Der
Autor
Georg
Schuler, geboren 1929 unweit der Burg Hohenzollern, erlebte in seiner
Heimat die ganze Zeit des Dritten Reiches. Er besuchte hier die
zweiklassige Volksschule von 1936 bis 1944, begann dann eine kaufmännische
Lehre, die nur wenige Monate bis zum Kriegsende dauerte.
Ab 1946 Schulbesuche im Kloster »Maria-Tann« und dann in den
Lehreroberschulen von Südwürttemberg-Hohenzollern. Studium am Pädagogischen
Institut Weingarten mit der Lehramtsprüfung für den
Volksschuldienst.
Ab 1952 „Junglehrer“ auf dem Lande, Zusatzprüfungen für das
Lehramt an Realschulen, Sonderausbildung für den Unterricht an Kaufmännischen
Schulen. Von 1957 bis zur Pensionierung 1991 als Oberstudienrat an der
Kaufmännischen Schule Balingen.
Nach seinem Eintritt in den Ruhestand entstand das Heimatbuch »Damals
im Killertal«, das auf Anhieb ein großer Verkaufserfolg wurde. Eine
spezielle Text-Auswahl daraus ist in diesem Band zusammengefasst.
Georg Schuler ist verheiratet und lebt in Balingen.
Leseproben
aus »Damals im schwäbischen Killertal«
Vorwort
Im November 1929 kam ich in Hausen im Killertal, unweit der Burg
Hohenzollern zur Welt. Unser Dorf hatte etwa 800 Einwohner, die im Tal
und auf den Höhen der »Schwäbischen Alb« kärgliche Landwirtschaft
betrieben und in kleinen Industrieunternehmen der Umgebung Arbeit
fanden. Mein Elternhaus stellt ein typisch schwäbisches
Kleinbauernhaus dar.
Mein
Elternhaus: Unten Werkstatt, Stall und Scheune, im 1. Stock Stube, Küche,
Kammer und Elternschlafzimmer. Im Dach zwei Bühnenstockwerke.
Mein
Vater war von Beruf Drechsler, aber die meiste Zeit des Jahres
Kleinlandwirt mit einem Kuhgespann, das die Arbeiten auf den weit
auseinander liegenden Wiesen und Äckern ermöglichte.
Mein
Vater 1945 mit dem Kuhfuhrwerk beim Pflügen.
Von unserem Haus hatten wir einen schönen Blick auf unsere mächtige
Dorfkirche mit dem großen Pfarrhaus davor. Von 1936 bis 1944 besuchte
ich die zweiklassige Volksschule und habe somit zuerst die friedlichen
Zeiten und danach die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt.
1936.
Blick vom Hof unserer Familie auf die Dorfkirche.
Heute
stelle ich fest, daß die damaligen außergewöhnlichen Ereignisse
kaum mehr allgemein bekannt sind und, daß in den Geschichtsbüchern
und historischen Abhandlungen die Zeiten oft nur in analysierter und
verarbeiteter Form erscheinen. In meiner 40jährigen pädagogischen Tätigkeit
habe ich aber erfahren, daß bewußt erlebte Ereignisse die Zeiten
besonders klar und anschaulich erscheinen lassen. Selbst kleine
unbedeutend erscheinende Vorkommnisse können schlagartig eine ganze
Weltanschauung illustrieren.
Damit die damalige Lebensweise und die besonderen Ereignisse nicht der
Vergessenheit anheim fallen, habe ich sie nach bestmöglicher
Erinnerung aufgeschrieben. Ein literaturkundiqer Freund, dem ich von
meinem Vorhaben erzählte, riet mir, einen spannenden Roman zu
schreiben, in dem ich alle Zustände und Geschehnisse unterbringen könne.
Von diesem Rat bin ich aber dann abgekommen. Ich möchte meine
Erinnerungen nicht der Spannung wegen schreiben, weit wichtiger ist
mir die unterhaltende Sachinformation.
