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  Flüchtlingslager "Finnenhäuser" zwischen Hüpede und Bennigsen bei Hannover, Niedersachsen; 1949
  Klaus Seiler
Schlesische Mohnklöße

Kurz vor Weihnachten gibt es die unverzichtbare Reise mit der Eisenbahn nach Hameln. Tante Friedel, Vaters Schwester, und mein Vater kennen dort einen schlesischen Schlachter. Nur der hat die richtigen Schinkenwürstchen für den Heiligen Abend. Kein Weg ist zu weit, keine Mühe, kein Umstand zu groß, um für das Weihnachtsessen einzukaufen. Am Abend kommt Vater mit einer vollgepackten Tasche nach Hause. Der Duft der geräucherten Würstchen zieht in die Wohnung ein; das Wasser läuft uns im Mund zusammen.

Heiliger Abend: Wir gehen auf der Landstraße ins Dorf, dick eingepackt gegen die Eiseskälte. Die Kirche mitten im Ort ist unser Ziel. Wir kommen zum Weihnachtsgottesdienst immer zu spät. Wir haben wohl auch den weitesten Weg. Auf der Orgelempore gibt es nur den Stehplatz, Jahr für Jahr. Wir Kinder sehen fast nichts von der weihnachtlichen Kirche. In Augenhöhe nur Wintermäntel, abgewetzte Pelze, grüne Joppen und verdrehte Gürtel. Der Geruch von Mottenkugeln steigt uns in die Nase. Umfallen kann man bei der Enge nicht, höchstens ersticken. Den Pastor können wir nur hören, eine dröhnend-singende Stimme. Ob er das Flüchtlingslager kennt?

Die tiefen Töne der Orgel schlagen auf den Darm, jedesmal. Ich habe richtig Angst vor der Orgel: Dann beginnt das fürchterliche Poltern im Inneren ... Doch endlich - nach "O du fröhliche" - öffnen sich wieder die Kirchentüren; wir werden nach draußen gedrückt, gequetscht, müssen uns - wie benommen - auf dem dunklen Platz vor der Kirche erst suchen. Aber hier: diese wunderbare, frische, eisige Luft. Wir werden wieder lebendig.
In den Häusern an der Straße sehen wir durch die Fenster brennende Kerzen an den Tannenbäumen; Kinder, Erwachsene huschen im Kerzenlicht durch die Räume. Zeit der Bescherung in vielen Familien des Dorfes.

Der Weg zurück ins Lager - auf der menschenleeren Landstraße - hat einen Zauber. "Markt und Straßen steh'n verlassen" - ich kenne dieses Lied schon aus ganz frühen Jahren. Ich verbinde es mit diesem Weg.

Es ist ganz still hier draußen. Nur unsere Schritte auf dem Asphalt sind zu hören, mehr nicht. Wir reden fast nicht, gehen auch nicht schnell, wir sind diesmal nicht in Eile ...
In der Ferne am Hang die Lichter von Lüdersen.
Diese Stunde Fußmarsch durch die kalte Nacht zwischen dem Dorf und dem Lager ist mir unvergeßlich. Die Stille, die Weite, der gefrorene, von Reif oder Schnee bedeckte Acker ringsum, der Himmel, die eisige, klare Luft, die Einsamkeit, das gemeinsame Gehen. Zu diesem Weg durch die Dunkelheit gehören die Sterne. Die Sterne sind in diesen Frostnächten zum Greifen nah. Ihre Klarheit, das ferne Blinken - als blinzelten sie uns zu. Unter dem Sternenzelt gibt es Geborgenheit. Die Sterne nehmen die Angst, die Sterne machen ruhig und froh. Sie sind wie freundliche Augen. Wir sind nicht allein. Ich könnte heulen. Weihnachten und das Sternenzelt gehören zusammen!

Mich haben später auf dem fast menschenleeren Schulweg im Dunkeln durch die Trümmerfelder von Hannover-Linden bis zum Waterlooplatz - vorbei an dem riesigen Trümmerplatz, der später das Niedersachsen-Stadion wurde -oft die Sterne getröstet. Ich war ganz sicher: Wenn sie mir zublinken, bin ich nicht allein; dann kann mir nichts passieren.

