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Kurz
vor Weihnachten gibt es die unverzichtbare Reise mit der Eisenbahn
nach Hameln. Tante Friedel, Vaters Schwester, und mein Vater
kennen dort einen schlesischen Schlachter. Nur der hat die
richtigen Schinkenwürstchen für den Heiligen Abend. Kein Weg ist
zu weit, keine Mühe, kein Umstand zu groß, um für das
Weihnachtsessen einzukaufen. Am Abend kommt Vater mit einer
vollgepackten Tasche nach Hause. Der Duft der geräucherten Würstchen
zieht in die Wohnung ein; das Wasser läuft uns im Mund zusammen.
Heiliger
Abend: Wir gehen auf der Landstraße ins Dorf, dick eingepackt
gegen die Eiseskälte. Die Kirche mitten im Ort ist unser Ziel.
Wir kommen zum Weihnachtsgottesdienst immer zu spät. Wir haben
wohl auch den weitesten Weg. Auf der Orgelempore gibt es nur den
Stehplatz, Jahr für Jahr. Wir Kinder sehen fast nichts von der
weihnachtlichen Kirche. In Augenhöhe nur Wintermäntel,
abgewetzte Pelze, grüne Joppen und verdrehte Gürtel. Der Geruch
von Mottenkugeln steigt uns in die Nase. Umfallen kann man bei der
Enge nicht, höchstens ersticken. Den Pastor können wir nur hören,
eine dröhnend-singende Stimme. Ob er das Flüchtlingslager kennt?
Die tiefen Töne der Orgel schlagen auf den Darm, jedesmal. Ich
habe richtig Angst vor der Orgel: Dann beginnt das fürchterliche
Poltern im Inneren ... Doch endlich - nach "O du fröhliche"
- öffnen sich wieder die Kirchentüren; wir werden nach draußen
gedrückt, gequetscht, müssen uns - wie benommen - auf dem
dunklen Platz vor der Kirche erst suchen. Aber hier: diese
wunderbare, frische, eisige Luft. Wir werden wieder lebendig.
In den Häusern an der Straße sehen wir durch die Fenster
brennende Kerzen an den Tannenbäumen; Kinder, Erwachsene huschen
im Kerzenlicht durch die Räume. Zeit der Bescherung in vielen
Familien des Dorfes.
Der Weg zurück ins Lager - auf der menschenleeren Landstraße -
hat einen Zauber. "Markt und Straßen steh'n verlassen"
- ich kenne dieses Lied schon aus ganz frühen Jahren. Ich
verbinde es mit diesem Weg.
Es ist ganz still hier draußen. Nur unsere Schritte auf dem
Asphalt sind zu hören, mehr nicht. Wir reden fast nicht, gehen
auch nicht schnell, wir sind diesmal nicht in Eile ...
In der Ferne am Hang die Lichter von Lüdersen.
Diese Stunde Fußmarsch durch die kalte Nacht zwischen dem Dorf
und dem Lager ist mir unvergeßlich. Die Stille, die Weite, der
gefrorene, von Reif oder Schnee bedeckte Acker ringsum, der
Himmel, die eisige, klare Luft, die Einsamkeit, das gemeinsame
Gehen. Zu diesem Weg durch die Dunkelheit gehören die Sterne. Die
Sterne sind in diesen Frostnächten zum Greifen nah. Ihre
Klarheit, das ferne Blinken - als blinzelten sie uns zu. Unter dem
Sternenzelt gibt es Geborgenheit. Die Sterne nehmen die Angst, die
Sterne machen ruhig und froh. Sie sind wie freundliche Augen. Wir
sind nicht allein. Ich könnte heulen. Weihnachten und das
Sternenzelt gehören zusammen!
Mich
haben später auf dem fast menschenleeren Schulweg im Dunkeln
durch die Trümmerfelder von Hannover-Linden bis zum Waterlooplatz
- vorbei an dem riesigen Trümmerplatz, der später das
Niedersachsen-Stadion wurde -oft die Sterne getröstet. Ich war
ganz sicher: Wenn sie mir zublinken, bin ich nicht allein; dann
kann mir nichts passieren.