So habe ich alles in kleinen Einzelthemen aufgeteilt, die jeweils für
sich gelesen und in ihrer Bedeutung verstanden werden können. Ich
versuche sachlich und wertungsfrei zu berichten und in der Rolle des
Befragten Auskunft zu geben.
Dabei habe ich absichtlich auf jede kritische Auseinandersetzung mit
der NS-Ideologie und mit den Kriegsgeschehnissen verzichtet, damit
sich der Leser direkt in die damalige Zeit versetzen kann. So sollen
meine Schilderungen einfach ein Beitrag eines Zeitzeugen zum besseren
Verständnis unserer Vergangenheit sein.
Zu großem Dank bin ich vielen Bekannten und Verwandten meiner
Generation verpflichtet, die mir mit ihren Erlebnissen und
Erinnerungen oft weitergeholfen haben.
Georg
Schuler
Balingen / Hausen,
Frühjahr 2001
Beim
Jungvolk
Die Jugendorganisationen der NS-Zeit hießen »Jungvolk« für die
Zehn- bis Vierzehnjährigen, und »Hitler-Jugend« (HJ) für die
Vierzehn- bis Achtzehnjährigen. Die Mitgliedschaft war für jeden
deutschen Jungen Pflicht, ganz selten gab es Verweigerungen und
Ausnahmen. Als ich 1940 in das Jungvolk eingegliedert wurde, trug ich
ein braunes Uniformhemd, schwarze Schuhe, schwarze kurze Hosen mit
Koppelriemen und -schloss, dazu einen Schulterriemen. Einmal in der
Woche, im Winter auch zweimal, war »Dienst« angesagt, der abends
stattfand, manchmal auch am Sonntagmorgen. Wir versammelten uns in den
unteren Räumen des Rathauses. Alles begann sehr militärisch mit
Strammstehen und Abzählen. Dann folgte meist eine theoretische
Schulung über weltanschauliche oder militärische Themen. Geleitet
wurde die Schulung von einem jungen Jungvolk-Führer, auch Jungzug-Führer
genannt. Er ließ uns viel singen, und oft wurden neue Marschlieder
einstudiert. Wenn wir zu Übungen ins Gelände gingen, marschierten
wir singend durch das Dorf.
Schule und Jungvolk arbeiteten Hand in Hand, es wurden oft die
gleichen Themen behandelt. Ich hatte den Eindruck, dass die Aussagen
im »Dienst« um einiges schärfer als in der Schule waren. Dies
trifft besonders auf das »Judenthema« zu.
Das
bin ich als Zehnjähriger in Jungvolk-Uniform.
In der
NS-Erziehung wurde auf die Organisation der Jugendlichen viel Wert
gelegt. Im Alter von zehn Jahren wurde unser Schuljahrgang 1929/30
komplett in das Jungvolk aufgenommen, und wir wussten genau, wie es
weitergehen würde: Nach vier Jahren erwartete uns die Hitler-Jugend
(HJ), danach der Reichsarbeitsdienst (RAD) und anschließend die
Wehrmacht. Als wir jedoch 1944 in die HJ aufgenommen werden sollten,
kamen die turbulenten Kriegsereignisse dazwischen.
Die Organisation war bis auf das Kleinste durchdacht, die Führerhierarchie
stufenweise mit Rängen und Rangabzeichen aufgebaut: Der Bann 127
umfasste die Kreise Balingen und Hechingen, das Fähnlein 8 die
Jungvolkgruppen des Killertales. Als »Pimpf« trug ich die einfache
Uniform. Meine direkten Vorgesetzten trugen bereits ein Rangabzeichen
– eine Kordel an der linken Schulter.
Die
Rangfolge lautete: Pimpf: ohne Rangabzeichen, Jungenschaftsführer
(Gruppe): rot-weiße Kordel, Jungzugführer (Hausen): grüne Kordel, Fähnleinführer
(Killertal): grün-weiße Kordel, Jungstammführer (Balingen): weiße
Kordel, Bannführer (Bann 127): rote Kordel.
