre nach dem zweiten großen
Krieg, als Flüchtlingsfamilie aus dem Osten in einem Lager zu leben
bleibt nicht ohne Spuren. Viele Erinnerungen, Bilder und Szenen sind
aufbewahrt wie in einer Blackbox. Diese aufzuschließen und sich das
damals Erlebte von der Seele zu schreiben war in den zurückliegenden
Jahren ein innerer Zwang. Es sind Kinderbilder: die Realität
wahrgenommen und aufgenommen aus der Perspektive eines Kindes.
Objektivität ist nicht ihr Maßstab, es sind keine Fotografien.
Zu den Bildern kommen heute jedoch
Gefühle, die das Kind von einst nur verschwommen wahrnehmen und
verhalten zulassen konnte; sie wären damals wohl oft zu überwältigend
gewesen. Nach etwa fünfzig Jahren können sie kommen.
Zeitverschiebung ...
So haben Schmerz und Trauer,
Ironie und Bitterkeit,
aber auch Lust und Neugier,
bisweilen ein inneres Schmunzeln
die folgenden Miniaturen entstehen lassen.
Stade, Dezember 2003
Klaus Seiler
Angekommen
Tausend kleine Schritte noch, wiederum auf der linken Seite. Auf der
anderen, im breiten Feldweg gegenüber, steht wie ein Scherenschnitt
gegen den Himmel noch lange das eiserne Untergestell einer Flak, mit
drehbarem, durchlöchertem Sitz – das Karussell der Lagerkinder,
zumindest der mutigeren. Linker Hand also, nach leicht abschüssigem,
kurzem Weg und von weitem sichtbar, wie riesige Bauklötze in der
Landschaft: fünf langgestreckte, parallel gestellte hohe Baracken,
»Finnenhäuser«. Was wohl hinter dem Namen steckt? Jetzt Lager für
sechshundert Menschen, achthundert hieß es auch zeitweilig.
Vorläufiges Ende ihrer Flucht, ihrer Irrfahrten und Irrwege aus
Bessarabien, Pommern, Schlesien, Wolhynien, Siebenbürgen, Ost- und
Westpreußen und woher auch immer.
Über dem hohen, groben
Zementsockel – gegen ihn war Dieter T., sechsjährig, die Entfernung
nicht richtig einschätzend, gerannt, hatte sich den Schädel
zertrümmert. Ich höre ihn noch schreien, sehe ihn sich wehren, als
er aus dem Haus getragen und ins Krankenhaus – das Springer
Jagdschloß – gefahren werden soll, sehe schließlich den kleinen,
weißen Sarg in der Friedhofskapelle vor mir ... Jedes Schulkind gibt
fünf Pfennige für einen Kranz ... Über dem Sockel aus Zement also
erhebt sich das riesige Holzhaus, einstöckig, grünlich verblichen
zuerst; später – nach der Befreiung von Wanzen – erhalten die
äußeren Wände einen rotbraunen Anstrich. Ich habe den Geruch des
Vertilgungsmittels noch immer in der Nase.
Im ersten Stockwerk – vorbei an dem griesgrämigen alten Ehepaar aus
Ostpreußen – liegt unsere Wohnung. Wir sind angekommen:
Finnenhäuser, Block 4.
Das Lager »Finnenhäuser« zwischen Hüpede und Bennigsen bei
Hannover, vorläufige Endstation für Flüchtlinge aus den
Ostgebieten.
»Willibalds« Arche
Da steht er: unser Schuppen, aus Lehm geschaffenes Bauwerk, langsam
und sorgfältig getrocknet. Das Dach: große Bleche, in Schuttkuhlen
gesammelt (die ergiebigste befand sich im Steinkruger Wald),
glattgehämmert und -geklopft, von Steinen beschwert. Auch an der
Wetterseite klemmen und stecken dem Regen trotzende Bleche.
Der Schuppen ist unsere Arche. Mein Vater – Willibald – ihr
Baumeister. Hier wohnt Jolante, unser erstes Schwein. Ich weiß noch,
wie wir es beim Bauern R. in Lüdersen aussuchten, das winzige
quiekende Wesen im zugeschnürten Sack auf dem Handwagen nach Hause
zogen und in den vorbereiteten Stall mit dem lichtdurchlässigen
Fenster in Schweine-Augenhöhe setzten.
