Kurzbeschreibung
"Hurra, endlich ist es dunkel und keine Wolken sind am
Himmel!" So freute sich der 15-jährige Rostocker Schüler, wenn
er seinem Hobby nachgehen konnte. Heinz Neckel schildert in vielen
ungewöhnlichen Episoden die Vorgeschichte und den Anfang seines
Werdegangs zum Hauptobservator an der Hamburger Sternwarte.
1943/44 in ein KLV-Lager evakuiert, absolviert er den
"Jungvolk-Dienst" mit Indianerspielen im Wild-West-Dress.
Das Kriegsende erlebt er inmitten einer Kompanie der Waffen-SS, die
sich kampflos fünf GI's ergibt. Dann 1946 – nach der Drohung eines
GPU-Offiziers, ihn zu erschießen – das Schlüsselerlebnis: die
Sichtung der Mondkrater durch ein Papprohr mit eingesetztem
Brillenglas. Ab jetzt will er mehr sehen. Bauteile für
fortgeschrittene Fernrohrtechnik müssen her. Die findet der Junge auf
dem Gelände des ehemaligen Luftwaffen-Zeuglagers an der Pötenitzer
Wiek. Finanzielle Unterstützung leisten auch sowjetische Offiziere
durch zünftige Trinkgelage im Anschluß an astronomische
Beobachtungen an seinem Fernrohr. Die Sonnenfinsternis 1949 verführt
ihn zu ersten Fotoaufnahmen mit seinem Spiegelteleskop, aufgestellt
auf dem Schulhof der Rostocker Goethe-Oberschule.
Nach dem Abitur 1950 bekommt er trotz FDJ-Abstinenz einen Studienplatz
in Rostock, nebenher ist er Aushilfslehrer für Mathematik, Physik und
Chemie an der Fachschule für Gartenbau in Ribnitz. Dann folgen zwei
Semester in Jena und die Flucht in den Westen in einem US-Militärzug.
In Heidelberger beginnt der karge Start im Wirtschaftswunderland der fünfziger
Jahre. Und weiter folgt Episode auf Episode, bis zum Abschluss des
Studiums mit der Promotion und dem Start zu einem einjährigen
USA-Aufenthalt: eine Schiffsreise an Bord der "New York"
nach New York, der Geburtsstadt des Autors.
Heinz
Neckel erzählt flott und unterhaltsam. Nebenher gewährt er einen
Einblick in die Jahre des zweiten Weltkrieges, die Nachkriegszeit und
die damalige Welt der Astronomen. Man muss kein Liebhaber der Sterne
sein, um dieses Buch mit Genuss und Gewinn zu lesen.
Autor
Heinz
Neckel, geboren 1930 in New York, Kindheit (ab 1935) und Jugend in
Rostock. Physik- und Mathematik-Studium in Rostock (1950/51), Jena
(1951/52; ab jetzt einschl. Astronomie), und Heidelberg (1952-56).
Promotion 1956. 1957/58 als „Fellow of the Cleveland Astronomical
Society“ am Warner and Swasey Observatory in Cleveland/Ohio. 1958
bis 1962 wissensch. Assistent an der Landessternwarte Heidelberg-Königstuhl,
1962 Observator, 1968 Hauptobservator an der Hamburger Sternwarte in
Bergedorf.
Zu speziellen Messungen an Sonne oder Sternen viele stets mehrwöchige
Aufenthalte, oft im Zweier- oder Mehrfach-Team, in Izaña/Teneriffa
(1959), auf dem Jungfraujoch/Schweiz (1961-63), in Stefanion/Peloponnes
(1967-70), bei der Europäischen Südsternwarte in Chile (1970), am
Kitt Peak National Solar Observatory in Arizona (1981, 1986-90), und
am Kennedy-Space-Center in Florida sowie Johnson-Space-Center in
Houston/Texas (1983/84; Mitwirkung bei einem französisch-belgisch-deutschen
Projekt zur Messung der Sonnenstrahlung im Jahre 1983 vom Spacelab 1
aus, an Bord der im Jahre 2003 verunglückten Raumfähre Columbia).
Autor oder Ko-Autor zahlreicher, meist englisch-sprachiger Veröffentlichungen
in astronomischen Fachzeitschriften (1958-2005), einige auch in Hand-
bzw. Jahrbüchern.
Verheiratet, vier Kinder, vier Enkelkinder, seit 1996 im sogenannten
Ruhestand. Lebt in Reinbek bei Hamburg.
Leseproben
aus »Sterne über Ost und West«
Von New York nach Rostock
(...)