Gegenüber höheren Rängen bestand strenge Gehorsams- und Grußpflicht.
Ein lebhaftes Karrierestreben in die höheren Ränge wurde gefördert,
und manche Jungen träumten wohl schon von der Offizierslaufbahn.
Geländespiele
An den Sommerabenden ließ uns der Jungzugführer oft zum Sportplatz
auf der Schnait marschieren. Dort, am Waldesrand, wurden meist die so
genannten Geländespiele durchgeführt. Man teilte uns in Gruppen ein,
die sich dann gegenseitig als Feinde ansehen und bekämpfen mussten.
Jedem wurde ein blauer oder roter Wollfaden um das Handgelenk
gebunden. Eine Gruppe verschwand mit Zeitvorsprung im Unterholz des
nahen Jungwaldes und versuchte, sich dort zu verbergen. Auf lauten
Pfiff hin begann der Angriff der anderen Gruppe und damit ein Kampf
von Mann zu Mann, bei dem es um den farbigen Wollfaden, auch
Lebensfaden genannt, ging. War dieser erbeutet, so musste der
Unterlegene den Kampf aufgeben und wurde zum Gefangenen. Daraufhin
wurde zum Appell gepfiffen, die Sieger wurden gelobt und geehrt, die
Verlierer mitleidig belächelt, manchmal auch verspottet. Oft folgte
eine Belehrung über den Sinn des Kampfes im Krieg wie im Frieden. Es
hieß dann: Da der Stärkere ein größeres Lebensrecht als der Schwächere
habe, müssten wir die Stärkeren sein. Das Hitlerwort über die
deutsche Jugend wurde unzählige Male zitiert: »Hart wie Kruppstahl
– zäh wie Leder.«
Im
Vordergrund das Dorf Hausen im Killertal mit Kirche. Am Horizont sind
die Berge der Schwäbischen Alb, ca. 900 Meter hoch, zu sehen.
Mobilmachung
Im Sommer 1939 – ich war noch nicht zehn Jahre alt – sprachen die
Leute immer wieder vom Krieg. Ich konnte vorerst wenig mit diesem Wort
anfangen, aber mein Vater erzählte mir von seinen Erfahrungen im
Ersten Weltkrieg, von den Kämpfen an der Westfront. Dann sprach man
von Mobilmachung, und dieses Wort hat uns der Lehrer im Unterricht
erklärt. Anfang August wurde, wie schon erwähnt, der Reichsjägermeister
Hermann Göring in Hausen und Burladingen freudig begrüßt, doch sah
man ausnehmend viele Leute auf der Straße zusammenstehen und lebhaft
diskutieren.
Am 26. August 1939 aber wurde es ernst. Als mein Bruder und ich zum Frühstück
in die Küche kamen, stand unsere Mutter weinend am Herd und
berichtete, dass mitten in der Nacht die Polizei mit der Sturmlaterne
gekommen sei und den Gestellungsbefehl für Vater überbracht habe.
Dieser sei schon mit dem ersten Zug in die Kaserne nach Ulm gefahren.
Somit war mein Vater der erste Mann von Hausen, der eingezogen wurde.
Er war damals vierzig Jahre alt, hatte im Ersten Weltkrieg in
Frankreich gekämpft, später bei der Polizei gedient und bei allen
Musterungen sehr gute Beurteilungen bekommen.
Mein
Vater. Jahrgang 1899, als Soldat im Zweiten Weltkrieg.
26. August 1939 einberufen, 1940 in Frankreich, 1942–44 vor
Leningrad, 1945 schwere Verwundung und Entlassung.
Einige Tage später, am 1. September, brach der Krieg aus und die
Gestellungsbefehle häuften sich. Oft gingen die Angehörigen auf den
Bahnhof zur Verabschiedung mit. Viele der jungen Soldaten kamen schon
nach einigen Wochen in schmucken Uniformen zum Heimaturlaub zurück
und genossen die Bewunderung aller Dorfbewohner.
