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Am
6. Oktober feierten wir das Erntedankfest. Bis dahin war ich kein
sehr eifriger Kirchgänger, wobei ich unter "eifrig" ohnehin
größere zeitliche Intervalle des Kirchenbesuchs verstehe. Doch
zu diesem besonderen Anlaß war es für mich als Jungbauer ein
inneres Bedürfnis, dem Schöpfer für Milch und Eier, Korn und
Kartoffeln zu danken.
An diesem Tag wurde in unserer Kirche der neue Pfarrer eingeführt.
Da ich in der zweiten Reihe, unmittelbar hinter seiner Familie, saß,
konnte ich das feierliche Geschehen aus nächster Nähe
beobachten. Kirchenbesucher, Presbyter und Amtsbrüder des neuen
Pastors blickten mit ernsten Gesichtern drein. Ganz anders jedoch
der neue Pfarrer. Er erschien mir quirlig und fröhlich, sein
rotblondes Kraushaar wippte bei jeder Bewegung. Neben ihm saß in
betont aufrechter Haltung seine dunkelhaarige Frau, daneben die
Tochter mit dem in unserer Region seltenen Namen Rahel. Und genau
hinter dieser saß ich. Was mir an der etwa Achtzehnjährigen
auffiel, war ihr wunderschönes, schwarzes, kräftiges Haar, das,
zu einem langen Zopf geflochten, über ihr dunkelblaues Samtkleid
herabhing. Ich konnte den Blick von dieser Haarpracht einfach
nicht wenden.
Als wenig später der Organist unvermittelt die ersten Musiktöne
in voller Kraft erklingen ließ, wendete sich der prächtige
Haarkopf in Richtung Orgel. Für einen Moment vergaß ich fast zu
atmen und starrte auf dieses feine Profil, einer marmornen Göttin
gleichend.
Die dunkelblauen Augen, langbewimpert unter schwarzen Brauen,
sahen an mir vorbei hinauf zur Orgel. Wenn sie mich angeschaut hätten,
ich glaube, ich wäre überrot geworden. Ihr Blick streifte mich
jedoch nicht einmal. Dennoch hatte mich die Schönheit des Mädchens
innerhalb weniger Sekunden in ihren Bann gezogen. Rahel!
In der Folgezeit sprach ich den Namen der Angebeteten oft leise
vor mich hin. Wie gut konnte ich Jakob verstehen, der für seine
Rahel sieben Jahre umsonst gearbeitet hatte. Ich würde mindestens
sieben mal sieben Jahre für meine Rahel arbeiten.
Vorerst begann ich, meine Lebensgewohnheiten zu ändern. Anstatt
dreimal im Jahr ging ich fortan jeden Sonntag zur Kirche, hoffend,
hinter dem schwarzen Zopf, hinter der märchenhaften Lichtgestalt
sitzen zu dürfen.
Meinen Eltern entging diese wundersame Wandlung nicht.
Wahrscheinlich fragten sie sich, welches Schlüsselerlebnis mich
wohl der Kirche so nahegebracht haben könnte.
Meine Verhaltensänderung beschränkte sich nicht auf den eifrigen
Kirchenbesuch. Auch meine Umgangsformen wurden andere, und ich
legte größeren Wert auf meine Garderobe sowie auf gerade Körperhaltung
und auf meinen Gang, der gravitätischer wurde.
Dennoch dauerte es bis in den November hinein, ehe ich es wagte,
Rahel nach dem Gottesdienst auf dem Kirchvorplatz anzusprechen.
Ich machte sie darauf aufmerksam, daß die Witterung sehr
unfreundlich sei, was sie bestätigte. Sie bot mir an, mich unter
ihren Schirm, einen kleinen, lilageblümten, zu stellen. Dieser
schützte zwar ihr schönes Haupt vor dem Regen, mich jedoch
benutzte er mehr als Regenrinne. Dennoch war es für mich der
herrlichste Augenblick meines jungen Lebens. Ich genoß förmlich
jeden Tropfen, der von ihrem Schirm auf meinen Nacken floß.
