Weihnachtsmarkt - Christkindelmarkt - marché de Noël - Nikolausmarkt

 

Hier klicken!

 

 

  Kürten, Nordrhein-Westfalen
etwa 1956
  Günther Paffrath
Der Weihnachtsbaumdieb

Am 6. Oktober feierten wir das Erntedankfest. Bis dahin war ich kein sehr eifriger Kirchgänger, wobei ich unter "eifrig" ohnehin größere zeitliche Intervalle des Kirchenbesuchs verstehe. Doch zu diesem besonderen Anlaß war es für mich als Jungbauer ein inneres Bedürfnis, dem Schöpfer für Milch und Eier, Korn und Kartoffeln zu danken.

An diesem Tag wurde in unserer Kirche der neue Pfarrer eingeführt. Da ich in der zweiten Reihe, unmittelbar hinter seiner Familie, saß, konnte ich das feierliche Geschehen aus nächster Nähe beobachten. Kirchenbesucher, Presbyter und Amtsbrüder des neuen Pastors blickten mit ernsten Gesichtern drein. Ganz anders jedoch der neue Pfarrer. Er erschien mir quirlig und fröhlich, sein rotblondes Kraushaar wippte bei jeder Bewegung. Neben ihm saß in betont aufrechter Haltung seine dunkelhaarige Frau, daneben die Tochter mit dem in unserer Region seltenen Namen Rahel. Und genau hinter dieser saß ich. Was mir an der etwa Achtzehnjährigen auffiel, war ihr wunderschönes, schwarzes, kräftiges Haar, das, zu einem langen Zopf geflochten, über ihr dunkelblaues Samtkleid herabhing. Ich konnte den Blick von dieser Haarpracht einfach nicht wenden.
Als wenig später der Organist unvermittelt die ersten Musiktöne in voller Kraft erklingen ließ, wendete sich der prächtige Haarkopf in Richtung Orgel. Für einen Moment vergaß ich fast zu atmen und starrte auf dieses feine Profil, einer marmornen Göttin gleichend.

Die dunkelblauen Augen, langbewimpert unter schwarzen Brauen, sahen an mir vorbei hinauf zur Orgel. Wenn sie mich angeschaut hätten, ich glaube, ich wäre überrot geworden. Ihr Blick streifte mich jedoch nicht einmal. Dennoch hatte mich die Schönheit des Mädchens innerhalb weniger Sekunden in ihren Bann gezogen. Rahel!

In der Folgezeit sprach ich den Namen der Angebeteten oft leise vor mich hin. Wie gut konnte ich Jakob verstehen, der für seine Rahel sieben Jahre umsonst gearbeitet hatte. Ich würde mindestens sieben mal sieben Jahre für meine Rahel arbeiten.
Vorerst begann ich, meine Lebensgewohnheiten zu ändern. Anstatt dreimal im Jahr ging ich fortan jeden Sonntag zur Kirche, hoffend, hinter dem schwarzen Zopf, hinter der märchenhaften Lichtgestalt sitzen zu dürfen.

Meinen Eltern entging diese wundersame Wandlung nicht. Wahrscheinlich fragten sie sich, welches Schlüsselerlebnis mich wohl der Kirche so nahegebracht haben könnte.
Meine Verhaltensänderung beschränkte sich nicht auf den eifrigen Kirchenbesuch. Auch meine Umgangsformen wurden andere, und ich legte größeren Wert auf meine Garderobe sowie auf gerade Körperhaltung und auf meinen Gang, der gravitätischer wurde.

Dennoch dauerte es bis in den November hinein, ehe ich es wagte, Rahel nach dem Gottesdienst auf dem Kirchvorplatz anzusprechen. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß die Witterung sehr unfreundlich sei, was sie bestätigte. Sie bot mir an, mich unter ihren Schirm, einen kleinen, lilageblümten, zu stellen. Dieser schützte zwar ihr schönes Haupt vor dem Regen, mich jedoch benutzte er mehr als Regenrinne. Dennoch war es für mich der herrlichste Augenblick meines jungen Lebens. Ich genoß förmlich jeden Tropfen, der von ihrem Schirm auf meinen Nacken floß.

