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Mühlhausen, Thüringen – Halle-Neustadt und
Klostermansfeld, Sachsen-Anhalt;
1959–1999
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Birgit Schaube
Eine späte Puppenliebe
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Meine Erinnerung an diese Geschichte geht zurück
bis Weihnachten 1959. Damals war ich gerade mal fünf Jahre alt.
Als drittes Kind von fürsorglichen Eltern mittleren Alters, die
im Jahre 1940 geheiratet hatten und während des Krieges zwei
kleine Kinder durchbringen mußten, nämlich meine beiden zehn und
zwölf Jahre älteren Geschwister, war ich das Nesthäkchen der
Familie. An Geschenke wie Brummkreisel, ein kleines Räder-Holzpferd,
Puppenbett mit Babypuppe, Puppenhaus oder Schaukelpferd denke ich
mit Freude, aber auch mit Wehmut zurück. Bis auf meine Puppen
existieren diese Dinge leider nur noch in meiner Erinnerung. Nicht
mal ein Foto gibt es von ihnen.
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Mein Vater und ich,
damals fünf Jahre alt, in Vatis Büro.
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Zu jenem
Weihnachtsfest bekam ich eine etwa vierzig Zentimeter große "Dreigesichterpuppe" geschenkt, die zu dieser Zeit eine
Besonderheit darstellte. Davon gab es nur wenige Exemplare, denn
die Produktion wurde, aus welchen Gründen auch immer, wieder
eingestellt. Ich glaube, es lag
wohl daran, daß diese Puppe durch den drehbaren Kopf mit "Knuppel" nicht so perfekt von
Puppenmuttis angezogen werden
konnte und auch nicht so toll aussah, obgleich ein angenähtes Häubchen
mit einem kleinen Haarbüschel die restlichen zwei Gesichter und
den besagten Griff verdeckte. Mich störte das. Meine Freundinnen
allerdings bedauerten, keine solche Puppe zu besitzen. Der ständige
Wechsel zwischen lachendem, weinendem und schlafendem Gesicht war
schon etwas Besonderes. Trotzdem, ein angezogener Teddy, den ich füttern
und windeln konnte, gefiel mir einfach besser. Somit wurde dieses
Puppenkind von mir ziemlich vernachlässigt. Dennoch wünschte ich
mir mit zwölf Jahren nochmals zu Weihnachten eine Puppe, die ich
in einem Schaufenster sitzen sah und dann auch bekam.
1976 zog ich
mit meiner jungen Familie nach Halle-Neustadt. Als meine eigenen
Kinder im entsprechenden Alter waren, drängte mir meine Mutti
einige Wochen vor Weihnachten meine drei noch erhaltenen Puppen
mehr oder weniger auf, obgleich ich der Meinung war, es gäbe doch
nun, Anfang der 80er Jahre, bessere Spielsachen.
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Unter
den zahlreichen Exemplaren meiner Puppensammlung ist die "Dreigesichterpuppe" Monika, hier mit Schlafgesicht, meine älteste
und zugleich schönste Puppe.
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Mein zehnjähriger
Sohn setzte meine "Dreigesichterpuppe" neben unzähligen
modernen Gesellen auf seine Bettecke. An ihr hatte mittlerweile
schon der Zahn der Zeit genagt. Der Stoffkörper war an einigen
Stellen gerissen und der Kopf hing auch etwas locker in die eine
oder andere Richtung. Ihre Originalkleidung trug die Puppe schon
lange nicht mehr. Trotzdem liebte mein Sohn sie irgendwie. Sie war
eben immer da. Abends, wenn er sein Bett abdeckte, fand die Puppe
ihre nächtliche Ruhe auf dem Teppichboden. Dieses Ritual spielte
sich etwa drei Jahre so ab, bis eines Morgens aus heiterem Himmel
aus seinem Bücherregal ein Stapel unordentlich weggeräumter Bücher
zu Boden fiel und genau den Puppenkopf traf. Die Vorderansicht aus
Pappmaché war total zertrümmert. Ausgerechnet die lachende
Seite! Das war wohl Ironie des Schicksals.
Ich kann nicht
in Worte fassen, was ich damals empfand. Als 35jährige Frau
kniete ich todunglücklich vor meinem "häßlichen Entlein"
und weinte bitterlich. Dutzende kleine Teilchen bedeckten den
Boden. Die etwas größeren versuchte ich wie ein Puzzle
zusammenzukleben, aber es war unmöglich, zu zerbröselt war das
Material. Die Kopfform war beim besten Willen nicht
wiederherzustellen. Die Reste sammelte ich in ein Tütchen. War
das die Strafe dafür, daß ich als Kind diese Puppe so verschmäht
hatte?
Jahre
vergingen. Mein Mann hatte sich nach der Wende selbstständig
gemacht, und wir zogen aus diesem Grund nach Klostermansfeld, ein
kleines unscheinbares Dorf im Mansfelder Land in der Nähe der
Stadt Eisleben, in der Martin Luther geboren wurde.
Im Dezember
1998 sah ich durch Zufall im Fernsehen eine Reportage über eine
Frau in der Nähe von Gotha, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hat,
nämlich Puppen anzufertigen und armselige, verschlissene
Puppengeschöpfe zu restaurieren. Zunächst nahm ich telefonisch
Kontakt mit ihr auf, und einige Monate später fuhr ich mit meinen
Puppen – die anderen zwei nahm ich auch gleich mit – zu ihr.
Dort sah ich in unzählige Puppengesichter, manche schon
repariert, andere noch kaputt und wieder andere ohne dazugehörigen
Körper. Es war schon ein rührender Anblick.
Ich glaubte an
kein Wunder, Hauptsache einen Kopf, der Gesichtsausdruck war mir
egal. Die Frau Puppendoktor allerdings sah in meiner Bitte nichts
Außergewöhnliches. In liebevoller, wochenlanger Kleinarbeit
verlieh sie meiner Puppe, die übrigens bis zu diesem Zeitpunkt
nicht mal einen Namen hatte, ein originalgetreues Aussehen.
Am 2. Dezember
1999, wieder einige Wochen vor Weihnachten, erhielt ich die Puppe
zurück. Fast genau 40 Jahre nach unserer ersten Bekanntschaft.
Diesmal empfing ich sie mit großer Freude. Sie trug nun ein hübsches,
weißes Taufkleid mit Häubchen. Ich nannte sie "Monika",
dieser Name hatte mir schon als Kind gefallen. Ich entwickelte
eine tiefe Liebe für die Puppe. Warum ich sie erst jetzt in mein
Herz schloß, kann ich nicht sagen.
1995 begann
ich, Puppen zu sammeln. Im Sommer 2002 zog ich samt meinen
Puppenkindern zurück in meine Heimatstadt Mühlhausen, wo meine
Geschichte 1959 ihren Anfang genommen hatte. Ich bin sehr froh und
glücklich, im Herzen Kind geblieben zu sein.
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Aus:
"Unvergessene Weihnachten", Reihe ZEITGUT,
Band 3. |
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