In eine freundlich-lockere Unterhaltung vertieft, schritten wir
die wenigen Meter bis zum Pfarrhaus, wo ich mich von ihr
verabschiedete. In ihren dunkelblauen Augen sah ich ein kurzes
Aufleuchten, als ich die Hoffnung äußerte, es möge doch am nächsten
Sonntag aus dem Sonn- ein Regentag werden, der es mir erlaube,
mich wieder unter ihren Schirm stellen zu dürfen.
Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung, der folgende Sonntag war
ein strahlender Novembertag. Nach dem Gottesdienst trat ich wieder
zu Rahel und wies darauf hin, daß heute ein besonders schöner
Tag sei, was sie ebenso fand. Diesmal führten wir ein etwas längeres
Gespräch. Mit Freude stellte ich eine harmonische Übereinstimmung
zwischen ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrem Wesen fest.
Jetzt nahm mein Bestreben, ihr möglichst nahe zu sein, neue
Dimensionen an.
Nachdem ich bereits Mitte November dem Kirchenchor beigetreten
war, schloß ich mich Anfang Dezember einem Bibelkreis und einer
kirchlichen Jugendgruppe an. Alle diese Bemühungen zielten darauf
hin, nicht nur vor Rahel, sondern auch vor ihren Eltern zu
bestehen, die möglicherweise Vorbehalte gegen einen
freundschaftlichen Umgang ihrer Tochter mit einem Jungbauern haben
könnten. Insgesamt war ich in einer sehr glücklichen Stimmung,
die sich auch von der immer winterlicher werdenden Witterung nicht
beeinträchtigen ließ. Der Winter nahte indessen mit Schneeregen
und Reif.
Ende November verhandelten mein Vater und ich mit mehreren
Weihnachtsbaumaufkäufern. Wir hatten vor einigen Jahren eine große
Waldwiese mit jungen Fichten bepflanzt, die in diesem Jahr
Weihnachtsbaumgröße erreicht hatten und verkauft werden konnten.
Anfang Dezember begann also die "Waldernte". Der Ertrag für
zahlreiche harte Arbeitsstunden sollte nun zu unserem Wohl in bare
Münze umgewandelt werden. Mitte Dezember war die Aktion
abgeschlossen. Nur vereinzelt erschienen noch private Käufer, um
ihren Weihnachtsbaum direkt bei uns, dem Erzeuger, zu erwerben.
Wir waren somit in jenen Tagen häufig draußen in der
Fichtenparzelle. Dabei fiel uns auf, daß immer wieder Bäume
fehlten, also Diebe am Werk gewesen sein mußten. Meistens an
Stellen, wo ohnehin schon Bestandslücken waren. Offenbar hatte
man sich daran erinnert, daß es sich in unserem Wald leicht
klauen und unter einem gestohlenen Weihnachtsbaum gut singen ließ.
Da wir uns nur ungern die Früchte unserer Arbeit fortnehmen und
der Willkür in unserem Wald freie Bahn lassen wollten,
patrouillierten wir regelmäßig um unseren Baumbestand.
Eines Abends, es schneite leicht, war ich wieder auf der Pirsch.
Bald wurden die Flocken dichter und dichter.
"Bei Schnee wird es einfacher sein, eine Spur zu verfolgen",
dachte ich mir und malte mir aus, wie ich einen Dieb mit harschen
Worten anhalten und zur Rede stellen würde. Es tat mir gut,
meinem Zorn über die Baumklauer in leisen Selbstgesprächen
freien Lauf zu lassen.
Da plötzlich sah ich etwa hundertfünfzig Schritte unterhalb von
meinem Standort eine Gestalt in dunkelgrünem, inzwischen
schneebesprühtem Loden aus unserer Parzelle treten. Eine spitze
Kapuze, ebenfalls schon schneeüberzuckert, ließ den Menschen wie
einen Riesenwichtel erscheinen. Mühsam schleppte er zwei
Weihnachtsbäume mit sich den Berg hinan. Ich stieß einen Ruf aus
und begann, den Hang hinabzurutschen. Der Kapuzen-Mensch schien
mich gesehen zu haben, denn er schlug eilig einen schmaleren
Nebenweg ein. Als ich parierte, änderte er die Richtung, dennoch
kam ich ihm immer näher. Schließlich war ich nur noch wenige
Meter hinter ihm.
