Meine kleine Puppenwelt - Bücher aus dem Zeitgut-Verlag

 

 

 

 

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Bücher aus dem Zeitgut Verlag

Barackenkind

Klaus Seiler
Barackenkind

Vier Jahre Flüchtlingslager 1947-1951. 
Aus der Reihe 'Sammlung der Zeitzeugen'. Mit Fotos.

Herausgegeben von Jürgen Kleindienst.

Zeitgut Verlag GmbH
Januar 2005 
kartoniert 
74 Seiten

 

3933336708

 

€ 12,80

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Kurzbeschreibung

Vom vierten bis zum siebten Lebensjahr, wenige Jahre nach dem zweiten großen Krieg, als Flüchtlingskind aus dem Osten in einem Lager zu leben bleibt nicht ohne Spuren. Viele Erinnerungen, Bilder und Szenen sind aufbewahrt wie in einer Blackbox. Klaus Seiler hat seine Box aufgeschlossen und sich das damals Erlebte von der Seele geschrieben.

Die als Miniaturen festgehaltenen Erinnerungen zeigen, wie nach dem Verlust der alten Heimat und der Ankunft in der Fremde beinahe alle Kräfte einer Familie jahrelang allein dem Überleben dienten. Das Leben war auf das Elementare reduziert: Essen und Trinken, Säen und Ernten, die Sorge um die Tiere, der Kampf gegen die Kälte, das Sammeln von Vorräten.

Bewegend und nachdenklich erzählt Klaus Seiler von Not und Elend, von schönen wie von traurigen Momenten, von Demütigungen und Zuspruch. Seine Aufzeichnungen stehen beispielhaft für das Schicksal und die Traumata Hunderttausender Flüchtlingskinder im Nachkriegsdeutschland

Autor

Klaus Seiler wurde 1944 geboren. Die Familie, die aus Schlesien stammt, flüchtete im Januar 1945 bis in die Nähe von Berlin. 1947 Übersiedelung nach Niedersachsen. 1947 bis 1951 Flüchtlingslager in der Nähe von Bennigsen am Deister, Kreis Springe bei Hannover. Aus dieser Zeit stammen die Erinnerungen. Von 1963 bis 1968 Studium der evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen und Göttingen. 1971 bis 1994 Gemeindepastor in Stade, seit 1994 Krankenhausseelsorger im Elbe-Klinikum Stade und Pastoralpsychologe im Sprengel Stade.

Klaus Seiler ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter. Er lebt in Stade.


Leseproben aus »Barackenkind«

Bevor es anfängt ...

Vom vierten bis zum siebten Lebensjahr, von 1947 bis 1951, also wenige Jahre nach dem zweiten großen Krieg, als Flüchtlingsfamilie aus dem Osten in einem Lager zu leben bleibt nicht ohne Spuren. Viele Erinnerungen, Bilder und Szenen sind aufbewahrt wie in einer Blackbox. Diese aufzuschließen und sich das damals Erlebte von der Seele zu schreiben war in den zurückliegenden Jahren ein innerer Zwang. Es sind Kinderbilder: die Realität wahrgenommen und aufgenommen aus der Perspektive eines Kindes. Objektivität ist nicht ihr Maßstab, es sind keine Fotografien.

Zu den Bildern kommen heute jedoch Gefühle, die das Kind von einst nur verschwommen wahrnehmen und verhalten zulassen konnte; sie wären damals wohl oft zu überwältigend gewesen. Nach etwa fünfzig Jahren können sie kommen. Zeitverschiebung ...

So haben Schmerz und Trauer,
Ironie und Bitterkeit,
aber auch Lust und Neugier,
bisweilen ein inneres Schmunzeln
die folgenden Miniaturen entstehen lassen.

Stade, Dezember 2003

Klaus Seiler


Angekommen

Tausend kleine Schritte noch, wiederum auf der linken Seite. Auf der anderen, im breiten Feldweg gegenüber, steht wie ein Scherenschnitt gegen den Himmel noch lange das eiserne Untergestell einer Flak, mit drehbarem, durchlöchertem Sitz – das Karussell der Lagerkinder, zumindest der mutigeren. Linker Hand also, nach leicht abschüssigem, kurzem Weg und von weitem sichtbar, wie riesige Bauklötze in der Landschaft: fünf langgestreckte, parallel gestellte hohe Baracken, »Finnenhäuser«. Was wohl hinter dem Namen steckt? Jetzt Lager für sechshundert Menschen, achthundert hieß es auch zeitweilig. Vorläufiges Ende ihrer Flucht, ihrer Irrfahrten und Irrwege aus Bessarabien, Pommern, Schlesien, Wolhynien, Siebenbürgen, Ost- und Westpreußen und woher auch immer.