Im April 1935 zogen wir nach Rostock in ein Zweifamilienhaus in der so
genannten Gartenstadt. Schon am Umzugstag lernte ich meinen neuen
Freund Wolfram kennen. Wie sein Vater wurde er später Posaunist beim
Rostocker Symphonie-Orchester. Bis 1943, als wir in verschiedene
KLV-Lager kamen, hatten wir im ganzen Viertel nahezu alle Familien mit
Kindern kennen gelernt, nicht zuletzt auch durch das Schlangestehen
vor Milch- oder Bäckerläden.
Rostock,
Rosenweg, wo wir von 1935 bis 1938 wohnten. Schon am Umzugstag traf
ich Wolfram, meinen neuen Freund. Foto um 1980.
Mein
Vater war nun Kassenprüfer beim Raiffeisen-Verband, für den er schon
vor 1929 gearbeitet hatte. Montags fuhr er mit Bus und Bahn zu den
Raiffeisen-Kassen in den ländlichen Regionen Mecklenburgs, freitags
oder sonnabends kam er zurück.
Erster »militärischer Höhepunkt« war für uns Kinder der Einzug
der Soldaten in die neue Artillerie-Kaserne 1935. Mein Freund Wolfram
und ich liefen ihnen auf der Adolf-Hitler-Straße, heute
Kopernikusstraße, neugierig entgegen. Schon von weitem hörte man die
Marschmusik und dann sahen wir sie: Fahnenträger, Offiziere und
selbst die Musiker, flotte Reitermärsche spielend, hoch zu Ross.
Jeweils vier oder sechs Pferde zogen die Wagen mit den Geschützmannschaften
und den Geschützen dahinter.
Unzertrennlich.
Wolfram und ich im September 1939.
Ab jetzt wurde es für uns Jungen zweimal im Jahr »militärisch«: am
»Tag der Wehrmacht« durften wir in der Reithalle reiten oder uns in
Pferdekutschen durch die Straßen kutschieren lassen und Essen aus der
Gulaschkanone holen. Am »Heldengedenktag« waren wir beim
Zapfenstreich auf dem Kasernenhof mit dabei. Die heute eher lächerlich
wirkenden Uniformen der Weltkriegs-veteranen mit Pickelhaube und
Federbusch obendrauf beeindruckten uns sehr. Einmal sahen wir den
greisen Haudegen Feldmarschall von Mackensen ganz aus der Nähe. Ich
erinnere mich nicht, bei diesen Veranstaltungen jemals Personen in SA,
SS oder einer anderen NS-Uniform gesehen zu haben. Aus heutiger Sicht
ähnelten sie eher den Paraden zum Geburtstag der britischen Königin.
Mit Papphelm, Spielzeuggewehr und unserem Heer aus über 100
Lineol-Soldaten ahmten wir Kinder nach, was wir gesehen und gehört
hatten.
In
unserem Leben wie in dem unserer Bekannten spielten die Nazis keine
Rolle. Niemand von uns ging zu Parteiveranstaltungen und kein
Blockwart oder Zellenleiter kümmerte sich um uns. Unsere Tageszeitung
war der »Rostocker Anzeiger«, sicher gleichgeschaltet wie alle
anderen Zeitungen, aber eben die einzige Informationsquelle für
lokale Ereignisse und für große Politik.
(...)
Ostern 1937 wurde ich eingeschult. Auf dem Klassenfoto sieht man auch
einen etwa zwölfjährigen Roma oder Sinti, der vorübergehend am
Unterricht teilnahm. Die Fibel handelte von »Heini und Leni«, an
nazistische oder militaristische Inhalte erinnere ich mich nicht.
Klassenfoto
vom Mai 1937. Zu Ostern war ich eingeschult worden. Ich bin in der
dritten Reihe der Dritte von rechts. Der Junge ganz hinten ist ein
Roma oder Sinti, der für einige Zeit am Unterricht teilnahm.
Den ersten
vagen Hinweis auf einen möglichen Krieg gab es im Winter 1937/38:
Eine Verdunkelungsübung war angeordnet. Alle Fenster waren so mit
schwarzem Papier zu versehen, dass kein Licht nach draußen drang. Am
nächsten Morgen fragte ich meine Mutter, ob denn die Flugzeuge da
gewesen wären.
Im Frühjahr 1938 zogen wir zwei Straßen weiter. Ab jetzt hatten wir
auch ein Radio, einen sogenannten Volksempfänger. Damit konnten wir
aber nur einen Langwellensender, den »Deutschlandsender«, empfangen
und das unter starkem Rauschen.