Er hatte an Geschwindigkeit zugelegt und mußte sich gehörig
anstrengen, denn die Weihnachtsbäume ließen sich gewiß nicht
leicht ziehen. Obgleich er wissen mußte, daß ich direkt hinter
ihm war, hielt er nicht an. Da ich wegen der Enge des Weges und
der Breite der beiden Bäume nicht an ihm vorbei konnte, rief ich
laut: "Hallo!"
Dann noch einmal: "He, hallo!"
Der Dieb blieb stehen, drehte sich um, und ich erstarrte. Unter
der schneebedeckten Zipfelmütze schauten rotblonde Locken und
darunter das Gesicht unseres neuen Pfarrers hervor!
Ich geriet in große Verlegenheit, hatte ich doch den Vater meiner
Angebeteten beim Weihnachtsbaumklau gestellt. Der Pfarrer mochte
die "Baumentnahme" vielleicht als Kavaliersdelikt ansehen, möglicherweise
hatte er sich auch gar nichts dabei gedacht. Für mich aber würde
es das Ende meiner großen Liebe bedeuten, fände ich jetzt nicht
die richtigen Worte. Ich begann das Gespräch mit der überflüssigen
Frage: "Haben Sie Weihnachtsbäume geholt?"
"Das habe ich, junger Freund. Aber – wo bin ich bloß hier?
Ich habe wohl den rechten Weg verfehlt!"
Im Innern bestätigte ich letztere doppeldeutige Feststellung,
stieß indessen, heiser vor Erregung, lediglich hervor: "Woher
haben Sie die Bäume?"
"Die habe ich vom Schöpfer erstanden, einen für mich und einen
für das Gemeindehaus. Aber weshalb fragst du, mein Sohn?"
Seine ruhige, freundliche Art und die Formulierung "mein Sohn"
verwirrten mich ziemlich, darum fragte ich erneut: "Bei wem kann
man solche schönen Bäume erwerben?"
"Bei Gott, in Gottes freier Natur", wiederholte er.
Seine Unbefangenheit irritierte mich.
"Weshalb fragst du so eindringlich?", wollte der Pfarrer
wissen. "Und warum bist du mir so auffällig gefolgt? Ich habe
dich schon eine Weile hinter mir gespürt. Gelt, du bist doch der
fleißige Kirchgänger, der mir schon immer aufgefallen ist und
von dem meine Tochter Rahel manchmal spricht?"
Bevor ich, nach den passenden Worten suchend, etwas erwidern
konnte, beantwortete er seine Frage selbst: "Laß mich raten,
junger Freund. Du willst sicher auch einen Baum haben, und weil
ich gleich zwei besitze, denkst du, ich könnte dir getrost einen
abgeben, so wie das der Martin mit seinem Mantelteil getan und wie
es unser Heiland gepredigt hat. Es sei drum so, wie du es dir wünschst.
Du kriegst den rechten hier. Es ist der größere Baum, ihn hatte
ich fürs Gemeindehaus ausgewählt."
Einen Augenblick sah er mich schweigend an, dann fügte er hinzu: "Sicher bist du damit einverstanden, wenn ich dich bitte, mir für
diesen schönen Baum, den ich eigenhändig gefällt und bis
hierher geschleppt habe, zehn Mark zu zahlen. Der Küster kann
dann einen Ersatzbaum kaufen."
Ich war drauf und dran, ihm die Meinung zu sagen: Der Baum würde
aus unserem Wald stammen, er könne doch nicht verlangen, daß ich
meinen eigenen Baum kaufe und ihm den zweiten kostenfrei überlasse!
Und daß ich es nicht gutheißen würde, wenn er sich in einem
fremden Wald einfach bediene ...
Jedoch war ich viel zu verwirrt, um klare Worte zu finden, verschüchtert
stieß ich lediglich hervor, ich wisse nicht, ob ich genug Geld
bei mir hätte.
Ich kramte nach meiner Geldbörse, fand sie auch in einer meiner
zahlreichen Jackentaschen und bezahlte tatsächlich meinen eigenen
Baum.
Den Dieb ließ ich unbehelligt von dannen ziehen. Allerdings nahm
ich mir insgeheim vor, zur Strafe den Gottesdienst mindestens drei
Wochen lang nicht zu besuchen.
So geschehen an einem Freitag.
Am darauffolgenden Sonntag saß ich wieder brav hinter Rahels
langem, schwarzem Zopf.
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