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  Finsterwalde, Niederlausitz
Dezember 1944
  Gretel Hardeland
Die letzte Kriegsweihnacht

In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges lebten wir in unserer Kleinstadt verhältnismäßig ruhig und unbehelligt. Das änderte sich aber mit zunehmender Kriegsdauer.

Seit ihrer Ausbombung in Essen 1943 lebten meine Großeltern bei uns in Finsterwalde. Unsere Mutter wurde in einen Maschinenbetrieb zum Ankerwickeln zwangsverpflichtet. Sie war vorher nie berufstätig gewesen, und schon gar nicht wußte sie, wozu der Anker bei einem Elektromotor dient. So stand sie recht hilflos vor ihrer Maschine und schaffte ihr Tagessoll einfach nicht. Der Meister, ein Bekannter, half immer mal, konnte aber nicht ständig bei ihr an der Werkbank stehen.

Neben Mutter arbeitete ein zwangsverpflichteter junger Franzose. Er übernahm, nachdem er sein eigenes Pensum geschafft hatte, stillschweigend Mutters Teil. Mutter brachte ihm dafür Frühstücksbrote.

Der Franzose riskierte damit Kopf und Kragen. Die Verabredung blieb natürlich nicht unbemerkt, aber die Kollegen hielten fest zusammen, keiner ließ eine Bemerkung fallen. Obwohl der Franzose in einem Lager für Zwangsarbeiter lebte, sah er in seinem einzigen Anzug immer adrett gekleidet aus, was uns unter diesen Umständen ein Rätsel war. Er war stets freundlich, alle Arbeitskollegen mochten ihn.

Eines Tages stand in unserem Hof, hinten beim Kohlenschuppen, ein völlig erschöpfter, zerlumpter Mann. Wie wir später erfuhren, war er, ein russischer Arzt, ebenfalls zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert worden. Der Mann sprach gut Deutsch. Das verwunderte mich sehr, hatte ich doch in der Schule gelernt, alle Russen seien Untermenschen, Bestien, Analphabeten. Ich war 15 Jahre alt und wußte es nicht anders.
Der Russe fragte, ob er für ein Stück Brot bei uns Holz hacken oder Kohlen schleppen dürfe.

Damals gab es viele Zwangsarbeitslager, in denen es sehr grausam zuging. Dem russischen Arzt zufolge schien es in dem Lager, in dem er untergebracht war und das außerhalb von Finsterwalde lag, erträglich zu sein. Er hatte regelmäßig die Möglichkeit, aus dem Lager herauszukommen, wenn auch meistens heimlich. Aber der ständige Hunger setzte den Häftlingen zu.

Wenn er, von den Nachbarn unbemerkt, abends bei uns eintraf, bekam er erst einmal ein warmes Essen. Beim Tee erzählte er von seiner Familie, von seinen Geschwistern, die ebenfalls Mediziner waren. Seine größte Angst war, nach Kriegsende – und er hatte recht mit seiner Behauptung, es werde bis dahin nicht mehr lange dauern, – nach der Rückkehr in seine Heimat als Kollaborateur hingerichtet zu werden. Leider geschah das tatsächlich mit zahlreichen Zwangsverschleppten. Stalin und seine Männer glaubten diesen armen Menschen nicht, daß sie nicht freiwillig mit den Deutschen mitgegangen waren.

Weihnachten 1944 kam mein Vater zum ersten Mal nicht nach Hause. Am Heiligen Abend meinte unsere Mutter, wir bekämen später Besuch. Wir sollten uns leise unterhalten, nur die Weihnachtslieder könnten wir schön laut singen. Mutter stellte sich ans Küchenfenster, lauschte nach draußen zum Hof. Schließlich öffnete sie die Tür, und wer kam da herein? – Der Franzose aus der Fabrik und der Arzt aus Rußland!

Zur letzten Kriegsweihnacht hatten wir selbst nicht viel zu essen. Damit es auch für bunte Teller für die beiden Männer reichte, fielen unsere ein bißchen kleiner aus. Was machte das schon! Mutti hatte für uns alle ein kräftiges, warmes Essen gezaubert. Danach saßen der Russe und der Franzose am Ofen, während am Baum die Kerzen brannten und wir Weihnachtslieder sangen.

Spätabends verließen die Männer vorsichtig das Haus. Die anderen Mieter durften nicht merken, daß sie bei uns gewesen waren. Auf Muttis Eltern konnten wir uns verlassen, sie verrieten nichts. Wie wir aber meinen kleinen Bruder überzeugt hatten, noch nicht einmal seinem besten Freund von unseren Besuchern zu erzählen, weiß ich heute nicht mehr.



Gretel Hardelands Vater trug auch zu Hause immer Uniform. Nur gut, daß er nicht ahnte, wen die Mutter am Heiligen Abend 1944 eingeladen hatte.

Bedrückend war für meine Mutter und mich die Tatsache, daß wir auch meinem Vater, der in den letzten Kriegsmonaten nur noch einmal nach Hause kam, auf gar keinen Fall etwas erzählen durften. Er war bis zum Kriegsende überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus. Schon in Friedenszeiten zeigte er sich gern in Uniform, sogar bei der Taufe meines Bruders. Während des Krieges erinnere ich mich an keinen Urlaubs- oder Feiertag, an dem er nicht seine Uniform anhatte, sogar am Heiligabend. Ob er uns aus "Patriotismus" verraten hätte? ...
Mit Sicherheit hätte er sich sofort von meiner Mutter getrennt aus maßloser Enttäuschung, daß sie es gewagt hatte, "Untermenschen" ein wenig Nächstenliebe zu schenken.

   
  Aus: "Wir sollten Helden sein", Reihe ZEITGUT, Band 12.
   
   
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  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

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