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  Birkach* bei Augsburg, Bayern
Weihnachten 1946
  Liselotte Miller
Arm und doch glücklich

Durch die politischen Nachwirkungen des Krieges waren wir 1946 in ein kleines Dorf in den westlichen Wäldern von Augsburg verschlagen worden, dort, wo sich Fuchs und Hase "Gute Nacht" sagten. Eine lange, beschwerliche Zeit lag hinter uns: der Abschied von der niederschlesischen Heimat, ein menschenunwürdiger Transport im Viehwaggon und mehrere Aufenthalte in Massenlagern. Endlich brachte uns ein klappriger LKW mit anderen Leidensgenossen an ein unbekanntes Ziel der erzwungenen Reise.

Da standen wir nun mit unseren letzten Habseligkeiten auf dem Dorfplatz: Mutter, mein fünfjähriger Bruder Werner, meine achtjährige Schwester Ursula und ich, elfjährig. Eine kleine Wohnung war uns zwar zugeteilt worden, aber die Leute hatten uns nicht gewollt. Niemand wollte uns eigentlich. Wer will schon eine fremde Frau mit drei Kindern im Haus?

Werner drückte sich an die Mutter und begann zu weinen. Die herbstliche Kühle kroch durch unsere Kleider. Zuletzt, als alle anderen schon einen Hauswirt gefunden hatten, erbarmte sich ein älterer Bauer. Er lud uns auf seinen Bretterwagen und "Bräundl", sein Haflinger, zog uns zu einem kleinen Hof, wo wir endlich ein Dach über dem Kopf fanden. Der Bauer wies uns eine freundliche aber unbeheizbare Kammer zu, in der zwei Betten mit Seegrasmatratzen standen. Dieser Raum sollte zur eigentlichen Privatsphäre unserer neuen Heimat werden. Die Möbel, eine abgewetzte Truhenbank, ein wackliger Stuhl und ein Büffet, hatten bestimmt schon viele gute und schlechte Tage erlebt.
Die ebenerdige Sommerküche, von der aus die Bäuerin den Backofen im Freien und den Kachelofen der eigenen Stube befeuerte, durften wir mitbenutzen, ebenso den riesigen Herd, der fast ein Drittel der Küche einnahm. Dieser riesige Herd faszinierte uns. Besonders tröstlich empfanden wir das große Wasserschiff, auf das man sich in der kalten Jahreszeit abwechselnd setzen konnte. Was die Bäuerin zum jähen Entschluß ihres Josef gesagt haben mochte, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen, erfuhren wir nie. Man konnte es nur ihrer säuerlichen Miene entnehmen.

So nach und nach erfuhren wir mehr über unsere Wirtsleute. Auch sie hatten durch den Krieg großes Leid erfahren, war doch ihr einziger Sohn auf den Schlachtfeldern Rußlands geblieben. Sepp und Anna, beide nicht mehr die Jüngsten, kränkelten. Ihre häufige Verdrossenheit ließ sich wohl nicht zuletzt damit erklären, daß sie einfach zu wenige Worte fanden, um sich den Schmerz von der Seele zu reden. Da auch die Tochter, ihr noch einziges Kind, kurz vor der Heirat in ein weit entferntes Dorf stand, hatten sie sich wohl in meiner Mutter eine Arbeitskraft erhofft und dabei uns drei Kinder mit in Kauf genommen.
Obgleich ihr die Arbeit fremd war, half Mutter – nicht zuletzt des lieben Friedens willen – wo immer sie konnte. Schon vor fünf Uhr früh fuhr sie die Milch zur Rampe an der Sammelstelle, wo das Milchauto sie abholte. Mir als der Ältesten wurde das Kühehüten anvertraut, das ich mit großer Begeisterung übernahm. Dabei konnte ich ungestört meinen Gedanken und Phantasien nachhängen, im Feuer Kartoffeln braten oder aus aufgetrennter Wolle allerlei Nützliches stricken, solange sich das gefräßige Vieh nicht am Klee der Nachbarweide vergriff. Im großen und ganzen mochte ich Kühe. Wir Kinder konnten das Heimweh unserer Mutter und ihre Traurigkeit nicht verstehen. Litten wir auch manchmal an der eingeschränkten Freiheit im Haus, so war diese draußen fast grenzenlos: Wald und Wiesen, soweit das Auge reichte, die Tiere im warmen dampfenden Stall, die Dorfkinder, mit denen uns bald eine innige Freundschaft verband. Hier gefiel es uns, hier wollten wir bleiben.


Meine damalige Klasse vor unserer kleinen Dorfschule im Nachbarort Klimmach.


Mit Freude gingen wir zur Schule in den Nachbarort nach Klimmach, wo in einem einzigen Raum alle Klassen gleichzeitig unterrichtet wurden. Während der junge kriegsversehrte Lehrer den einen den Lehrstoff beibrachte, arbeiteten die anderen still. Wie ein Schwamm sogen wir auf, was wir sahen und hörten, hatten wir doch längere Zeit keine Schule mehr besuchen können. Wir begannen das karge Leben zu lieben, auch wenn sich unsere Gedanken in diesen Hungerwintern, die zugleich mit sibirischen Temperaturen und riesigen Schneemengen einhergingen, zwangsläufig um die Beschaffung von Nahrung und Heizmaterial drehten. Wie schätzten wir damals die Wälder! Wir lebten im Rhythmus der Jahreszeiten und ernteten dankbar, was sie uns gerade boten. Im Gegensatz zu den Städtern mußten wir nie hungern. Die tägliche Brotration beim Bäcker war sicher, ebenso, als Höhepunkt jeden Genusses, das Eck "Velveta"-Schmelzkäse, das es auf Marken einmal pro Woche in der Milchsammelstelle gab. Der Bedarf an Süßem wurde mit Zuckerrübensirup gedeckt. Zur Aufbesserung unserer Mahlzeiten tauschte Mutter ihre letzten Damasttischdecken und Tassen aus Rosenthalporzellan gegen ein Stück Butter hier oder ein Pfund Mehl dort. Uns Kinder rührte das wenig, der Teller mußte voll sein.