Jolante ist unser Schwein, genährt,
gehegt, gepflegt, gestreichelt, geliebt. Wir sind zärtliche Freunde.
Später wohnt hier der schwarzgefleckte Moritz, auf dem ich reiten
darf, der mich jedoch einmal abwirft und im hohen Bogen fliegen läßt,
weil er so scharf und unvermittelt bremsen kann, der temperamentvoll
einen Holzstoß einreißt, tobend alle Kaninchenställe umwirft und
eine Ratte frißt, die durchdringend und verzweifelt quiekt.
Hier wohnen in neuer Behausung – ohne Treppenstufen – die Hühner,
hier wachsen, im Unterschied zur Wohnbaracke, Wälle, Türmchen und
Burgen aus Hühnerkacke! Hier brütet die Glucke, hier bekommen Enten
ihr Zuhause.
An der Rückwand – windgeschützt – lehnen die Ställe für die
vielen Kaninchen mit ihrem unstillbaren Appetit auf
Löwenzahnblätter, der uns Kinder oft zur Verzweiflung bringt.
Doch die Tiere entschädigen uns an vielen, zu vielen Sonntagen mit
gespicktem Braten und Hasenklein. Seit jener Zeit habe ich Kaninchen-
oder Hasenbraten satt. Für mehr als ein Leben!
Eltern und Kinder
posieren stolz vor ihrem neuen Schuppen.
Entrissen
So ziehen wir los: der Handwagen, wie immer ein paar geflickte Säcke
darauf, zwei große, zwei kleinere Kartoffelhacken ragen über das
hintere Schott. Die abgeernteten Kartoffelfelder der Umgebung sind
vorher mit dem Rad erkundet worden.
Meine Schwester und
ich im Jahre 1950.
Manchmal haben wir am
Tag zuvor beim Bauern Kartoffeln gelesen, die Drahtkörbe voll
gesammelt und erlebt, wie die aufgestellten Säcke mit jeder Reihe
wachsen und wachsen. Pferdegespann, Rufe des Lenkers, Kartoffelpflug
... Die Erde spritzt auf; in weitem Bogen fliegen die Kartoffeln auf
den Acker und liegen verstreut und helleuchtend vor einem, man braucht
sich nur zu bücken. Leberwurstbrote in der Pause, dicke Stullen, von
der Bäuerin im großen Korb mit dem Rad aufs Feld gebracht, und
Blechkannen voller »Lindes«-Kaffee. Es riecht wunderbar: die Erde,
das Brot, die Leberwurst, der Kaffee ... Wir stärken uns für die
Arbeit.
Nicht alle Kartoffeln
suchen das Licht, einige bleiben versteckt. Auf die haben wir es am
nächsten Tag abgesehen. Kartoffeln stoppeln. Mühsame Arbeit,
zufälliges Finden, bisweilen allerdings unverhofft ein ganzes Nest.
Manche Felder sind leer wie eine Wüste, und entsprechend leer ist der
Handwagen am Abend.
Doch dieses eine Feld, am Lüderser Hang, obwohl abgeerntet und schon
zur Nachlese geeggt: Die verborgenen Kartoffeln purzeln nur so ans
Licht, jeder Hackenschlag ein Treffer. Im Nu füllen sich unsere
Körbe; die Säcke wachsen in die Höhe. Vorsicht, der Handwagen darf
nicht überladen werden, die Achsen sind nicht so stark; hinzu kommt
der abschüssige Hang. Wir hören erst einmal auf. Das Feld müssen
wir uns merken! Aber nichts verraten! Wir kommen morgen wieder!
Unerwartet biegt der Bauer mit Trecker und Gummiwagen in den Feldweg
ein, steuert auf sein Feld zu. Hält neben unserem Handwagen, sieht
die Kartoffelsäcke. Wir rennen auf unsere Ernte zu. Der Bauer reißt
bereits die Säcke vom Handwagen, wirft sie auf die Ladefläche des
Anhängers. Im Motorenlärm des Treckers: Mein Vater brüllt, der
Bauer schreit und fuchtelt mit den Armen; Schimpfen, Fluchen, die
Männer zerren an den Säcken.
