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  Hamburg
Dezember 1946
  Inge Vogl
Mein Lied

Vorweihnachtszeit in Hamburg. Am Hauptbahnhof steige ich aus. Hoffnungsvoll, tief in meiner Manteltasche, trage ich die Lebensmittelmarken. Wie dünne Briefmarken befühle ich sie ab und an. Ein Wert für wahlweise 250 Gramm Butter oder Schmalz.
Die Luft ist diesig und frostig. Es dunkelt rasch. Nur zwei Stunden habe ich Zeit, dann machen die Läden zu. Ich bin elf Jahre alt. Da! Das erste Lebensmittelgeschäft.

"Butter oder Schmalz? Nee, Kleine, ist schon ausverkauft."
Der nächste Laden. "Tut mir leid, haben wir nicht."
Meine Hoffnung hat nun einen Dämpfer. Trotzdem habe ich noch Mut. Die Gaslaternen werden angezündet. Licht in Wohnungen und in leeren Schaufenstern. Meine Schritte werden länger. Mein Kopf will dichten: "Wiehnachtsmann, stick de Lichter an ..."
Wieder ein Geschäft. "Ich möchte gerne Butter oder Schmalz." – Statt einer Antwort höre ich einen Seufzer und sehe ein Kopfschütteln.
Der Himmel hat sich in Schwärze versteckt.
"Wiehnachtsmann, stick de Lichter an, op’n Steendamm, dat ick seehn kann..."
Holla, da drüben ist ein Milchgeschäft.
"Butter, Schmalz? Nein, wir haben nichts zugeteilt bekommen."
"Onkel, wie spät ist es?"
"Halv soß, min Deern. Mußt no Hus gohn, is all düster."
Auch in meiner Seele wird es ein wenig dunkel. Die Straßenlaternen leuchten tröstlich hell. Wann sie die wohl ausmachen? – Genau, das ist es!
"Wiehnachtsmann, stick die Lichter an, opn Steendamm, dat ick seehn kann. Pust se wedder ut –" und was reimt sich auf "ut"? – Mir fällt nichts ein. Dafür bekommt das Ganze eine Melodie und einen Takt für meine Füße.

Hier. Ein Kellergeschäft! Und wenn die auch nichts haben? Mein Mund fragt. Meine Augen betteln stumm. – Nichts, schon seit 14 Tagen nichts.
Auf der Straße packt mich die große Enttäuschung und Zorn kribbelt im Genick.

Das Hansa Theater. Ich bleibe stehen. Große Sehnsucht im Herzen schaue ich zu. Taxen, Türen auf, hübsche Herren und Damen steigen aus, in toller Uniform neigt sich ein Pförtner, öffnet die Tür und nimmt einen rotsamtenen Vorhang zur Seite. Wie im Märchen! Wie Weihnachten, so hell, feierlich, geheimnisvoll.
Enttäuscht, zornig, trotzig, sehnsüchtig gehe ich jetzt singend um die Straßenecke:

Wiehnachtsmann, stick de Lichter an,
op’n Steendamm, dat ick seehn kann.
Pust se wedder ut, krist wat an de Schnut!

Genau! Das ist es! Auf "ut" paßt "Schnut".
Oh, noch ein Milchgeschäft!
Die Frau dreht gerade den Schlüssel um. Zu. Läßt mich nicht mehr hinein. Meine Nase wird platt an der Schaufensterscheibe. Meine Augen gehen flink durch den fast leeren Raum. Da, in der Ecke! Ein volles Faß Schmalz!

Mein Lied singend, fahre ich mit der U-Bahn heim in die kleine Schrebergartensiedlung nach Wandsbek Gartenstadt, wo wir seit unserer Ausbombung wohnen.

Am folgenden Morgen stehe ich in aller Frühe auf und mache mich erneut auf den Weg in die Innenstadt. Selig vor Freude, mit 250 Gramm Schmalz in der Tasche, fahre ich laut singend nach Hause.

Mein Weihnachtsmann-Lied habe ich bis heute nicht vergessen. Es gehörte bis jetzt ganz alleine nur mir!
Oder hat mich vor 50 Jahren jemand singen hören?

   
  Aus: "Nachkriegs-Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 2.
   
   
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  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

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