In eine freundlich-lockere Unterhaltung vertieft, schritten wir die wenigen Meter bis zum Pfarrhaus, wo ich mich von ihr verabschiedete. In ihren dunkelblauen Augen sah ich ein kurzes Aufleuchten, als ich die Hoffnung äußerte, es möge doch am nächsten Sonntag aus dem Sonn- ein Regentag werden, der es mir erlaube, mich wieder unter ihren Schirm stellen zu dürfen.
Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung, der folgende Sonntag war ein strahlender Novembertag. Nach dem Gottesdienst trat ich wieder zu Rahel und wies darauf hin, daß heute ein besonders schöner Tag sei, was sie ebenso fand. Diesmal führten wir ein etwas längeres Gespräch. Mit Freude stellte ich eine harmonische Übereinstimmung zwischen ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrem Wesen fest. Jetzt nahm mein Bestreben, ihr möglichst nahe zu sein, neue Dimensionen an.

Nachdem ich bereits Mitte November dem Kirchenchor beigetreten war, schloß ich mich Anfang Dezember einem Bibelkreis und einer kirchlichen Jugendgruppe an. Alle diese Bemühungen zielten darauf hin, nicht nur vor Rahel, sondern auch vor ihren Eltern zu bestehen, die möglicherweise Vorbehalte gegen einen freundschaftlichen Umgang ihrer Tochter mit einem Jungbauern haben könnten. Insgesamt war ich in einer sehr glücklichen Stimmung, die sich auch von der immer winterlicher werdenden Witterung nicht beeinträchtigen ließ. Der Winter nahte indessen mit Schneeregen und Reif.

Ende November verhandelten mein Vater und ich mit mehreren Weihnachtsbaumaufkäufern. Wir hatten vor einigen Jahren eine große Waldwiese mit jungen Fichten bepflanzt, die in diesem Jahr Weihnachtsbaumgröße erreicht hatten und verkauft werden konnten. Anfang Dezember begann also die "Waldernte". Der Ertrag für zahlreiche harte Arbeitsstunden sollte nun zu unserem Wohl in bare Münze umgewandelt werden. Mitte Dezember war die Aktion abgeschlossen. Nur vereinzelt erschienen noch private Käufer, um ihren Weihnachtsbaum direkt bei uns, dem Erzeuger, zu erwerben. Wir waren somit in jenen Tagen häufig draußen in der Fichtenparzelle. Dabei fiel uns auf, daß immer wieder Bäume fehlten, also Diebe am Werk gewesen sein mußten. Meistens an Stellen, wo ohnehin schon Bestandslücken waren. Offenbar hatte man sich daran erinnert, daß es sich in unserem Wald leicht klauen und unter einem gestohlenen Weihnachtsbaum gut singen ließ. Da wir uns nur ungern die Früchte unserer Arbeit fortnehmen und der Willkür in unserem Wald freie Bahn lassen wollten, patrouillierten wir regelmäßig um unseren Baumbestand.

Eines Abends, es schneite leicht, war ich wieder auf der Pirsch. Bald wurden die Flocken dichter und dichter.
"Bei Schnee wird es einfacher sein, eine Spur zu verfolgen", dachte ich mir und malte mir aus, wie ich einen Dieb mit harschen Worten anhalten und zur Rede stellen würde. Es tat mir gut, meinem Zorn über die Baumklauer in leisen Selbstgesprächen freien Lauf zu lassen.

Da plötzlich sah ich etwa hundertfünfzig Schritte unterhalb von meinem Standort eine Gestalt in dunkelgrünem, inzwischen schneebesprühtem Loden aus unserer Parzelle treten. Eine spitze Kapuze, ebenfalls schon schneeüberzuckert, ließ den Menschen wie einen Riesenwichtel erscheinen. Mühsam schleppte er zwei Weihnachtsbäume mit sich den Berg hinan. Ich stieß einen Ruf aus und begann, den Hang hinabzurutschen. Der Kapuzen-Mensch schien mich gesehen zu haben, denn er schlug eilig einen schmaleren Nebenweg ein. Als ich parierte, änderte er die Richtung, dennoch kam ich ihm immer näher. Schließlich war ich nur noch wenige Meter hinter ihm.