Zwei Häuser weiter wohnte ein SS-Arzt mit seiner Frau. Zu ihnen hatte
keiner der Nachbarn Kontakt. Er besaß eines der zwei Autos in unserer
Straße. Wenn er nach Hause kam, hupte er, damit das Dienstmädchen
die Garage öffnete. 1945 vergiftete er sich und seine Frau. Einige Häuser
weiter lebte eine Familie mit zwei Söhnen, der eine etwas älter, der
andere etwas jünger als ich: Adolf und Hermann. Zu dieser Zeit kaufte
man auch noch im jüdischen Kaufhaus Wertheim, neben »Zeeck« das größte
Kaufhaus in Rostock. Ich hörte aber, wie Nachbarn darüber sprachen,
ob man das noch riskieren könne. An die »Reichskristallnacht« habe
ich keine persönlichen Erinnerungen.
Die
Russen kommen
Um den 25. April 1945 fuhren wir ein letztes Mal mit der Eisenbahn von
Schwerin nach Rostock. Dicht gedrängt standen wir auf der Plattform
eines Personenwagens, als mich plötzlich der Teufel ritt und ich
unsere Mutter auf den Takt der Eisenbahnräder aufmerksam machte: Bum,
bum, bum – bum; bum, bum, bum – bum. Wie das Pausenzeichen von BBC
London, dem Feindsender.
Meine Mutter blieb äußerlich ganz ruhig, aber tatsächlich hatte sie
einen fürchterlichen Schreck bekommen. Um keinem Mitreisenden
Gelegenheit zu geben, uns auf dem Hauptbahnhof bei der Polizei
anzuschwärzen, stieg sie beim nächsten Stopp, der letzten Station
vor Rostock, urplötzlich mit uns aus. Wie könne ich nur sooo
leichtsinnig sein, warf sie mir zu Recht vor. Zu Fuß wanderten wir
heimwärts.
Kurz vor dem Ziel mussten wir einen Panzergraben überqueren, den an
den Tagen zuvor Rostocker Einwohner rund um die Stadt hatten ausheben
müssen. Am Abend bestätigte BBC London unsere Befürchtung: Die
Amerikaner würden vermutlich nur bis Schwerin und Wismar vorstoßen,
Rostock aber würde von den Russen besetzt werden. Diese Meldung
entschied, wo wir das Kriegsende erwarten wollten: Auf dem Bauernhof
meines Onkels im Klützer Winkel, zwischen Wismar und Lübeck, wo Großmutter
A. schon angekommen war.
Unsere Mutter nähte aus ihrem Sommermantel einen großen Sack für
die wichtigsten Utensilien, die wir mitnehmen wollten, und brachte die
Wohnung auf Hochglanz, damit die Russen keinen schlechten Eindruck
bekommen sollten. Ich grub im Innern unserer Gartenlaube eine Grube für
die alte Seekiste von Großvater, in der dann unsere wertvollsten
Dinge wie das drei Generationen alte Familiengeschirr verstaut wurden.
Am Boden der Grube hob ich noch eine zweite, kleinere Vertiefung aus für
die Stahlkassette mit den allerwertvollsten Dingen wie den Fotoalben.
Wir hofften, dass etwaige Schatzjäger, wenn sie die Seekiste gefunden
hätten, nicht noch tiefer nach Schätzen suchen würden.
Zwischendurch wurden die Lebensmittelkarten leer gekauft und alles
Essbare in Taschen und Rucksäcken verstaut.
Früh am Morgen des 30. April, einem Montag, brachen wir auf. Zwei
Tage, bevor die Russen kamen. Ich schob mein Fahrrad, das mit dem »Mantelsack«
und vielen Taschen voll beladen war, unsere Mutter und mein achtjähriger
Bruder liefen nebenher, ebenfalls mit Rucksäcken und Taschen bepackt.
Auf der heutigen B 105 ging es westwärts, mitten im sich endlos
dahinziehenden Strom aus Flüchtlingstrecks und Wehrmachtsfahrzeugen.
Schon kurz hinter der Abzweigung nach Warnemünde bot sich uns die
Gelegenheit, in einem Funkwagen der Wehrmacht mitzufahren. Fahrrad und
Sack wurden auf dem Dach verstaut, wir im Innern des Fahrzeugs
zwischen den Funkgeräten.
