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In
den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges lebten wir in unserer
Kleinstadt verhältnismäßig ruhig und unbehelligt. Das änderte
sich aber mit zunehmender Kriegsdauer.
Seit ihrer Ausbombung in Essen 1943 lebten meine Großeltern bei
uns in Finsterwalde. Unsere Mutter wurde in einen Maschinenbetrieb
zum Ankerwickeln zwangsverpflichtet. Sie war vorher nie berufstätig
gewesen, und schon gar nicht wußte sie, wozu der Anker bei einem
Elektromotor dient. So stand sie recht hilflos vor ihrer Maschine
und schaffte ihr Tagessoll einfach nicht. Der Meister, ein
Bekannter, half immer mal, konnte aber nicht ständig bei ihr an
der Werkbank stehen.
Neben Mutter arbeitete ein zwangsverpflichteter junger Franzose.
Er übernahm, nachdem er sein eigenes Pensum geschafft hatte,
stillschweigend Mutters Teil. Mutter brachte ihm dafür Frühstücksbrote.
Der Franzose riskierte damit Kopf und Kragen. Die Verabredung
blieb natürlich nicht unbemerkt, aber die Kollegen hielten fest
zusammen, keiner ließ eine Bemerkung fallen. Obwohl der Franzose
in einem Lager für Zwangsarbeiter lebte, sah er in seinem
einzigen Anzug immer adrett gekleidet aus, was uns unter diesen
Umständen ein Rätsel war. Er war stets freundlich, alle
Arbeitskollegen mochten ihn.
Eines Tages stand in unserem Hof, hinten beim Kohlenschuppen, ein
völlig erschöpfter, zerlumpter Mann. Wie wir später erfuhren,
war er, ein russischer Arzt, ebenfalls zur Zwangsarbeit nach
Deutschland deportiert worden. Der Mann sprach gut Deutsch. Das
verwunderte mich sehr, hatte ich doch in der Schule gelernt, alle
Russen seien Untermenschen, Bestien, Analphabeten. Ich war 15
Jahre alt und wußte es nicht anders.
Der Russe fragte, ob er für ein Stück Brot bei uns Holz hacken
oder Kohlen schleppen dürfe.
Damals gab es viele Zwangsarbeitslager, in denen es sehr grausam
zuging. Dem russischen Arzt zufolge schien es in dem Lager, in dem
er untergebracht war und das außerhalb von Finsterwalde lag, erträglich
zu sein. Er hatte regelmäßig die Möglichkeit, aus dem Lager
herauszukommen, wenn auch meistens heimlich. Aber der ständige
Hunger setzte den Häftlingen zu.
Wenn er, von den Nachbarn unbemerkt, abends bei uns eintraf, bekam
er erst einmal ein warmes Essen. Beim Tee erzählte er von seiner
Familie, von seinen Geschwistern, die ebenfalls Mediziner waren.
Seine größte Angst war, nach Kriegsende – und er hatte recht
mit seiner Behauptung, es werde bis dahin nicht mehr lange dauern,
– nach der Rückkehr in seine Heimat als Kollaborateur
hingerichtet zu werden. Leider geschah das tatsächlich mit
zahlreichen Zwangsverschleppten. Stalin und seine Männer glaubten
diesen armen Menschen nicht, daß sie nicht freiwillig mit den
Deutschen mitgegangen waren.
Weihnachten 1944 kam mein Vater zum ersten Mal nicht nach Hause.
Am Heiligen Abend meinte unsere Mutter, wir bekämen später
Besuch. Wir sollten uns leise unterhalten, nur die
Weihnachtslieder könnten wir schön laut singen. Mutter stellte
sich ans Küchenfenster, lauschte nach draußen zum Hof. Schließlich
öffnete sie die Tür, und wer kam da herein? – Der Franzose aus
der Fabrik und der Arzt aus Rußland!
Zur letzten Kriegsweihnacht hatten wir selbst nicht viel zu essen.
Damit es auch für bunte Teller für die beiden Männer reichte,
fielen unsere ein bißchen kleiner aus. Was machte das schon!
Mutti hatte für uns alle ein kräftiges, warmes Essen gezaubert.
Danach saßen der Russe und der Franzose am Ofen, während am Baum
die Kerzen brannten und wir Weihnachtslieder sangen.
Spätabends verließen die Männer vorsichtig das Haus. Die
anderen Mieter durften nicht merken, daß sie bei uns gewesen
waren. Auf Muttis Eltern konnten wir uns verlassen, sie verrieten
nichts. Wie wir aber meinen kleinen Bruder überzeugt hatten, noch
nicht einmal seinem besten Freund von unseren Besuchern zu erzählen,
weiß ich heute nicht mehr.
Gretel Hardelands Vater trug auch zu Hause immer Uniform. Nur
gut, daß er nicht ahnte, wen die Mutter am Heiligen Abend 1944
eingeladen hatte.
Bedrückend
war für meine Mutter und mich die Tatsache, daß wir auch meinem
Vater, der in den letzten Kriegsmonaten nur noch einmal nach Hause
kam, auf gar keinen Fall etwas erzählen durften. Er war bis zum
Kriegsende überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus. Schon
in Friedenszeiten zeigte er sich gern in Uniform, sogar bei der
Taufe meines Bruders. Während des Krieges erinnere ich mich an
keinen Urlaubs- oder Feiertag, an dem er nicht seine Uniform
anhatte, sogar am Heiligabend. Ob er uns aus "Patriotismus"
verraten hätte? ...
Mit Sicherheit hätte er sich sofort von meiner Mutter getrennt
aus maßloser Enttäuschung, daß sie es gewagt hatte, "Untermenschen" ein wenig Nächstenliebe zu schenken.
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