Er hatte an Geschwindigkeit zugelegt und mußte sich gehörig anstrengen, denn die Weihnachtsbäume ließen sich gewiß nicht leicht ziehen. Obgleich er wissen mußte, daß ich direkt hinter ihm war, hielt er nicht an. Da ich wegen der Enge des Weges und der Breite der beiden Bäume nicht an ihm vorbei konnte, rief ich laut: "Hallo!"
Dann noch einmal: "He, hallo!"
Der Dieb blieb stehen, drehte sich um, und ich erstarrte. Unter der schneebedeckten Zipfelmütze schauten rotblonde Locken und darunter das Gesicht unseres neuen Pfarrers hervor!
Ich geriet in große Verlegenheit, hatte ich doch den Vater meiner Angebeteten beim Weihnachtsbaumklau gestellt. Der Pfarrer mochte die "Baumentnahme" vielleicht als Kavaliersdelikt ansehen, möglicherweise hatte er sich auch gar nichts dabei gedacht. Für mich aber würde es das Ende meiner großen Liebe bedeuten, fände ich jetzt nicht die richtigen Worte. Ich begann das Gespräch mit der überflüssigen Frage: "Haben Sie Weihnachtsbäume geholt?"
"Das habe ich, junger Freund. Aber – wo bin ich bloß hier? Ich habe wohl den rechten Weg verfehlt!"
Im Innern bestätigte ich letztere doppeldeutige Feststellung, stieß indessen, heiser vor Erregung, lediglich hervor: "Woher haben Sie die Bäume?"
"Die habe ich vom Schöpfer erstanden, einen für mich und einen für das Gemeindehaus. Aber weshalb fragst du, mein Sohn?"
Seine ruhige, freundliche Art und die Formulierung "mein Sohn" verwirrten mich ziemlich, darum fragte ich erneut: "Bei wem kann man solche schönen Bäume erwerben?"
"Bei Gott, in Gottes freier Natur", wiederholte er.
Seine Unbefangenheit irritierte mich.
"Weshalb fragst du so eindringlich?", wollte der Pfarrer wissen. "Und warum bist du mir so auffällig gefolgt? Ich habe dich schon eine Weile hinter mir gespürt. Gelt, du bist doch der fleißige Kirchgänger, der mir schon immer aufgefallen ist und von dem meine Tochter Rahel manchmal spricht?"
Bevor ich, nach den passenden Worten suchend, etwas erwidern konnte, beantwortete er seine Frage selbst: "Laß mich raten, junger Freund. Du willst sicher auch einen Baum haben, und weil ich gleich zwei besitze, denkst du, ich könnte dir getrost einen abgeben, so wie das der Martin mit seinem Mantelteil getan und wie es unser Heiland gepredigt hat. Es sei drum so, wie du es dir wünschst. Du kriegst den rechten hier. Es ist der größere Baum, ihn hatte ich fürs Gemeindehaus ausgewählt."

Einen Augenblick sah er mich schweigend an, dann fügte er hinzu: "Sicher bist du damit einverstanden, wenn ich dich bitte, mir für diesen schönen Baum, den ich eigenhändig gefällt und bis hierher geschleppt habe, zehn Mark zu zahlen. Der Küster kann dann einen Ersatzbaum kaufen."

Ich war drauf und dran, ihm die Meinung zu sagen: Der Baum würde aus unserem Wald stammen, er könne doch nicht verlangen, daß ich meinen eigenen Baum kaufe und ihm den zweiten kostenfrei überlasse! Und daß ich es nicht gutheißen würde, wenn er sich in einem fremden Wald einfach bediene ...
Jedoch war ich viel zu verwirrt, um klare Worte zu finden, verschüchtert stieß ich lediglich hervor, ich wisse nicht, ob ich genug Geld bei mir hätte.

Ich kramte nach meiner Geldbörse, fand sie auch in einer meiner zahlreichen Jackentaschen und bezahlte tatsächlich meinen eigenen Baum.

Den Dieb ließ ich unbehelligt von dannen ziehen. Allerdings nahm ich mir insgeheim vor, zur Strafe den Gottesdienst mindestens drei Wochen lang nicht zu besuchen.
So geschehen an einem Freitag.
Am darauffolgenden Sonntag saß ich wieder brav hinter Rahels langem, schwarzem Zopf.

   
  Aus: "Halbstark und tüchtig", Reihe ZEITGUT, Band 17.
   
   
  Das könnte Sie interessieren:
   
Schlüssel-Kinder ( Schlüsselkinder). Kindheit in Deutschland 1950 - 1960. Barackenkind Ich komm ich weiss nit woher
Schlüssel-Kinder  Barackenkind Ich komm ich weiss nit woher
   
 

 
  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

Weihnachtsmärkte - Christkindelmärkte - Nikolausmärkte - marchés de Noel

 

[Rund um's Puppenleben][Sammlertermine][Dies & Das][Spiel & Spass][Lieder & Songs][Sonstiges][Gästebuch][Site-Search][Kontakt][Impressum]
© 2000-2007 - www.meine-kleine-puppenwelt.de - www.schwambach.de