Über dem hohen, groben Zementsockel – gegen ihn war Dieter T., sechsjährig, die Entfernung nicht richtig einschätzend, gerannt, hatte sich den Schädel zertrümmert. Ich höre ihn noch schreien, sehe ihn sich wehren, als er aus dem Haus getragen und ins Krankenhaus – das Springer Jagdschloß – gefahren werden soll, sehe schließlich den kleinen, weißen Sarg in der Friedhofskapelle vor mir ... Jedes Schulkind gibt fünf Pfennige für einen Kranz ... Über dem Sockel aus Zement also erhebt sich das riesige Holzhaus, einstöckig, grünlich verblichen zuerst; später – nach der Befreiung von Wanzen – erhalten die äußeren Wände einen rotbraunen Anstrich. Ich habe den Geruch des Vertilgungsmittels noch immer in der Nase.
Im ersten Stockwerk – vorbei an dem griesgrämigen alten Ehepaar aus Ostpreußen – liegt unsere Wohnung. Wir sind angekommen: Finnenhäuser, Block 4.


Das Lager »Finnenhäuser« zwischen Hüpede und Bennigsen bei Hannover, vorläufige Endstation für Flüchtlinge aus den Ostgebieten.


»Willibalds« Arche

Da steht er: unser Schuppen, aus Lehm geschaffenes Bauwerk, langsam und sorgfältig getrocknet. Das Dach: große Bleche, in Schuttkuhlen gesammelt (die ergiebigste befand sich im Steinkruger Wald), glattgehämmert und -geklopft, von Steinen beschwert. Auch an der Wetterseite klemmen und stecken dem Regen trotzende Bleche.

Der Schuppen ist unsere Arche. Mein Vater – Willibald – ihr Baumeister. Hier wohnt Jolante, unser erstes Schwein. Ich weiß noch, wie wir es beim Bauern R. in Lüdersen aussuchten, das winzige quiekende Wesen im zugeschnürten Sack auf dem Handwagen nach Hause zogen und in den vorbereiteten Stall mit dem lichtdurchlässigen Fenster in Schweine-Augenhöhe setzten.

Jolante ist unser Schwein, genährt, gehegt, gepflegt, gestreichelt, geliebt. Wir sind zärtliche Freunde.

Später wohnt hier der schwarzgefleckte Moritz, auf dem ich reiten darf, der mich jedoch einmal abwirft und im hohen Bogen fliegen läßt, weil er so scharf und unvermittelt bremsen kann, der temperamentvoll einen Holzstoß einreißt, tobend alle Kaninchenställe umwirft und eine Ratte frißt, die durchdringend und verzweifelt quiekt.

Hier wohnen in neuer Behausung – ohne Treppenstufen – die Hühner, hier wachsen, im Unterschied zur Wohnbaracke, Wälle, Türmchen und Burgen aus Hühnerkacke! Hier brütet die Glucke, hier bekommen Enten ihr Zuhause.

An der Rückwand – windgeschützt – lehnen die Ställe für die vielen Kaninchen mit ihrem unstillbaren Appetit auf Löwenzahnblätter, der uns Kinder oft zur Verzweiflung bringt.
Doch die Tiere entschädigen uns an vielen, zu vielen Sonntagen mit gespicktem Braten und Hasenklein. Seit jener Zeit habe ich Kaninchen- oder Hasenbraten satt. Für mehr als ein Leben!

Eltern und Kinder posieren stolz vor ihrem neuen Schuppen.


Entrissen

So ziehen wir los: der Handwagen, wie immer ein paar geflickte Säcke darauf, zwei große, zwei kleinere Kartoffelhacken ragen über das hintere Schott. Die abgeernteten Kartoffelfelder der Umgebung sind vorher mit dem Rad erkundet worden.

Meine Schwester und ich im Jahre 1950.

Manchmal haben wir am Tag zuvor beim Bauern Kartoffeln gelesen, die Drahtkörbe voll gesammelt und erlebt, wie die aufgestellten Säcke mit jeder Reihe wachsen und wachsen. Pferdegespann, Rufe des Lenkers, Kartoffelpflug ... Die Erde spritzt auf; in weitem Bogen fliegen die Kartoffeln auf den Acker und liegen verstreut und helleuchtend vor einem, man braucht sich nur zu bücken. Leberwurstbrote in der Pause, dicke Stullen, von der Bäuerin im großen Korb mit dem Rad aufs Feld gebracht, und Blechkannen voller »Lindes«-Kaffee. Es riecht wunderbar: die Erde, das Brot, die Leberwurst, der Kaffee ... Wir stärken uns für die Arbeit.

