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Hunger! Ja, er
tut weh! – Wir hatten ihn kennengelernt im Winter 1946/47 als Ostflüchtlinge
im bombenzerstörten Magdeburg. Wir, das waren wir fünf Geschwister im Alter
von 11 bis 18 Jahren und unsere Mutter. Nein, eigentlich wir fünf alleine, denn
unserer Mutter hatte all das Leid des Krieges das Gemüt krank gemacht. Auch die
Kälte dieses Winters war schrecklich gewesen: eisige Temperaturen noch bis in
den März hinein, dabei kaum etwas zum Heizen, Stromsperren. Die Kälte hat es
leicht, in einen Hungrigen hineinzukriechen. – Also, solch einen Winter
wollten wir nicht noch einmal erleben.
Wir stoppelten, soweit es unsere Schulzeit erlaubte, im Sommer 1947 alles, was
wir auf den Feldern finden konnten. Das große Los aber zog unser ältester
Bruder: Ernteeinsatz bei Bauer Arendt in Eilsleben in der Börde. Satt und
richtig rund kam er nach Hause zurück, und das Beste für uns alle: Zu
Weihnachten sollte er noch ein besonderes "Deputat" für die ganze Familie
bekommen. Dieses Wort hatte ich noch nie gehört, aber seitdem nicht vergessen.
Wir fünf
Geschwister mit unserer Mutter 1948 in Magdeburg. Ich bin das Mädchen mit dem
Haarkranz.
Es war zwei Tage vor Weihnachten. Ich war dazu auserkoren worden, das
Deputat in Eilsleben abzuholen. Die rührende Bäuerin packte meinen Rucksack
voll: Kartoffeln, selbstausgepreßtes Rapsöl, eine Blut- und eine Leberwurst,
Streuselkuchen – ich weiß es noch genau – und als Clou eine Gans, eine
Weihnachtsgans für unsere Familie. "Komm, da hast du noch einen Rotkohl, der
gehört doch zu einem Gänsebraten dazu!"
Ich war selig.
"Vielleicht sollte ich dir zur Sicherheit eine Deputatsbescheinigung
mitgeben."
"Wozu das?"
"Sicher ist sicher", meinte sie.
Der Zug zurück nach Magdeburg war voll. Die Menschen standen dichtgedrängt,
auch auf den Trittbrettern, fast alle mit Rucksäcken. Viele hatten versucht, für
Weihnachten noch irgendeine Habseligkeit gegen etwas Eßbares auf dem Land
einzutauschen.
Beim Halt in
Wanzleben hörten wir plötzlich laute Rufe:
"Alle aussteigen! R a z z i a !"
Blauuniformierte Volkspolizisten trieben uns als Kolonne in den Wartesaal. Die Tür
wurde hinter uns abgeschlossen, die Fenster waren nicht zu öffnen.
Unheimliche Stille zunächst. Keiner empörte sich. Die Menschen waren durch
Krieg und Nachkriegszeit Unbilden, auch Schikanen gewohnt. Rechts hinten wurde
eine Tür zu einem Nebenraum geöffnet, die zwei ersten von uns hineinbeordert,
nach einer Weile die nächsten und so fort. Allmählich sickerte durch: "Sie
nehmen uns alles!"
Was dann begann? Kein Aufschrei, keine Empörung: Warum? Was machen sie mit
unseren Sachen?
Es begann – das große Fressen. Würste, Speck, auch einfach trockenes Brot,
alles wurde hineingestopft. Wenigstens sich selbst einmal sattessen, bevor sie
uns alles wegnehmen. Eingeprägt hat sich mir besonders das Bild, wie zwei Männer
aus einer großen Blechdose Salzheringe, immer einen nach dem anderen, am
Schwanz ergriffen und kopfunter in ihrem Mund verschwinden ließen. Salzheringe,
wie sie früher waren, in richtiger Salzlake!
Und ich? Ich hockte einfach todunglücklich in einer Ecke. Zu essen von meinen Köstlichkeiten,
das bekam ich nicht fertig. Die Deputatsbescheinigung, ach, ich hoffte noch
immer. Natürlich habe ich auch gebetet, ich war ein gläubiges Kind.
Der Saal leerte sich. Ich meine, ich wäre überhaupt die letzte gewesen, die in
den Nebenraum befohlen wurde, zusammen mit einem Mann, mit Rucksack natürlich
wie ich. An drei Vopos erinnere ich mich, einen für jeden "Delinquenten"
und eine Polizistin, am Tisch sitzend, die die abgenommenen Gegenstände
registrierte. Andere Uniformierte gingen hin und her, um die beschlagnahmten
Weihnachtsmitbringsel abzutransportieren. Ich zeigte meine Bescheinigung und
versuchte zu erklären. Aber "mein" Polizist hörte irgendwie nicht richtig
zu. Jetzt merkte ich: Er schaut zu seinem Kollegen und zu meinem "Mitgefangenen". Dort war ein Handgemenge entstanden. Der Rucksack des
Mannes war ganz mit Zucker gefüllt. Natürlich sollte er ihn hergeben, aber er
wehrte sich, überkreuzte die Arme, der Vopo konnte die Träger nicht
abstreifen. Blitzschnell eilte mein Kontrolleur zu Hilfe. Zu zweit schafften sie
es, den sich Wehrenden auf den Boden zu werfen, seine Arme auseinanderzudrücken,
einer kniete sich auf seine Handgelenke ...
Das alles ging über meine Gemütskräfte. Die Tränen flossen, ich weinte
bitterlich. – Und da?
Die Polizistin gab mir einen Wink, ich sollte den Raum verlassen – nicht in
Richtung Wartesaal, nein, nach draußen! Den Rucksack hatte ich noch auf dem Rücken.
Ich war die einzige, die bei dieser Massenrazzia all ihr Schätze behalten
konnte.
Der Schluß ist schnell erzählt. Unser Zug war natürlich längst weg, auch
kein anderer fuhr mehr an diesem Tag nach Magdeburg. Aber vom nächsten Ort,
Blumenberg, fünf Kilometer entfernt, würde noch einer fahren. So schritt ich
mit schwerem Rucksack, aber leichtem Herzen im Stockdunklen den Bahndamm entlang
und erreichte am späten Abend noch meine Geschwister, die sich bereits Sorgen
gemacht hatten.
Natürlich wurde es ein köstliches Weihnachtsessen: Gänsebraten mit Rotkohl
und richtigen Schälkartoffeln!
Ein wenig getrübt wurde der Genuß nur dadurch, daß unsere Mutter gequält
wurde von dem Gedanken, was die anderen hungernden Flüchtlinge im Haus wohl von
uns denken würden, wenn sie den Bratenduft riechen. Aber wo gibt es auf der
Welt vollkommenes Glück?
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