Am Abend war in Wismar Endstation. Wir übernachteten im überfüllten
Wartesaal des Bahnhofs und am Morgen des 1. Mai zogen wir weiter
Richtung Klütz. Inzwischen hatten wir auf dem Kopf und in der
Kleidung heimliche Begleiter: Läuse. Wieder dauerte es nicht lange,
bis ein Wehrmachtsauto hielt und wir zur Mitfahrt eingeladen wurden.
Bis Klütz. Damit waren wir praktisch am Ziel, denn nun lagen nur noch
rund zehn Kilometer Feldweg vor uns.
Schon tauchte am Horizont das Dach des Bauernhauses auf, als von
hinten ein Pkw nahte und bei uns stoppte. Der Fahrer, ein SS-Mann,
fragte nach dem Weg zum Bauernhof meines Onkels. Als er erfuhr, dass
wir ebenfalls dorthin wollten, riet er uns, umzukehren, da der Hof zu
einer Verteidigungsstellung ausgebaut und von allen Zivilpersonen geräumt
werde. Sprach’s und fuhr davon. 20 Minuten später waren auch wir am
Ziel.
Der
abgelegene Bauernhof meines Onkels im Klützer Winkel, zwischen Wismar
und Lübeck. Hier arbeitete ich in den Sommerferien und hier
erwarteten wir Anfang Mai 1945 das Kriegsende. Der Hof war 1946
Ausgangspunkt spezieller »astronomischer Expeditionen«.
Auf dem Gehöft wimmelte es von SS-Soldaten. Tatsächlich hatte eine
ganze Kompanie der Waffen-SS den Befehl, den Hof zu verteidigen. Den
Grund erfuhren wir bald: Nur drei Kilometer entfernt machte auf seinem
Weg nach Westen Reichsführer der SS Heinrich Himmler in Schloss
Kalkhorst Zwischenstopp. Drei Wochen später zerbiss er in Lüneburg
seine Zyankalikapsel.
Die
erste Expedition
Die Sommerferien 1946 verbrachten wir auf dem Bauernhof unseres
Onkels, etwa 20 Kilometer östlich von Lübeck. Dort hatte ich schon
in all den Kriegsjahren in den Ferien bei der Ernte geholfen. Diesmal
ging natürlich das Fernrohr mit auf die Reise, auch wenn am Ende der
vielstündigen Bahnfahrt von Rostock nach Wismar noch rund 25
Kilometer zu Fuß zurückzulegen waren und bei der Rückreise auf die
entsprechende Menge Eier, Butter und Korn verzichtet werden musste.
In der Veranda des Bauernhauses fand ich das ideale Stativ für mein
Fernrohr: einen etwa eineinhalb Meter hohen, säulenartigen Ständer für
Blumentöpfe. Der Ständer war leicht nach draußen zu transportieren,
so dass die Beobachtungen im Freien erfolgen konnten.
Ebenfalls
eifrige »Beobachter«. Für meine Cousinen und Vettern war die
Besichtigung von Mond, Venus und Jupiter ein seltenes Erlebnis.
Für
unsere Verwandten war die Besichtigung von Mond, Venus als Abendstern
und Jupiter natürlich ein seltenes Erlebnis, das sie sich auch nach
einem harten Arbeitstag nicht entgehen ließen. Wir Kinder, mit 15
Jahren war ich der Älteste, visierten am Tage aber auch irdische
Ziele an. Von einer Anhöhe, auf der sich ein Hügelgrab befand,
beobachteten wir die holsteinische Küste jenseits der Lübecker
Bucht. Nicht zu übersehen war die in der Bucht kieloben liegende »Kap
Arkona«, die noch in den letzten Kriegstagen mit vielen Hunderten
KZ-Häftlingen an Bord bombardiert worden und gekentert war.
Eines Tages machte mich mein fünf Jahre jüngerer Vetter darauf
aufmerksam, dass auf dem Gelände des ehemaligen Zeuglagers der
deutschen Luftwaffe bei Pötenitz, an der Pötenitzer Wiek und direkt
an der schmalen Landverbindung der zu Lübeck gehörenden Halbinsel
Priwall gelegen, unheimlich viele Geräte und Bauteile herumlägen,
die man vielleicht gut zum Bau von Fernrohren brauchen könnte. Das
ließ ich mir nicht zweimal sagen. Schon am nächsten Tag bekamen wir
beide vom Ernteeinsatz frei und radelten gen Pötenitz, jeder mit
einer möglichst großen Kiste auf dem Gepäckträger.