Das
Bild im Soldbuch
Wenn die Einberufenen fortfuhren, nahmen sie meist ein Andenken an
ihre Heimat mit. Der junge ledige Soldat trug das Bild seiner
Geliebten oder Braut in der Brusttasche, der Verheiratete das seiner
Frau, und der Familienvater wollte Frau und Kinder im Bild bei sich
haben. Umgekehrt sollte natürlich auch ein schönes Bild des ausgerückten
Soldaten in der Stube hängen. Bald schon kamen die Bilder der
schmucken Soldaten an, denn in den Kaserne wurde eifrig fotografiert.
Foto-Sonderaktion
im Kriege: ein Familienbild für den Vater an der Front. Mein Vater
war – als erster Bürger von Hausen – noch vor Kriegsausbruch
eingezogen worden. Ich stehe links im Bild, rechts mein Bruder Johann,
in der Mitte unsere Mutter und meine Schwester Barbara.
In der
Heimat aber waren Fotoapparate Mangelware, und für gute Bilder musste
man zum Fotografen gehen. Ich erinnere mich an eine Sonderaktion mit
dem Motto »Heimatbilder für die Soldaten«.
So fuhren wir, meine Mutter und meine zwei Geschwister, nach
Burladingen, um uns »abnehmen« zu lassen für den im Felde weilenden
Vater. Im Atelier stellte uns der »Photo-Meister« in der damals üblichen,
etwas gestellten wirkenden, steifen Art auf. Heute betrachtet, scheint
mir das Bild sehr zeittypisch zu sein: Mutter schaut streng und etwas
abgehärmt, meine kleine Schwester wagt kaum ein Lächeln, und mein älterer
Bruder zeigt schon eine soldatische Haltung, mit den Händen an der
Hosennaht.
Mein Vater freute sich sehr über das Bild seiner »Lieben«. Er hat
es, wie er später sagte, während seiner ganzen Soldatenzeit täglich
im Soldbuch mitgetragen.
Berufsfindung
Nach meinen vier Volksschuljahren, 1936 bis 1940, kam ich automatisch
in die Oberstufe. Von Schul- oder Berufswahl war nicht die Rede, Vater
war im Krieg und meine Mutter wollte mir den weiten Schulweg nach
Hechingen nicht zumuten. Sie hätte es gerne gesehen, wenn ich Pfarrer
geworden wäre, aber ich zeigte keine Neigungen dafür. So mühte ich
mich weiter in den oberen Klassen der Volksschule ab und harrte der
Dinge, die kommen würden.
Eines Tages teilte unser Lehrer meinem Vater bei einem
Gesangsvereinsabend mit, dass ich in die »Napola«, die »Nationalpolitische
Anstalt«, eine NS-Eliteschule, nach Rottweil gehen könne, es würden
keine Kosten entstehen und anschließend würden mir alle Berufswege
offen stehen.
Meine Eltern holten den Rat des Pfarrers ein, und der war
entscheidend. »Er wird den Glauben verlieren!«, gab der Gottesmann
zu bedenken, und so wurde nicht mehr darüber gesprochen.
Bald danach bot der Pfarrer an, mir Privatunterricht in Latein zu
geben, dann könnte ich nach dem Kriege in eine weiterführende Schule
gehen. Ich sagte zu, und er bestellte mir ein Lehrbuch. Mit zwei
Litern frischer Kuhmilch für den Pfarrhaushalt ging ich zur ersten
Stunde und lernte: rusticus = Bauer, gallus = Hahn.
Als ich zum zweiten Mal zum Unterricht erschien, machte der Pfarrer
ein bedauerndes Gesicht und ließ mich gar nicht mehr in die gute
Stube. Er sagte, dass jemand die Sache gemeldet habe. Der
Privatunterricht sei ihm verboten worden.