Nicht alle Kartoffeln suchen das Licht, einige bleiben versteckt. Auf die haben wir es am nächsten Tag abgesehen. Kartoffeln stoppeln. Mühsame Arbeit, zufälliges Finden, bisweilen allerdings unverhofft ein ganzes Nest. Manche Felder sind leer wie eine Wüste, und entsprechend leer ist der Handwagen am Abend.

Doch dieses eine Feld, am Lüderser Hang, obwohl abgeerntet und schon zur Nachlese geeggt: Die verborgenen Kartoffeln purzeln nur so ans Licht, jeder Hackenschlag ein Treffer. Im Nu füllen sich unsere Körbe; die Säcke wachsen in die Höhe. Vorsicht, der Handwagen darf nicht überladen werden, die Achsen sind nicht so stark; hinzu kommt der abschüssige Hang. Wir hören erst einmal auf. Das Feld müssen wir uns merken! Aber nichts verraten! Wir kommen morgen wieder!
Unerwartet biegt der Bauer mit Trecker und Gummiwagen in den Feldweg ein, steuert auf sein Feld zu. Hält neben unserem Handwagen, sieht die Kartoffelsäcke. Wir rennen auf unsere Ernte zu. Der Bauer reißt bereits die Säcke vom Handwagen, wirft sie auf die Ladefläche des Anhängers. Im Motorenlärm des Treckers: Mein Vater brüllt, der Bauer schreit und fuchtelt mit den Armen; Schimpfen, Fluchen, die Männer zerren an den Säcken.

Da hebt mein Vater die Hacke, sie steht, sie zittert in der Luft – der Bauer direkt unter ihr, ganz nah. Wir halten den Atem an. Was ist, wenn sie herunterkracht? Es vergeht eine Ewigkeit.

Mein Vater läßt die Hacke langsam sinken. Wir sind wie benommen. Unser Handwagen ist leer. Der Trecker fährt auf dem Acker eine Kurve.

Geschlagen ziehen wir davon. Alle Augenblicke dreht sich mein Vater um, bebt noch, zittert, flucht, hebt drohend die Kartoffelhacke. Solange wir den Trecker sehen können, dreht er sich um und droht mit der Hacke. Keiner sagt ein Wort.


Tanzplatz

Um die große Grube mit dem brüchigen Rand, gleich hinter der fünften Baracke, ist ein Zaun gezogen, ein rostiger, zum Teil heruntergetretener Maschendraht. Die Kinder sind gewarnt. Die Gefährlichkeit der Grube ist ihnen eingeschärft worden. Wer in der braunen, schweren Masse versinkt, ist verloren.
Die offene Kloake des Lagers. Welchen Weg alles nimmt und wie es schließlich bis hierher in die Kuhle gelangt, unterirdisch, überirdisch, niemand weiß es genau. Im Gedächtnis bleibt die tiefe, stinkende, braune Grube.
Eines Tages kommen Bauarbeiter, legen riesige Eisenträger quer über die Grube, verschließen sie mit einer dicken Zementdecke. Die große Platte wird unser Spielplatz. Beim Springen dröhnt und hallt der verschlossene Innenraum mit seinem unheimlichen Inhalt. Platz für Völkerball, »Plumpsack« und andere Kreisspiele.

Ich bin ’ne kleine Schnecke
und keine Maus,
ich rühr’ mich nicht vom Flecke
und komm’ nicht raus.
Bin ja immer so allein,
es will ja keiner bei mir sein ...

Jetzt wird blitzschnell ein Name gerufen, und der oder die Gerufene versucht, an den übrigen Kindern vorbei in die Mitte des Kreises zu kommen und die Schnecke aus ihrer Einsamkeit zu erlösen. Es ist mein Lieblingsspiel. Lust und Traurigkeit singen, rufen, rennen. Das Spiel ist ein Spiegel. Die Flüchtlingskinder spielen es immer wieder. Sie spielen von Verlorenheit, von Einsamkeit und Angst.
Doch: Wir tanzen über der Scheiße.

Im Spätsommer wird die riesige Zementplatte zum Dreschplatz der Erwachsenen. Hier sausen Dreschflegel und Knüppel auf die gelesenen Ähren nieder, hier trennt der Wind die Spreu von Weizen und Roggen und Gerste.

Im Winter lodert dort der brennende Scheiterhaufen aus Stroh, auf dem das gerade getötete Schwein der Bessarabier liegt. Die Borsten werden abgesengt, das Fleisch bekommt einen ersten Rauchgeschmack, wird erzählt. Es riecht im weiten Umkreis nach verbrannten Haaren.