Da hebt mein Vater die Hacke, sie steht, sie zittert in der Luft –
der Bauer direkt unter ihr, ganz nah. Wir halten den Atem an. Was ist,
wenn sie herunterkracht? Es vergeht eine Ewigkeit.
Mein Vater läßt die Hacke langsam sinken. Wir sind wie benommen.
Unser Handwagen ist leer. Der Trecker fährt auf dem Acker eine Kurve.
Geschlagen ziehen wir davon. Alle Augenblicke dreht sich mein Vater
um, bebt noch, zittert, flucht, hebt drohend die Kartoffelhacke.
Solange wir den Trecker sehen können, dreht er sich um und droht mit
der Hacke. Keiner sagt ein Wort.
Tanzplatz
Um die große Grube mit dem brüchigen Rand, gleich hinter der
fünften Baracke, ist ein Zaun gezogen, ein rostiger, zum Teil
heruntergetretener Maschendraht. Die Kinder sind gewarnt. Die
Gefährlichkeit der Grube ist ihnen eingeschärft worden. Wer in der
braunen, schweren Masse versinkt, ist verloren.
Die offene Kloake des Lagers. Welchen Weg alles nimmt und wie es
schließlich bis hierher in die Kuhle gelangt, unterirdisch,
überirdisch, niemand weiß es genau. Im Gedächtnis bleibt die tiefe,
stinkende, braune Grube.
Eines Tages kommen Bauarbeiter, legen riesige Eisenträger quer über
die Grube, verschließen sie mit einer dicken Zementdecke. Die große
Platte wird unser Spielplatz. Beim Springen dröhnt und hallt der
verschlossene Innenraum mit seinem unheimlichen Inhalt. Platz für
Völkerball, »Plumpsack« und andere Kreisspiele.
Ich bin ’ne kleine Schnecke
und keine Maus,
ich rühr’ mich nicht vom Flecke
und komm’ nicht raus.
Bin ja immer so allein,
es will ja keiner bei mir sein ...
Jetzt wird blitzschnell ein Name
gerufen, und der oder die Gerufene versucht, an den übrigen Kindern
vorbei in die Mitte des Kreises zu kommen und die Schnecke aus ihrer
Einsamkeit zu erlösen. Es ist mein Lieblingsspiel. Lust und
Traurigkeit singen, rufen, rennen. Das Spiel ist ein Spiegel. Die Flüchtlingskinder
spielen es immer wieder. Sie spielen von Verlorenheit, von Einsamkeit
und Angst.
Doch: Wir tanzen über der Scheiße.
Im Spätsommer wird die riesige
Zementplatte zum Dreschplatz der Erwachsenen. Hier sausen Dreschflegel
und Knüppel auf die gelesenen Ähren nieder, hier trennt der Wind die
Spreu von Weizen und Roggen und Gerste.
Im Winter lodert dort der brennende Scheiterhaufen aus Stroh, auf dem
das gerade getötete Schwein der Bessarabier liegt. Die Borsten werden
abgesengt, das Fleisch bekommt einen ersten Rauchgeschmack, wird erzählt.
Es riecht im weiten Umkreis nach verbrannten Haaren.
»Gott ist die Liebe«
(...) In der Sonntagsschule singen
wir:
Gott ist die Liebe,
Gott ist die Liebe,
Gott ist die Liebe,
er liebt auch dich.
Wir singen es ununterbrochen,
unzählige Male hintereinander, wir hämmern, stanzen es uns ein,
steigern uns hinein ... Sonst hätten wir es wohl nicht so recht
geglaubt. Wenn der Glaube nachläßt, gibt es Zuckerkuchen,
tellerrandvoll, turmhoch, oder Bilder zum Sammeln und Einkleben: Jesus
im langen, weißen Gewand – aus grobem Nesselstoff wie unser
Bettzeug – an einem See mit Kindern, Frauen, Jüngern. Das alles
stärkt, wird uns gesagt.
