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Anno
1946. Weihnachten kam näher und näher, aber nichts Wärmendes
und nichts Sättigendes rückte in Sicht. Wir drei Kinder, fünfzehn,
zwölf und acht Jahre alt, hatten Angst vor diesem Weihnachtsfest.
Unsere Mutter sagte in ihrer Naivität immer nur den einen
stereotypen Satz: "Der liebe Gott wird schon sorgen!"
Bis jetzt schien es so, als hätte der liebe Gott uns vergessen,
wie schon so oft. Uns graute vor Eiseskälte in der Stube unter
dem geklauten Tannenbaum. Weder Holz noch Kohlen waren vorrätig,
und das nasse Reisig, das wir täglich aus dem leergeräumten Wald
klaubten, qualmte nur im Ofen. Wärme gab es nicht ab.
Es war die Zeit der vielen Tanzvergnügungen auf den Dörfern. Die
Menschen freuten sich darüber, wieder in hell erleuchteten,
warmen Sälen die Nächte durchtanzen zu können. Und da Mamas
lieber Gott sich in Sachen "warme Weihnachtsstube bei Zobels"
immer noch nicht rührte, beschlossen wir drei Kinder, zur
Selbsthilfe zu greifen. Unser Vorhaben fanden wir bestätigt durch
das Bibelwort: "Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!"
Also mußten wir selbst für Holz sorgen.
Am 22. Dezember war nun im Nachbardorf wieder Tanz angesagt. Auch
die Einwohner unseres Dorfes marschierten durch die nächtliche Kälte
dorthin. So machten wir uns – ohne Wissen unserer Mutter –
einen Plan, bei dem jeder eine Aufgabe zu erfüllen hatte: Meine
ältere Schwester erkundete, von welchem Hof die Leute zum Tanz
gingen, und spähte deren Holzbestände aus. Ich organisierte
einen Sack – heil mußte er sein!
Unser kleiner Bruder kannte die Hunde im Dorf. Er besuchte sie
alle und wollte feststellen, ob er mit ihnen so auf Du und Du
stand, daß er den einen, auf den es dann ankommen würde,
beruhigen könnte.
Endlich war der Tanzabend herangekommen. Die meisten Höfe standen
still und verlassen, und stockdunkel war es sowieso. Meine
Schwester hatte einen großen Bauernhof mit traumhaften
Brennholzbeständen ausgeguckt. Und mein Bruder hatte nachmittags
noch dessen Hund eine gekochte Kartoffel gebracht, das einzige,
was wir unbeobachtet verschwinden lassen konnten. Ich hatte mir
den Sack fest um den Leib gebunden. In der schützenden Dunkelheit
konnte das weihnachtliche Holzabenteuer beginnen.
Wir schlichen unauffällig zu dem dunklen Hof mit dem vielen
trockenen Holz. Mein Bruder kroch leise in die Hundehütte zu dem
schwarzen Bello, und meine Schwester und ich schlichen mit dem
Sack an die Rückwand des Holzschuppens. Natürlich war der
Schuppen verschlossen, denn außer uns gab es viele kleine Flüchtlingskinder,
die nach Holz suchten.
Nun war es so weit! Durch die Latten der hölzernen Trennwand
konnten wir gut mit unseren Händen greifen und Holzstück für
Holzstück herausziehen. Wir hantierten leise und füllten schnell
den Sack mit duftenden, ganz trockenen Birken- und
Fichtenscheiten, wie unser Ofen sie noch nie erlebt hatte. Der würde
sich wundern!
So hatten wir mit unseren kleinen Händen bald ein kreisrundes
Loch in der Innenseite der hohen Holzwand entstehen lassen, dabei
jegliche physikalische Gesetze außer acht lassend. Als unser Sack
fast voll war, geschah das Unglück: Mit donnerndem Getöse
krachte die ganze hohe Holzscheitwand zusammen. Es krachte und
polterte so gewaltig in die nächtliche Stille hinein, daß alle
Hunde des Dorfes gleichzeitig in ein fürchterliches Gekläffe
fielen. In panischem Schrecken ergriffen wir unseren Sack und
machten uns über den Hinterhof davon. Mein kleiner Bruder kam
leise fluchend und hinkend hinterher. Bellos Kette hatte sich bei
dessen plötzlichem Gespringe und Gekläffe um sein linkes Bein
gewickelt, so daß er eine blutige Schramme davontrug, die man
durch das Loch in seiner Hose sah.
Aber das zählte alles nicht, auch nicht unsere aufgerissenen Hände.
Wir kletterten über zwei Koppelzäune und schoben den Sack jedes
Mal unten durch. Ungesehen und mit viel Herzklopfen kamen wir mit
der kostbaren Beute an dem Stallgebäude an, in dem wir ganz oben
neben der Schrotkammer wohnten. Mühsam asteten wir den Sack die
steile Stiege im Dunkeln empor. Leise öffneten wir die Stubentür
und stellten strahlend das Diebesgut vor unsere verdutzte Mutter
hin.
"Mama, Weihnachten ist gerettet, es wird warm!" sagten wir fröhlich.
"Der liebe Gott hat uns vergessen, aber wir haben ihn an uns
erinnert, und er hat uns geholfen."
Während wir stolz unseren Sack Holz auskippten, schichtete sie
Scheit für Scheit hinter dem Ofen auf. Sie sprach dabei kein
Wort, und es fiel ihr auch keiner von ihren frommen Sprüchen ein,
mit denen sie uns sonst traktierte. Aber auf die Holzscheite
fielen ihre Tränen.
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