An
der Pötenitzer Wiek, wo mein Cousin und ich 1946 nach astronomisch
verwertbarem Gerät stöberten. Bei meinem Besuch im Sommer 1990 sind
immer noch Trümmerreste des ehemaligen Luftwaffen-Zeuglagers zu
sehen.
Dort angekommen, begannen wir sofort mit der Schatzsuche. Obwohl wir
kein schlechtes Gewissen hatten, gaben wir doch Acht, dass wir möglichst
nicht auf dem ausgedehnten Gelände gesehen wurden. Da direkt am Ufer
der Wiek die jahrhundertelang umstrittene Grenze zwischen Lübeck und
Mecklenburg, seit 1945 Grenze zwischen Ost und West, verlief, machten
wir uns sogleich einer Grenzverletzung schuldig, als wir zu einigen,
im zu Lübeck gehörenden Wasser verankerten Dornier-Flugbooten
wateten, um sie nach astronomisch verwertbaren Geräten abzusuchen.
Leider gab es nichts zu holen.
Erfolgreicher verlief die Erkundung auf freiem Gelände. Unter Büschen,
in kniehohem Gras, oft auch im aufgewühltem Erdboden, fanden wir, natürlich
stark verschmutzt, jede Menge Geräte, deren ursprüngliche Funktion
uns meist rätselhaft blieb. Unsere besondere Aufmerksamkeit galt natürlich
allen Geräten mit drehbaren Teilen sowie allen optischen
Instrumenten, insbesondere noch brauchbaren Objektiven und Okularen.
Alles, was verwertbar und für unsere Kisten nicht zu groß war, wurde
sorgfältig verladen und per Rad abtransportiert.
Die Materialbeschaffungstour wurde noch einige Male wiederholt, bis
wir glaubten, nun wirklich alles Brauchbare entdeckt zu haben. Dabei
öffneten wir auch verschlossene Kisten, die in den größtenteils
zerstörten Hallen herumstanden und möglicherweise zum Abtransport in
die Sowjetunion vorgesehen waren. Etliche Male hockten wir mucksmäuschenstill
hinter einem Pfeiler, während ein sowjetischer Posten ganz in der Nähe
patrouillierte.
Auf den Dünen am Priwall tauchten von Zeit zu Zeit ebenfalls Posten
auf, die nach kurzem Rundumblick bald wieder verschwanden,
wahrscheinlich in einem Unterstand. Außer uns hatten offenbar noch
andere Leute diese Beobachtung gemacht, denn sobald der Posten
untergetaucht war, huschten geduckte Gestalten zwischen den Dünen
westwärts.
Drei
Versionen eines Spiegelteleskops
Seit Mitte 1946 schickten uns in den USA lebende Verwandte und
Bekannte dann und wann Lebensmittelpakete, die stets auch Zigaretten
und Bohnenkaffee, die einzige harte Währung der damaligen Zeit,
enthielten. Und diese brauchte man, wenn man im Jahre 1947 ein größeres
Spiegelteleskop bauen wollte.
Zunächst
erstanden wir von einem älteren Liebhaberastronomen in Schwerin, der
seine Optiken selbst zu schleifen pflegte, einen sechszölligen
Parabolspiegel aus schwarzem Glas und mit einer Brennweite von 213
Zentimetern sowie ein rechtwinkliges Prisma. Der Kaufpreis dürfte
etwa drei Pfund Bohnenkaffee und vielleicht auch einige Schachteln »Chesterfield«
betragen haben. Dazu bekamen wir ein Buch geschenkt, in dem der Bau
von Fernrohren und Montierungen – fast nur aus Holz – beschrieben
wurde. Das war zwar gut und schön, aber was nützte es, wenn man
weder Bretter noch das richtige Werkzeug besaß.
Also wurde zunächst ein Provisorium gebaut. Irgendwoher kriegte ich
drei schwere, ungehobelte Holzbohlen, über zwei Meter lang, etwa 17
Zentimeter breit und mindestens zwei Zentimeter dick. Aus ihnen
nagelten wir die Urfassung unseres Spiegelteleskops zusammen: ein über
zwei Meter langer, oben offener Trog. Spötter sagten dazu »Sarg ohne
Deckel«. An dem einen, verschlossenen Ende montierten wir den
Spiegel, am anderen, oberen Ende das Prisma und ein Okular.
