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Vorweihnachtszeit
in Hamburg. Am Hauptbahnhof steige ich aus. Hoffnungsvoll, tief in
meiner Manteltasche, trage ich die Lebensmittelmarken. Wie dünne
Briefmarken befühle ich sie ab und an. Ein Wert für wahlweise
250 Gramm Butter oder Schmalz.
Die Luft ist diesig und frostig. Es dunkelt rasch. Nur zwei
Stunden habe ich Zeit, dann machen die Läden zu. Ich bin elf
Jahre alt. Da! Das erste Lebensmittelgeschäft.
"Butter oder Schmalz? Nee, Kleine, ist schon ausverkauft."
Der nächste Laden. "Tut mir leid, haben wir nicht."
Meine Hoffnung hat nun einen Dämpfer. Trotzdem habe ich noch Mut.
Die Gaslaternen werden angezündet. Licht in Wohnungen und in
leeren Schaufenstern. Meine Schritte werden länger. Mein Kopf
will dichten: "Wiehnachtsmann, stick de Lichter an ..."
Wieder ein Geschäft. "Ich möchte gerne Butter oder Schmalz."
– Statt einer Antwort höre ich einen Seufzer und sehe ein
Kopfschütteln.
Der Himmel hat sich in Schwärze versteckt.
"Wiehnachtsmann, stick de Lichter an, op’n Steendamm, dat ick
seehn kann..."
Holla, da drüben ist ein Milchgeschäft.
"Butter, Schmalz? Nein, wir haben nichts zugeteilt bekommen."
"Onkel, wie spät ist es?"
"Halv soß, min Deern. Mußt no Hus gohn, is all düster."
Auch in meiner Seele wird es ein wenig dunkel. Die Straßenlaternen
leuchten tröstlich hell. Wann sie die wohl ausmachen? – Genau,
das ist es!
"Wiehnachtsmann, stick die Lichter an, opn Steendamm, dat ick
seehn kann. Pust se wedder ut –" und was reimt sich auf "ut"?
– Mir fällt nichts ein. Dafür bekommt das Ganze eine Melodie
und einen Takt für meine Füße.
Hier.
Ein Kellergeschäft! Und wenn die auch nichts haben? Mein Mund
fragt. Meine Augen betteln stumm. – Nichts, schon seit 14 Tagen
nichts.
Auf der Straße packt mich die große Enttäuschung und Zorn
kribbelt im Genick.
Das Hansa Theater. Ich bleibe stehen. Große Sehnsucht im Herzen
schaue ich zu. Taxen, Türen auf, hübsche Herren und Damen
steigen aus, in toller Uniform neigt sich ein Pförtner, öffnet
die Tür und nimmt einen rotsamtenen Vorhang zur Seite. Wie im Märchen!
Wie Weihnachten, so hell, feierlich, geheimnisvoll.
Enttäuscht, zornig, trotzig, sehnsüchtig gehe ich jetzt singend
um die Straßenecke:
Wiehnachtsmann,
stick de Lichter an,
op’n Steendamm, dat ick seehn kann.
Pust se wedder ut, krist wat an de Schnut!
Genau!
Das ist es! Auf "ut" paßt "Schnut".
Oh, noch ein Milchgeschäft!
Die Frau dreht gerade den Schlüssel um. Zu. Läßt mich nicht
mehr hinein. Meine Nase wird platt an der Schaufensterscheibe.
Meine Augen gehen flink durch den fast leeren Raum. Da, in der
Ecke! Ein volles Faß Schmalz!
Mein Lied singend, fahre ich mit der U-Bahn heim in die kleine
Schrebergartensiedlung nach Wandsbek Gartenstadt, wo wir seit
unserer Ausbombung wohnen.
Am folgenden Morgen stehe ich in aller Frühe auf und mache mich
erneut auf den Weg in die Innenstadt. Selig vor Freude, mit 250
Gramm Schmalz in der Tasche, fahre ich laut singend nach Hause.
Mein Weihnachtsmann-Lied habe ich bis heute nicht vergessen. Es
gehörte bis jetzt ganz alleine nur mir!
Oder hat mich vor 50 Jahren jemand singen hören?
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