»Gott ist die Liebe«

(...) In der Sonntagsschule singen wir:

Gott ist die Liebe,
Gott ist die Liebe,
Gott ist die Liebe,
er liebt auch dich.

Wir singen es ununterbrochen, unzählige Male hintereinander, wir hämmern, stanzen es uns ein, steigern uns hinein ... Sonst hätten wir es wohl nicht so recht geglaubt. Wenn der Glaube nachläßt, gibt es Zuckerkuchen, tellerrandvoll, turmhoch, oder Bilder zum Sammeln und Einkleben: Jesus im langen, weißen Gewand – aus grobem Nesselstoff wie unser Bettzeug – an einem See mit Kindern, Frauen, Jüngern. Das alles stärkt, wird uns gesagt.

Gefüllte Kuchenteller, Geschichten und Lieder in der Sonntagsschule.



Nachdem fast alles erzählt ist...


Die Geschichten aus dem Lager sind fast alle erzählt, von der Seele geschrieben. Aus dem privaten, intimen Raum gelangen sie in einen öffentlichen. Viele werden sich an ähnliche Erlebnisse erinnern.

Erst im Nachhinein wurde mir erschreckend bewußt, wie beinahe alle Kräfte einer Familie jahrelang allein dem Überleben dienten. Und das galt nicht nur für unsere Familie, sondern für viele andere auch. Das Leben war auf das Elementare reduziert: Essen und Trinken, Säen und Ernten, die Sorge um die Tiere, der Kampf gegen die Kälte, das Sammeln von Vorräten – die Sorge um das Alltägliche nahm fast alle Kräfte in Anspruch. Ich staune, wie viele Fähigkeiten und Fertigkeiten meine Eltern besaßen – und wiederum nicht nur sie –, mit denen sie das Überleben meisterten.

Die Jahre im Barackenlager kommen mir im Rückblick vor wie ein Raum ohne Geschichte, ohne Lieder, Bücher und Bilder. Ich kann mich nicht an Bilder erinnern, die an den Wänden hingen, und auch nicht an Lieder, die wir im Kreis der Familie gesungen hätten. Vielleicht war nach der Entwurzelung, nach Flucht und Vertreibung, vielen nicht nach Büchern, Bildern oder Liedern zumute. Falls es dennoch Lieder und Geschichten gegeben hat, so habe ich sie in meiner Erinnerung nicht aufbewahrt, sie bekamen – angesichts der anderen Erfahrungen – keine Bedeutung.

Nach dem Ende der Barackenkindheit geschah ein grundlegender Wandel. Bald nach dem Umzug ins Dorf kaufte mein Vater ein Klavier! Ich werde den Augenblick nicht vergessen: Kaum hatte es in der Wohnstube seinen Platz gefunden, spielte er mit großer Ergriffenheit »Am Brunnen vor dem Tore« und sang dazu alle Strophen auswendig. Die Familie stand um das Klavier herum, mit Tränen in den Augen. Es waren unglaubliche Klänge! Wir hätten nie gedacht, dass es sie bei uns zu Hause geben könnte. Musik und Lieder kehrten ein, eine neue Welt. Wie der Frühling nach einem langen, langen Winter. Oder wie eine Zeitenwende ...

Trauern und Seufzen
wird von ihnen fliehen.

Jesaja 51, 11


Inhalt »Barackenkind«

 

 

Bevor es anfängt 9
Wegbeschreibung 10
Angekommen 11
Von Menschen und Tieren 12
Komfort 13
Besuch 14
Reisekorb 15
Stilleben 15
Dunkelheit 16
Der Traum 16
Beobachtungen 18
Freier Fall 18
Helle Nacht 19
Tageszeit 20
Trockenzeit 21
»Willibalds« Arche 22
Marterpfahl 23
Widersprüche 24
Heiße Kartoffeln 28
Erntewunder 28
Ausflug 30
Endlose Reihen 30
»Die Dornen sind giftig« 32
Rache 34
Lachen 35
Fremder Mann 36
Irdische Strafen 38
Himmlische Strafen 39
Schulstrafen 41
Entlaufen 41
Entflogen 44
Entrissen 45
Tanzplatz 46
»Gott ist die Liebe« 47
Ausblicke 49
Warum müssen wir den Siebenschläfer töten? 50
Heilen hat seine Zeit 54
Mitleid 56
Aller guten Dinge sind drei – noch ein Hungerleider 59
Heimlich – unheimlich 60
Das Kostüm 61
Weihnachten 64
Wintertage 67
Kleine Wunder am Wegesrand 68
Dank an Frieda und Otto Wienrich 70
Eine Birke 72
Nachdem fast alles erzählt ist 74

 

Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 

 

 

 

 

 

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