Zum Beobachten legten wir das obere Ende des etwa 15 Kilogramm
schweren Ungetüms auf eine Fensterbank, das untere Ende, je nach Höhe
des Beobachtungsobjektes, auf den Fußboden, auf einen Stuhl, einen
passenden Stapel Bücher oder beides. Irdisches Testobjekt war dieses
Mal der etwa zehn Kilometer entfernte Leuchtturm von Warnemünde, den
wir aus einem Fenster des Dachbodens unter die Lupe nahmen. Und schon
bald waren Mond und Jupiter die nächsten Objekte. Von dem Ergebnis
waren nicht nur wir begeistert.
Wenn unsere einquartierten Russen ihre Wodka-Partys gaben, zu denen
oft mehr als zehn Kameraden eingeladen waren, dann gehörte zum
Programm auch ein Blick durch mein Spiegelteleskop, bevor der Abend
feuchtfröhlich zu Ende ging. (...)
April
1948. Als Pennäler mit dem Spiegelteleskop, noch in der Holzversion,
im Garten hinter unserem Haus. Am oberen Ende des Tubus ist das Okular
zu erkennen, ein Handmikroskop ohne Objektiv, darunter der hölzerne
Sucher mit der Optik aus Fernrohr Nummer 1 sowie ein kleines,
ausziehbares Handfernrohr. Eines der größten Probleme war die
Beschaffung und Montage eines passenden – hier von mir verdeckten
– Gegengewichts gewesen. Zum Beobachten hoch am Himmel stehender
Gestirne musste man auf eine Trittleiter steigen.
Partielle
Sonnenfinsternis und Astronomie-AG
Die Sonnenfinsternis am 28. April 1949 war die erste in Rostock
sichtbare Finsternis, seit wir uns mit Astronomie beschäftigten. Sie
fand natürlich am Vormittag eines Schultages statt, etwa von 8.30 Uhr
bis 10.20 Uhr MESZ.
Einen ganzen Vormittag den Unterricht zu schwänzen war zu riskant,
also musste eine andere Lösung gefunden werden, um die Finsternis
beobachten und fotografieren zu können. Wir, das waren einige
Klassenkameraden und ich, durften mein Spiegelteleskop an diesem Tag
auf dem Schulhof aufstellen und wurden bis zum Ende des Abbaues vom
Unterricht befreit. Der Rest der Klasse bekam für die Dauer der
Finsternis frei.
Zuvor musste das Fernrohr noch für fotografische Aufnahmen umgerüstet
werden. Dazu sägten wir eine passende Öffnung in den Tubus und
befestigten außen die Halterung für die von einem alten Fotoapparat
meiner Eltern stammenden Kassetten für Fotoplatten 9x12 Zentimeter,
innen die Führungsschienen für einen Schlitzverschluss. Der wurde
durch eine alte Reißschiene, in die wir einen etwa fünf Millimeter
breiten Spalt gesägt hatten, und ein Gummiband realisiert. Nach dem
Spannen durch teilweises Herausziehen der Schiene aus dem Tubus sorgte
ein kleiner Hebel, der in eine Kerbe der Reißschiene eingriff, für
die Arretierung. Die Dauer der Belichtung, die durch leichten Druck
auf den Hebel ausgelöst wurde, schätzten wir auf etwa 1/500 Sekunde.
Wir glaubten, für die geplanten Sonnenaufnahmen sei es vorteilhaft,
dass der Spiegel immer noch nicht versilbert war. Im Fotohandel
beschafften wir uns möglichst unempfindliche Repro-Platten.
Noch hatte ich selbst keine Ahnung von der Fotografie, und erst recht
nicht vom Entwickeln der Platten. Ich erinnere mich, dass ich mir
unter einem Entwickler ein Gerät vorstellte. Aber ein Mitschüler,
der in der Foto-AG war, erklärte sich bereit, die Platten in der
schuleigenen Dunkelkammer in die Kassetten zu legen und jede so
schnell wie möglich zu entwickeln.
Am Tage vor dem großen Ereignis brachte ich dann mit einem anderen
Mitschüler, der schon einen Führerschein besaß und die Gelegenheit
hatte, einen alten Kleintransporter zu chartern, das Fernrohr zur
Schule. Am Tag der Finsternis trafen wir uns noch vor Sonnenaufgang
auf dem Schulhof zum Aufstellen des Fernrohres. Das Fokussieren mit
Hilfe einer Mattscheibe durch Verschieben des Prismas parallel zur
Fernrohrachse funktionierte problemlos. Rechtzeitig vor Beginn der
Finsternis wurde die erste Platte belichtet und entwickelt, und unser
Fotograf verkündete: »Die Belichtungszeit ist genau richtig, die
Sonne ist gestochen scharf.« Ich war erleichtert, war es doch meine
erste Aufnahme mit einem Fernrohr gewesen.