Das Weihnachtsessen ist vorbereitet, die Kartoffeln für den Brei - bei uns heißen sie Stampfkartoffeln, sie werden ja auch richtig gestampft - sind bereits geschält. Die Schinkenwürstchen gleiten ins kochende Wasser. Nach kurzer Zeit dampft es aus allen Töpfen; ein betörender Duft kommt zusammen: das Sauerkraut aus eigener Tonne (wie oft haben wir die ausgediente, hölzerne Fischtonne mit kochendem Wasser ausgeschrubbt!), die Kartoffeln, die Buttersoße, die einmaligen Hamelner Würstchen. Die Fenster beschlagen, doch wir lassen die Luft und den Duft nicht entweichen. Ein Festmahl!
Wir beten. Wir füllen die Teller, bauen Burgen, bilden kleine Seen und Flußläufe aus brauner Buttersoße. Wir genießen. Es muß so etwas wie Heimat sein - mitten in der Fremde. Wie der Himmel. Das ist Weihnachten. Zur schlesischen Weihnacht gehören unverzichtbar Mohnklöße um Mitternacht.

Für sie und für den Mohnkuchen mit Streuseln oder den gerollten Mohnstrietzel für die Sonntagnachmittage gab es das große Mohnbeet im Garten mit den leuchtenden violett-weißen Blüten. Aus den aufgeschnittenen Kapseln, immer schon vor der Reife geerntet, um den gefräßigen Spatzen zuvorzukommen und sicherheitshalber im Schuppen getrocknet, rieseln die unzähligen blauen Körner in die Schüssel. Die Kapseln lassen sich, hat man die Krone glatt abgeschnitten, richtig ausgießen. Der Mohn landet in einem weißen Säckchen, das - vor Mäusen sicher - aufgehängt wird. Manche Kapsel lassen wir genußvoll in den Mund rieseln. Wie das wohl wirkt?

Mohn macht dumm, heißt es allerdings immer wieder warnend. Den Mohn mahlt Bäcker Bänsch im Dorf; er - der schlesische Bäcker - hat eine Mohnmühle, ein echter Landsmann! Das Mahlen muß man nicht bezahlen.

Die Mohnklöße: Weißbrotscheiben, in heißer Milch gequollener Mohn, der mit Rosinen, Mandelöl und weiteren Zutaten aus winzigen Fläschchen veredelt wird - alles schwer und triefend in eine Jenaer Glasform gepreßt. Sie müssen unter einem Tuch wohl stunden- oder gar tagelang ziehen. Hilfe, mir entgleitet das Rezept!

Die Mohnklöße plumpsen ins Innere zu allen schon vorhandenen Wohltaten des Weihnachtsabends und liegen wie Steine im Magen. Sie lassen die Weihnachtsnacht zur unruhigen Nacht werden. Aber sie müssen sein ... Weihnachten ohne Mohnklöße gibt es nicht.

Die Nacht wird auch sonst unbequem. Ich nehme alle Geschenke mit ins Bett, lege sie - fühlbar - an den Rand des Kopfkissens, stecke sie unter die Bettdecke: das Holzauto aus der schwedischen Spielzeugspende, das Kamel mit seinen langen, motorbetriebenen Beinen - ein Geschenk unseres Erfinder-Onkels Georg, dem Bruder meiner Mutter; auch wenn es auf seinen Stelzenbeinen nicht laufen konnte, sondern schon beim ersten Schritt das Gleichgewicht verlor, brachte es uns doch mit einer fernen, fremden Welt in Berührung -, den schwarzlackierten Volkswagen (ebenfalls zum Aufziehen), das Sägebrettchen aus der Laubsägegarnitur. Schwieriger war es allerdings mit den Keksen, den Schokoladenkringeln und den braunen Marzipankugeln. Eine unbequeme, krümelige, klebrige, staksige, harte, hier und da immer weicher werdende Nachbarschaft in den Weihnachtsnächten, bevor der Alltag wieder begann.

Aber es mußte sein. Offenbar war die Angst, es könnte am nächsten Morgen etwas fehlen, zu groß. Immer diese Angst, es könnte einem etwas weggenommen werden; man lernt das Festhalten und Bewachen, und offenbar gibt es im Innern ein tiefes Mißtrauen ... selbst bei verschlossenen Türen.

 
  Klaus Seiler und seine Schwester 1950 im Barackenlager bei Hannover.
   
  (Aus "Barackenkinder" von Klaus Seiler. Das Buch ist im Zeitgut Verlag in der "Sammlung der Zeitzeugen" erschienen.)
   
   
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  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

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