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  Altenburg, Thüringen;
1937
  Maria Kühl
Balduin, der Puppenspieler

Wenn es draußen ungemütlich wurde, tagelang regnete und der Sturm durch die Bäume fegte, wenn es merklich kühler wurde und wir Kinder lieber in der warmen Stube spielten, fragte bestimmt irgendeiner von uns: "Na, wetten, daß Balduin bald kommt?"

Balduin war ein Landstreicher, der jeden Herbst kam, um bei uns zu "überwintern". Für uns Kinder bedeutete das eine herrliche Abwechslung in diesen grauen Herbst- und Wintertagen, denn Balduin war Puppenspieler.

Das ganze Jahr über zog er durchs Land und spielte in Thüringen auf Dorffesten. Sein "Ensemble" trug er im Rucksack. Er benötigte nur ein paar Puppen, um sein Publikum zu begeistern. Über eine lange Leine spannte er ein dunkelrotes, fettiges Samttuch, das er mit Klammern befestigte. Das war "Balduins Puppentheater". Wenn er hier bei uns in Altenburg den Winter verbrachte, führte er für uns und unsere Freunde aus der Nachbarschaft Stücke auf. Ich empfand es immer als eine Ehre, daß dieser große, dunkle Mann, der aus einer anderen Welt zu kommen schien, nur für uns Kinder spielte.

Er hatte etwas Fremdländisches an sich, etwas Rätselhaftes, er war mir ein bissel gruselig, was meine Phantasie und meine Neugier auf Geschichten und Märchen noch mehr anregte. Er verzauberte uns mit seinen Puppen, ließ sie singen und tanzen, sich beschimpfen und prügeln, aber zuletzt wurde immer alles gut. Balduin stellte Begebenheiten dar, die sich irgendwo auf einem Dorf oder in einer kleinen Stadt in etwa so zugetragen hatten. Und damit ließ er uns teilhaben an der großen, weiten Welt.

Wenn er dann endlich hier ankam, hämmerte er gewaltig an unsere Haustüre, weil er wußte, daß er erst eine bestimmte Prozedur über sich ergehen lassen mußte: Großmutter und Mutter schrien dann: "Balduiiin! Draußen bleiben!"
Und er blieb vor der Tür stehen. Vater brachte ihn in die Werkstatt. Dort mußte Balduin seine total abgewetzten und von Flöhen und Wanzen besiedelten Klamotten ausziehen, sie wurden sogleich verbrannt. Mutter rannte in die Waschküche, ließ Wasser in den großen Kessel ein und zündete darunter ein Feuer an. Auch der kleine Badeofen wurde angeheizt. In der Werkstatt bekam Balduin vom Vater einen Mantel, dann mußte er sich in der Badewanne abschrubben, rasieren und von meinem Vater die Haare stutzen lassen.

Dieses Badevergnügen war für uns Kinder schon eine Extra-Vorstellung. Wir lagen vor der Waschküche auf der Lauer und warteten darauf, bis er erst leise, dann immer lauter zu singen begann. Da unsere Badestube ein Gewölbe hatte, klang es vortrefflich. Und es waren bestimmt keine anständigen Lieder, denn mich schauderte es immer sehr. Aber natürlich wollte ich das alles genauso miterleben wie meine Brüder. Ich war gerade sechs Jahre alt.

Dann kam ein total rotgesichtiger, völlig entstellter Balduin aus der Badestube heraus. Ohne Bart, mit kurzem Haar, sauberem Hemd, sauberen Hosen, frischen Socken und Holzpantoffeln. "Na, Frau Meestern, gefall‘sch Euch?"

Ich weiß noch genau, wie er meine Mutter angrinste mit seinen funkelnden, dunklen Augen. Dann setzte er sich an den gedeckten Tisch und aß, aß und aß. Ganz langsam, ganz bedächtig mahlte er mit den Backenknochen, wobei er lustig um sich blickte. Wir Kinder standen am Tisch und wunderten uns nur, was dieser Mensch alles in sich hineinstopfen konnte. Nach diesem ausgiebigen Essen verschwand Balduin in der Gesellenkammer über der Werkstatt und schlief stundenlang. Meine Brüder hatten ihn da oben neben der Leistenkammer belauscht und kamen zurück mit der Bemerkung: "Der schnorcht soo sehre, da biechen sisch de Balken!"
(weiter gehts im Buch)

   
  Aus: "Pimpfe, Mädels & andere Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 4.
   
   
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  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

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