Eines
der drei erhalten gebliebenen Fotos von der partiellen
Sonnenfinsternis am 28. April 1949, aufgenommen auf dem Schulhof der
Goethe-Oberschule in Rostock. Das Bild entstand etwa zur Zeit der
maximalen Verfinsterung. Die Finsternisbilder waren die ersten, mit
meinem Fernrohr aufgenommenen Fotos. Die Punkte sind keine
Sonnenflecken, sondern Entwicklungsmängel.
Der große
Refraktor
(...)
Die Holzräder verdankten wir unserer im März 1949 geborenen
Schwester. Noch am selben Tag, an dem sie vom Babykorb ins Kinderbett
»umstieg«, beschlagnahmten wir die Babykorbräder. Die Rillen für
die ursprüngliche Hartgummibereifung waren ideal für die Führung
der Treibriemen. Das wiederum waren lederne Schuhbänder von
Soldaten-Schnürstiefeln.
Der
Refraktor im Märzenschnee 1950. Unsere Schwester Ulrike staunt über
das, was ihre Brüder mit den Rädern ihres Babykorbes gemacht haben.
Abenteuerlich war auch die elektrische Freilandleitung aus dickem
Eisendraht vom Trafo in der Küche quer durch den Garten bis hin zum
Fernrohr, die auf den letzten Metern natürlich unterirdisch verlief.
An der linken Seite des Säulenbalkens erkennt man ein Stück der Rückseite
der Schalttafel, die gerade von unserer Schwester begutachtet wird.
Die weiteren Bauteile der Säulenmontierung glichen größtenteils
denen der Tischmontierung. Was dort als Stundenachse diente, taugte
hier als Deklinationsachse.
Zu erwähnen ist noch die auf der rechten Seite – hier außerhalb
des Bildes – als Gegengewicht dienende Kamera in bewährter Pötenitz-Bauweise,
mit gutem, auch aus Pötenitz stammendem Schneider-Objektiv. Mit ihr
fotografierte ich unter anderem den Andromeda-Nebel, später benutzte
sie ausgiebig mein Bruder. Ein Projektionsschirm zur risikolosen
Beobachtung von Sonnenflecken konnte hinter dem Okular montiert
werden. (...)
Davon
konnten wir damals nur träumen: Die Schulsternwarte
Rostock steht nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem
wir als Pennäler unsere ersten Fernrohre zusammenbauten und unsere
ersten Beobachtungen durchführten. Foto aus dem Jahr 1984.
Ab in
den Westen – aber wie?
Da es nach der politischen Prüfung in Rostock ziemlich sicher war,
dass ich in der DDR höchstens noch bis April 1952 würde studieren können,
war ich schon Mitte August 1951, kurz bevor ich die Genehmigung zum
Wechsel an die Uni Jena erhielt, nach Berlin gereist, um mich an der
Freien Universität in Westberlin um einen Studienplatz zu bewerben,
wo allerdings Physik wieder Hauptfach gewesen wäre. Zwar war die
Chance, an der FU zugelassen zu werden, wegen des großen Zustroms aus
der DDR recht gering, aber den Versuch wollte ich doch gemacht haben.
Während im Ostteil Berlins die kommunistischen Weltjugendfestspiele
mit gewaltigem Aufwand und Zehntausenden Teilnehmern aus aller Welt
zelebriert wurden, füllte ich im Westteil der Stadt lange Fragebögen
aus mit dem Ziel, im kommenden Jahr die DDR für immer zu verlassen
– nicht nur Fragebögen der FU, sondern auch des amerikanischen
Generalkonsulats. Als gebürtiger Amerikaner musste ich nämlich vor
Vollendung meines 21. Lebensjahres in einem US-Konsulat einen
entsprechenden Antrag gestellt haben, falls ich in Zukunft neben der
deutschen auch die US-Staatsbürgerschaft beanspruchen wollte. Auf
Anraten meiner Eltern hatte ich mich für die Zweistaatlichkeit
entschieden.
In beiden Fällen wurde eine Westberliner Adresse vereinbart, an die
die Entscheide geschickt werden sollten, denn Post von der FU und erst
recht von einer amerikanischen Behörde wäre natürlich höchstverdächtig
gewesen, hätte sogar einige Jahre Haft bedeuten können. Auch musste
ich damit rechnen, beim Betreten oder Verlassen der FU oder des
Konsulats beobachtet und fotografiert zu werden, so wie es anderen
Besuchern passiert war. (...)