Inzwischen hatte der Pfarrer, der sehr gerne priesterlichen Nachwuchs
aus seiner Gemeinde gesehen hätte, mehrere Predigten über die
Bedeutung, Sonderstellung und Würde des Priesters gehalten. Meine
Mutter sagte noch: »Pass heute wieder gut auf!«. Ich tat dies, aber
ich konnte mich mit den Schilderungen des Pfarrers nicht anfreunden.
Der Zölibat spielte dabei nicht die Hauptrolle, ich fand es vielmehr
schlimm, dass ich durch das Studium und die immer höheren Weihen mehr
und mehr meinem sozialen Umfeld entfremdet werden sollte. Ich hörte,
dass der geweihte Priester hoch über seinen Eltern und Geschwistern
stehe und ein direkter Umgang mit den Jugendfreunden nicht mehr möglich
sei. Das wollte ich nun gewiss nicht, und ich dachte an die Reden
meines Lehrers, der uns vorhersagte, dass wir als gute
Nationalsozialisten später nie mehr schmutzige Arbeit machen müssten,
sondern als Offiziere und Parteileute in der Ukraine oder in Sibirien
gute Aufsichtsposten erwarten könnten.
Ich war in einer Zwangslage: Kirche und Staat zogen an mir, und mir
gefielen beide Richtungen nicht. So wurde ich im Frühjahr 1944 aus
der Volksschule entlassen und trat eine Kaufmannslehre in Gauselfingen
an. Aber da ich in der Landwirtschaft zu Hause dringend gebraucht
wurde, verschob man den Beginn der praktischen Ausbildung auf den Spätherbst.
Als fleißiger Schüler begann ich aber gleich mit dem Fachunterricht
in Hechingen an der Kaufmännischen Schule.
Jede Woche fuhr ich nun einmal mit der Landesbahn in die Kreisstadt
Hechingen und besuchte dort die Kaufmännische Berufsschule. Es fehlte
mir zwar die praktische Anschauung, aber ich versuchte trotzdem, so
viel wie möglich in den Fächern Betriebslehre mit Schriftverkehr,
Buchführung und Kaufmännisches Rechnen mitzubekommen. Besonders
erinnere ich mich an die damals noch wichtigen Fächer Kurzschrift und
Maschineschreiben. Der Reiz des Neuen weckte mein Interesse besonders.
Leider hatte ich zu Hause keine Übungsschreibmaschine, so klebte ich
das Tastaturbild aus dem Lehrbuch einfach an die Wand und übte so im
»Trockenen«.
Der Unterricht fand in einem Gebäude unterhalb des Rathauses statt,
und wenn Fliegeralarm war, tönte die Sirene auf dem Rathaus in
unseren Lehrsaal. Die Lehrer hatten nun den Unterricht zu unterbrechen
und uns Schüler in den Luftschutzraum zu führen. Dort standen etwa
20 Übungsschreibmaschinen, und sofort begann der
Maschinenschreibunterricht. So habe ich damals bei Frau Bumiller im
Luftschutzkeller Zehn-Finger-Blindschreiben gelernt. Ich habe das sehr
gerne gemacht, und die Entwarnung kam für mich meist viel zu früh.
Umworben
von der SS
Im Bannausbildungslager Truchtelfingen erschienen nach einigen Tagen
zwei SS-Offiziere, stellten sich uns vor und sprachen von der
Sonderstellung der Waffen-SS. Im Gegensatz zur Wehrmacht seien die
Aufstiegschancen viel besser, und es sei eine große Ehre, dieser
Gruppe von »Elitedeutschen« anzugehören. Wir hätten nun die
einmalige Chance, uns durch unsere Unterschrift für die SS zu
bewerben.