Gefüllte Kuchenteller,
Geschichten und Lieder in der Sonntagsschule.
Nachdem fast alles erzählt ist...
Die Geschichten aus dem Lager sind fast alle erzählt, von der Seele
geschrieben. Aus dem privaten, intimen Raum gelangen sie in einen
öffentlichen. Viele werden sich an ähnliche Erlebnisse erinnern.
Erst im Nachhinein wurde mir erschreckend bewußt, wie beinahe alle
Kräfte einer Familie jahrelang allein dem Überleben dienten. Und das
galt nicht nur für unsere Familie, sondern für viele andere auch.
Das Leben war auf das Elementare reduziert: Essen und Trinken, Säen
und Ernten, die Sorge um die Tiere, der Kampf gegen die Kälte, das
Sammeln von Vorräten – die Sorge um das Alltägliche nahm fast alle
Kräfte in Anspruch. Ich staune, wie viele Fähigkeiten und
Fertigkeiten meine Eltern besaßen – und wiederum nicht nur sie –,
mit denen sie das Überleben meisterten.
Die Jahre im Barackenlager kommen mir im Rückblick vor wie ein Raum
ohne Geschichte, ohne Lieder, Bücher und Bilder. Ich kann mich nicht
an Bilder erinnern, die an den Wänden hingen, und auch nicht an
Lieder, die wir im Kreis der Familie gesungen hätten. Vielleicht war
nach der Entwurzelung, nach Flucht und Vertreibung, vielen nicht nach
Büchern, Bildern oder Liedern zumute. Falls es dennoch Lieder und
Geschichten gegeben hat, so habe ich sie in meiner Erinnerung nicht
aufbewahrt, sie bekamen – angesichts der anderen Erfahrungen –
keine Bedeutung.
Nach dem Ende der Barackenkindheit geschah ein grundlegender Wandel.
Bald nach dem Umzug ins Dorf kaufte mein Vater ein Klavier! Ich werde
den Augenblick nicht vergessen: Kaum hatte es in der Wohnstube seinen
Platz gefunden, spielte er mit großer Ergriffenheit »Am Brunnen vor
dem Tore« und sang dazu alle Strophen auswendig. Die Familie stand um
das Klavier herum, mit Tränen in den Augen. Es waren unglaubliche
Klänge! Wir hätten nie gedacht, dass es sie bei uns zu Hause geben
könnte. Musik und Lieder kehrten ein, eine neue Welt. Wie der
Frühling nach einem langen, langen Winter. Oder wie eine Zeitenwende
...
Trauern und
Seufzen
wird von ihnen fliehen.
Jesaja 51, 11
Inhalt
»Barackenkind«
Bevor es anfängt 9
Wegbeschreibung 10
Angekommen 11
Von Menschen und Tieren 12
Komfort 13
Besuch 14
Reisekorb 15
Stilleben 15
Dunkelheit 16
Der Traum 16
Beobachtungen 18
Freier Fall 18
Helle Nacht 19
Tageszeit 20
Trockenzeit 21
»Willibalds« Arche 22
Marterpfahl 23
Widersprüche 24
Heiße Kartoffeln 28
Erntewunder 28
Ausflug 30
Endlose Reihen 30
»Die Dornen sind giftig« 32
Rache 34
Lachen 35
Fremder Mann 36
Irdische Strafen 38
Himmlische Strafen 39
Schulstrafen 41
Entlaufen 41
Entflogen 44
Entrissen 45
Tanzplatz 46
»Gott ist die Liebe« 47
Ausblicke 49
Warum müssen wir den Siebenschläfer töten? 50
Heilen hat seine Zeit 54
Mitleid 56
Aller guten Dinge sind drei – noch ein Hungerleider 59
Heimlich – unheimlich 60
Das Kostüm 61
Weihnachten 64
Wintertage 67
Kleine Wunder am Wegesrand 68
Dank an Frieda und Otto Wienrich 70
Eine Birke 72
Nachdem fast alles erzählt ist 74
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