Aus unserer kleinen, bescheidenen Zufriedenheit wurde ein großes Glück, als drei Tage vor dem Weihnachtsabend des Jahres 1946 unerwartet unser Vater vor der Tür stand. Drei Jahre Ostfront und zwei Jahre Arbeitseinsatz als Kriegsgefangener in einer Ziegelbrennerei in Kasachstan hatten ihn gezeichnet. Die Sohlen seiner Schuhe waren mit Schnüren zusammengehalten, und um seinen ausgezehrten Körper schlotterte ein viel zu weiter Mantel. Trotz unendlicher Wiedersehensfreude hatte sein Blick etwas Abwesendes, das sich erst langsam verlor.

Der einzige, der unsere Freude nicht teilte, war unser Jüngster. Werner verstand nicht, daß sich nun plötzlich ein Fremder zwischen ihn und seine geliebte Mama drängte und die innige Einheit seines jungen Lebens zu stören wagte. An diesem ersten gemeinsamen Heiligen Abend wollten wir Vater verwöhnen. Er sollte es fast so schön haben wie früher. Dazu gehörte selbstverständlich ein Christbaum. Dürres Bruchholz durften Notleidende jederzeit holen, selbst gegen den Willen der Waldbesitzer. Das hatte sogar der Pfarrer von der Kanzel gesagt. Aber grünes Holz?

Ratsuchend wandte ich mich an Peppi, meine neue Freundin, die mich nach und nach in die Geheimnisse des Dorflebens einweihte. Für die Beschaffung des Christbaumes gab es folgende Regeln: Er mußte aus dem Staatsforst sein. Privatwald war tabu. Der Förster war weit, aber bei den Bauern konnte man es nie wissen. Von einem guten Christbaum erwartete man einen tadellosen Wuchs. Außerdem durfte er nicht zu buschig, aber auch nicht zu nackt sein. Jeder andere war ein "Glump", und man sollte sich schämen.

Unter Beachtung all dieser Ratschläge glückte unsere Mission, und Peppi und ich stellten eine mannsgroße Fichte vor das Küchenfenster, weil im Zimmer kein Platz war. Den einzigen Schmuck bildeten ein paar zerknitterte Lamettastreifen, Relikte aus den Kriegstagen, die zur Irritierung der Radaranlagen deutscher Flakgeschütze abgeworfen worden waren.

Nach vollbrachter Tat spürten wir unseren leeren Magen und freuten uns auf das Festmahl. Es sollte sogar eine leibhaftige Gans geben! Weil im Dorf die Hühnerpest ausgebrochen war, hatte sie die Bäuerin noch eilig ins Jenseits befördert. So lag nun die Gans bläulich und etwas hartbrüstig, aber herrlich duftend, als Weihnachtsgeschenk von Sepp und Anna in einer geliehenen Pfanne. Dazu aßen wir Kartoffeln und Blaukraut und tranken Apfelschalentee. Auf die Nachspeise, einen Götterpudding, mußte wir leider verzichten, da sich die Enten darüber hergemacht hatten, als er zur Abkühlung in den Schnee gestellt worden war.

Als Höhepunkt und Abschluß der Weihnachtsschlemmerei erwarteten wir noch einen großen Teller Plätzchen; die Zutaten vom Mund abgespart, zusammengetauscht, zigmal versteckt und doch immer wieder gefunden. Nach dem Essen reichte Mutter ihn herum, und als die Reihe sich zu bedienen an Bauer Sepp war, geschah das Unvorhergesehene, die Katastrophe. Er sagte: "Vergelts Gott", nahm den Teller und verschwand geehrt in seiner Stube!

Wir trösteten uns mit weihnachtlichen Weisen aus dem Volksempfänger, die wir alle mitsangen. Die Eltern hörten noch mit einem halben Ohr die Rede des neuen Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Hans Ehard, bis es Zeit zum Aufbruch in die Mitternachtsmesse wurde. Bauer und Bäuerin traten mit ihrem Sonntagsgewand zur Tür heraus. Anna trug einen großen hellbraunen Fuchspelz, den sie wie eine Königin um die Schultern geschlungen hatte, und der sich mit dem Kopf im eigenen Schwanz festbiß.

Es war eine sternklare Nacht. Der Schnee häufte sich beidseits des Weges. Einer trat in die Fußstapfen des anderen. Von allen Seiten zitterten die Lichter der Stalllaternen dem steilen Hügel zu, über den der Weg, umsäumt von Wäldern, zur Kirche im Nachbardorf führte. Der Papa war wieder da! Wir fühlten uns geborgen nach all den vaterlosen Jahren, kuschelten uns abwechselnd an ihn und spürten nicht die Kälte durch unsere dünnen Schuhe. Es ging wieder aufwärts.

   
  Aus: "Lebertran und Chewing Gum", Reihe ZEITGUT, Band 14.
   
   
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  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

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