Wir wunderten uns über die Sonderstellung der SS gegenüber der
Wehrmacht – die Einheit des deutschen Soldatentums hatten wir uns
harmonischer vorgestellt. Untereinander besprachen wir 15- bis 16-jährigen
Jungen die Lage, und dabei stellte sich heraus, dass viele vom
Elternhaus oder Pfarrhaus auf diese »Anwerbungen« vorbereitet worden
waren. Es wurde einiges hinter vorgehaltener Hand gemunkelt: SS-Leute
seien keine richtigen Soldaten, sie würden rücksichtslos und brutal
handeln, ihr Ruf sei viel schlechter als der der Wehrmacht, und der
Feind würde sie bei einer Gefangennahme nicht wie normale Soldaten
behandeln. So war die SS-Werbung zunächst erfolglos. Wir hörten uns
die Sache an, niemand äußerte sich dazu, aber es war auch niemand
zur Unterschrift bereit.
Inzwischen hörte man schon den Kanonendonner aus dem Schwarzwald, und
wir wussten um die Kriegslage gut Bescheid. Nun änderten die
SS-Offiziere ihre Taktik. Sie erklärten, dass jeder von uns am nächsten
Morgen seinen Rucksack nehmen und nach Hause gehen könne, wenn er
zuvor den Bewerbungsschein unterschreiben würde.
In der Nacht gab es im Schlafsaal große Diskussionen. Bald ging es um
den Wert unserer Unterschrift. Volljährig wurde man damals mit 21
Jahren, und so setzte sich bald die Meinung durch, dass uns aus
unserer Unterschrift keine Folgen erwachsen würden. Deshalb habe auch
ich am andern Morgen mit gepacktem Rucksack meinen Namen unter das
Papier geschrieben, ging mit meinen gleichgesinnten Dorfkameraden mit
schnellem Schritt den Berg hinauf und das Weilertal hinunter nach
Hause.
Einige Tage waren wir in Sorge wegen der Einberufung, dann fürchteten
wir, dass die Franzosen die Papiere finden und uns als SS-Leute
behandeln würden. Wir hörten aber nie mehr etwas von dieser Sache,
und so sind wir Jungen vom Jahrgang 1929 noch einmal gut
davongekommen.
Entnazifizierung
Ich selbst und viele jungen Menschen sind jahrelang »nazifiziert«
worden, besonders in Schule und Jungvolk. Die älteren Menschen wurden
durch Zeitung, Rundfunk, Partei und NS-Organisationen in sehr
eindringlicher Weise beeinflusst. Schlagworte wie Volk, Heimat, Rasse,
Großdeutschland, Weltherrschaft, Heldentum, Todesbereitschaft und
andere hatten ihre Wirkung bei vielen Menschen.
Nun kam das Kriegsende und damit das Ende der NS-Herrschaft. Nach
wenigen Wochen und Monaten erfuhr man schreckliche Dinge, besonders
die Einzelheiten der Judenverfolgung und -vernichtung. Nach anfänglichen
Zweifeln erkannten die Menschen das ganze Ausmaß des totalitären
Unrechtsregimes. Den Bürgermeistern des Kreises wurden die Massengräber
der in den Konzentrationslagern bei Schömberg Umgekommenen gezeigt,
und die nach und nach heimkehrenden Soldaten erzählten nun
unglaubliche Vorkommnisse.
Wie verkrafteten und bewältigten die Menschen die neuen Erkenntnisse
und die Einsicht in eigene Verirrungen? Wurde darüber öffentlich
gesprochen? Gab es Abrechnungen mit den Schuldigen? Gab es Einsicht
oder gar Selbstanklagen?
Von alldem habe ich nichts bemerkt. Die Dorfbewohner sprachen zwar über
die unglaublichen Geschehnisse und äußerten großes Erstaunen, aber
meistens schüttelten sie am Ende den Kopf.