Das Weihnachtsessen ist vorbereitet, die Kartoffeln für den Brei
- bei uns heißen sie Stampfkartoffeln, sie werden ja auch richtig
gestampft - sind bereits geschält. Die Schinkenwürstchen gleiten
ins kochende Wasser. Nach kurzer Zeit dampft es aus allen Töpfen;
ein betörender Duft kommt zusammen: das Sauerkraut aus eigener
Tonne (wie oft haben wir die ausgediente, hölzerne Fischtonne mit
kochendem Wasser ausgeschrubbt!), die Kartoffeln, die Buttersoße,
die einmaligen Hamelner Würstchen. Die Fenster beschlagen, doch
wir lassen die Luft und den Duft nicht entweichen. Ein Festmahl!
Wir beten. Wir füllen die Teller, bauen Burgen, bilden kleine
Seen und Flußläufe aus brauner Buttersoße. Wir genießen. Es muß
so etwas wie Heimat sein - mitten in der Fremde. Wie der Himmel.
Das ist Weihnachten. Zur schlesischen Weihnacht gehören
unverzichtbar Mohnklöße um Mitternacht.
Für sie und für den Mohnkuchen mit Streuseln oder den gerollten
Mohnstrietzel für die Sonntagnachmittage gab es das große
Mohnbeet im Garten mit den leuchtenden violett-weißen Blüten.
Aus den aufgeschnittenen Kapseln, immer schon vor der Reife
geerntet, um den gefräßigen Spatzen zuvorzukommen und
sicherheitshalber im Schuppen getrocknet, rieseln die unzähligen
blauen Körner in die Schüssel. Die Kapseln lassen sich, hat man
die Krone glatt abgeschnitten, richtig ausgießen. Der Mohn landet
in einem weißen Säckchen, das - vor Mäusen sicher - aufgehängt
wird. Manche Kapsel lassen wir genußvoll in den Mund rieseln. Wie
das wohl wirkt?
Mohn macht dumm, heißt es allerdings immer wieder warnend. Den
Mohn mahlt Bäcker Bänsch im Dorf; er - der schlesische Bäcker -
hat eine Mohnmühle, ein echter Landsmann! Das Mahlen muß man
nicht bezahlen.
Die
Mohnklöße: Weißbrotscheiben, in heißer Milch gequollener Mohn,
der mit Rosinen, Mandelöl und weiteren Zutaten aus winzigen Fläschchen
veredelt wird - alles schwer und triefend in eine Jenaer Glasform
gepreßt. Sie müssen unter einem Tuch wohl stunden- oder gar
tagelang ziehen. Hilfe, mir entgleitet das Rezept!
Die Mohnklöße plumpsen ins Innere zu allen schon vorhandenen
Wohltaten des Weihnachtsabends und liegen wie Steine im Magen. Sie
lassen die Weihnachtsnacht zur unruhigen Nacht werden. Aber sie müssen
sein ... Weihnachten ohne Mohnklöße gibt es nicht.
Die
Nacht wird auch sonst unbequem. Ich nehme alle Geschenke mit ins
Bett, lege sie - fühlbar - an den Rand des Kopfkissens, stecke
sie unter die Bettdecke: das Holzauto aus der schwedischen
Spielzeugspende, das Kamel mit seinen langen, motorbetriebenen
Beinen - ein Geschenk unseres Erfinder-Onkels Georg, dem Bruder
meiner Mutter; auch wenn es auf seinen Stelzenbeinen nicht laufen
konnte, sondern schon beim ersten Schritt das Gleichgewicht
verlor, brachte es uns doch mit einer fernen, fremden Welt in Berührung
-, den schwarzlackierten Volkswagen (ebenfalls zum Aufziehen), das
Sägebrettchen aus der Laubsägegarnitur. Schwieriger war es
allerdings mit den Keksen, den Schokoladenkringeln und den braunen
Marzipankugeln. Eine unbequeme, krümelige, klebrige, staksige,
harte, hier und da immer weicher werdende Nachbarschaft in den
Weihnachtsnächten, bevor der Alltag wieder begann.
Aber
es mußte sein. Offenbar war die Angst, es könnte am nächsten
Morgen etwas fehlen, zu groß. Immer diese Angst, es könnte einem
etwas weggenommen werden; man lernt das Festhalten und Bewachen,
und offenbar gibt es im Innern ein tiefes Mißtrauen ... selbst
bei verschlossenen Türen.
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