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Wenn
es draußen ungemütlich wurde, tagelang regnete und der Sturm
durch die Bäume fegte, wenn es merklich kühler wurde und wir
Kinder lieber in der warmen Stube spielten, fragte bestimmt
irgendeiner von uns: "Na, wetten, daß Balduin bald kommt?"
Balduin war ein Landstreicher, der jeden Herbst kam, um bei uns zu
"überwintern". Für uns Kinder bedeutete das eine herrliche
Abwechslung in diesen grauen Herbst- und Wintertagen, denn Balduin
war Puppenspieler.
Das ganze Jahr über zog er durchs Land und spielte in Thüringen
auf Dorffesten. Sein "Ensemble" trug er im Rucksack. Er benötigte
nur ein paar Puppen, um sein Publikum zu begeistern. Über eine
lange Leine spannte er ein dunkelrotes, fettiges Samttuch, das er
mit Klammern befestigte. Das war "Balduins Puppentheater".
Wenn er hier bei uns in Altenburg den Winter verbrachte, führte
er für uns und unsere Freunde aus der Nachbarschaft Stücke auf.
Ich empfand es immer als eine Ehre, daß dieser große, dunkle
Mann, der aus einer anderen Welt zu kommen schien, nur für uns
Kinder spielte.
Er hatte etwas Fremdländisches an sich, etwas Rätselhaftes, er
war mir ein bissel gruselig, was meine Phantasie und meine Neugier
auf Geschichten und Märchen noch mehr anregte. Er verzauberte uns
mit seinen Puppen, ließ sie singen und tanzen, sich beschimpfen
und prügeln, aber zuletzt wurde immer alles gut. Balduin stellte
Begebenheiten dar, die sich irgendwo auf einem Dorf oder in einer
kleinen Stadt in etwa so zugetragen hatten. Und damit ließ er uns
teilhaben an der großen, weiten Welt.
Wenn er dann endlich hier ankam, hämmerte er gewaltig an unsere
Haustüre, weil er wußte, daß er erst eine bestimmte Prozedur über
sich ergehen lassen mußte: Großmutter und Mutter schrien dann:
"Balduiiin! Draußen bleiben!"
Und er blieb vor der Tür stehen. Vater brachte ihn in die
Werkstatt. Dort mußte Balduin seine total abgewetzten und von Flöhen
und Wanzen besiedelten Klamotten ausziehen, sie wurden sogleich
verbrannt. Mutter rannte in die Waschküche, ließ Wasser in den
großen Kessel ein und zündete darunter ein Feuer an. Auch der
kleine Badeofen wurde angeheizt. In der Werkstatt bekam Balduin
vom Vater einen Mantel, dann mußte er sich in der Badewanne
abschrubben, rasieren und von meinem Vater die Haare stutzen
lassen.
Dieses Badevergnügen war für uns Kinder schon eine
Extra-Vorstellung. Wir lagen vor der Waschküche auf der Lauer und
warteten darauf, bis er erst leise, dann immer lauter zu singen
begann. Da unsere Badestube ein Gewölbe hatte, klang es
vortrefflich. Und es waren bestimmt keine anständigen Lieder,
denn mich schauderte es immer sehr. Aber natürlich wollte ich das
alles genauso miterleben wie meine Brüder. Ich war gerade sechs
Jahre alt.
Dann kam ein total rotgesichtiger, völlig entstellter Balduin aus
der Badestube heraus. Ohne Bart, mit kurzem Haar, sauberem Hemd,
sauberen Hosen, frischen Socken und Holzpantoffeln. "Na, Frau
Meestern, gefall‘sch Euch?"
Ich weiß noch genau, wie er meine Mutter angrinste mit seinen
funkelnden, dunklen Augen. Dann setzte er sich an den gedeckten
Tisch und aß, aß und aß. Ganz langsam, ganz bedächtig mahlte
er mit den Backenknochen, wobei er lustig um sich blickte. Wir
Kinder standen am Tisch und wunderten uns nur, was dieser Mensch
alles in sich hineinstopfen konnte. Nach diesem ausgiebigen Essen
verschwand Balduin in der Gesellenkammer über der Werkstatt und
schlief stundenlang. Meine Brüder hatten ihn da oben neben der
Leistenkammer belauscht und kamen zurück mit der Bemerkung: "Der schnorcht soo sehre, da biechen sisch de Balken!"
(weiter gehts im Buch)
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