So ging man einfach zur Tagesordnung über. Die Sorgen und Probleme
waren groß, es ging um das nackte Überleben, und wir warteten auf
die Heimkehr der in Gefangenschaft geratenen Soldaten. Religiöse und
sittliche Werte traten wieder in den Vordergrund, die
Hilfsbereitschaft war sehr groß, der Kirchenbesuch nahm schlagartig
enorm zu, der Pfarrer war der wichtigste Mann im Dorf – nicht nur,
weil er das Vertrauen der Besatzungsmacht besaß.
Der Abschied von der NS-Ideologie ging schnell und schmerzlos vor
sich, ihre Schlagworte waren schnell über Bord geworfen. Die
Besatzungsmächte wunderten sich, dass der befürchtete
Untergrund-Widerstand völlig ausblieb, sie waren davon ausgegangen,
dass jeder Deutsche ein Nazi sei und es wahrscheinlich noch lange
bleiben werde. So stieß die Entnazifizierung und Umerziehung der Bevölkerung
eigentlich ins Leere. Die neuen Lebens- und Erziehungswerte mussten
nicht erklärt und eingeimpft werden, sie waren nach einer längeren
Zeit der Verschüttung immer noch vorhanden.
Die Menschen zogen Bilanz der vergangenen NS-Zeit. Vieles Leid und
viele Opfer sind unvergessen. 1939 hatte die Gemeinde Hausen 770
Einwohner. Von den vielen einberufenen Soldaten kehrten 53 nicht zurück.
Sie ruhen in fremder Erde.
Inhalt
»Damals im schwäbischen
Killertal«
Vorwort
7
Schule
und Jungvolk
Erziehungsmächte 10
Im Kinderhaus 10
»Sein Vaterland muss größer sein!« 11
Pech mit dem Hakenkreuz 12
Schwabenstreiche 13
Die deutsche Nationalhymne 15
Der Einzelne und die Gemeinschaft 16
Sparta – Die Kröte – Gebet 17
Ukraine und Sibirien – Afghanistan 19
Die »Erzeugungsschlacht« 21
Beim Jungvolk 22
Geländespiele – Kartoffelstampfer 24
Der Spielmannszug 26
»Schnapspreußen« 26
Lieder in Schule und Jungvolk – Schul-Appell 28
Zigarettenbildchen 30
Flugmodellbau 31
Böcke, Bonzen, Beerenweiber 32
Kriegsberichterstatter 34
Germanentum – Rassenlehre 35
Die »Judenfrage« 37
Kontakte zu Juden 38
Judenverfolgung 40
Kriegskameraden 41
Mariele und der Ariernachweis 41
Aus
den Kriegsjahren
Mobilmachung 44
Erste Siege der Wehrmacht 44
Erntehelfer Karl Bitzer 45
Das Bild im Soldbuch 46
Soldatenschicksale 48
Bedrohung aus der Luft – Luftschutz 51
Absturz eines englischen Bombers 53
Der Wehrmachtsbericht 58
Tiefflieger 58
Kriegsgefangene auf der Flucht 60
Flugblätter 61
Heilkräuter sammeln – Kartoffelkäfer 62
Erdbeben 63
Stimmungsschwankungen 64
Zivilbevölkerung und Soldaten im Alltag 67
Berufsfindung 69
Bannausbildungslager 71
Umworben von der SS 72
Versorgung mit Lebensmitteln 73
Dem Ende entgegen 75
Besatzungs-
und Nachkriegszeit
Der Feind marschiert ein 78
Der Krieg ist aus – und verloren 81
Die französische Besatzung 82
Marokkaner 85
Deutsche Gefangene durch das Killertal 88
Panzer rollen zurück 90
»Feuer nicht einsperren!« 91
Die Sau im Bett 92
Die Atombombe 93
Allgemeine Lage nach Kriegsende 94
Erdbeeren mit Sahne 95
Besatzungskosten 96
Holzbeute – E- und F-Hiebe 97
Kartoffeln aus dem Oberland 98
Viehabgabe 99
Markenwirtschaft 100
Nikotin-Not 101
Onkel Konrad aus Amerika 102
Entnazifizierung 103
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