Nachdem ich eines Tages den Bescheid der FU vorgefunden hatte, dass
ich nicht zugelassen sei, schrieb ich an drei Universitäten in
Westdeutschland, von denen ich wusste, dass dort Astronomie gelehrt
wurde: München, Göttingen und Heidelberg. Dabei bat ich um
Informationsmaterial über die Voraussetzungen für die Zulassung zum
Studium, die Bedingungen für ein Stipendium und die Aussichten, in
einem Studentenwohnheim einen Platz zu bekommen.
Mitte März, nach dem Kolloquium in Potsdam, das ich natürlich für
einen Berlin-Besuch genutzt hatte, war von jeder der drei Hochschulen
die Antwort eingegangen. Aus München und Göttingen jeweils ein
mehrseitiges, umständlich formuliertes Schreiben. Neben etlichen Wenn
und Aber wurden ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Flüchtlingsauffanglager
sowie eine Wiederholung beziehungsweise Ergänzung des Abiturs
verlangt. Aus Heidelberg dagegen war ein kurzes, handschriftlich
ausgefülltes DIN-A5-Formular gekommen mit der Mitteilung, dass ich
hiermit ab Sommersemester 1952 zum Studium an der
Naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät der
Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg zugelassen sei. Stempel und
Unterschrift. Damit stand fest, wo ich mein Studium fortsetzen würde.
Offen war nur noch die Frage, auf welchem Weg ich nach Heidelberg
gelangen würde. In Betracht kamen zwei Orte, in deren Nähe ich
leicht gelangen konnte, ohne mich fluchtverdächtig zu machen: die
Sonneberger Sternwarte nahe der thüringisch-bayerischen Grenze oder
der Bauernhof meines Onkels wenige Kilometer östlich von Lübeck. Der
Übergang dort würde allerdings eine feuchte Angelegenheit werden,
denn ich wollte nachts die Pötenitzer Wiek von Pötenitz nach Travemünde
durchschwimmen. Auf die Idee, mich in Westberlin in einem Flüchtlingslager
zu melden, kam ich nicht, wahrscheinlich war mir diese Möglichkeit
nicht bekannt. Die endgültige Wahl wollte ich erst im letzten Moment
treffen, sicher würde sie auch vom Wetter abhängig sein. (...)
Zunächst ging die Reise noch einmal nach Westberlin. Das hatte zwei
Gründe: Erstens wollte ich dort bei Bekannten alle wichtigen Papiere
und Studienunterlagen einschließlich Lehrbücher deponieren, damit
sie zu gegebener Zeit nachgesandt werden könnten, und zweitens wollte
ich das amerikanische Konsulat über mein Vorhaben informieren und
darum bitten, den Bescheid betreffs US-Staatsbürgerschaft an das
Konsulat in Frankfurt/Main weiterzuleiten, sobald er aus Washington
eingegangen sei.
Beim Besuch im Konsulat wurde ich mit der Mitteilung konfrontiert,
dass der Bescheid einige Tage zuvor eingegangen und mein Antrag
genehmigt worden sei. Einige Formalitäten waren noch zu erledigen,
dann kam es zu der unerwarteten, feierlichen Zeremonie: Im Amtszimmer
des Generalkonsuls wurde ich unter einer amerikanischen Flagge auf die
amerikanische Verfassung vereidigt und bekam meinen US-Ausweis, »Card
of Identity«, ausgehändigt. Bei der Verabschiedung fiel dann noch
wie nebenbei die scheinbar belanglose Frage: »Wie wollen Sie
eigentlich nach Heidelberg kommen?«
Als sei es die größte Selbstverständlichkeit der Welt, verriet ich
meine Pläne: entweder durch die Wälder bei Sonneberg oder durch das
Wasser bei Lübeck. Mein Gegenüber wurde zusehends nachdenklich und
empfahl mir nach kurzer Pause dann eine andere, günstigere Grenzüberquerung:
Als US-Bürger könnte ich einen von den Russen nicht kontrollierten
US-Militärzug von Berlin-Lichterfelde nach Frankfurt/Main
unentgeltlich nutzen. Die nächste Möglichkeit bestehe in der Nacht
vom 29. zum 30. April. Ich solle mir am Vormittag des 29. im Konsulat
die nötigen Reisepapiere abholen.
Vermutlich atmete ich damals erst einmal tief durch, bevor ich die
unerwartete Wendung in aller Konsequenz begriff. Ich würde völlig
risikolos die DDR verlassen können. (...)
Die
aber kam eher als gedacht. Am Sonnabend, dem 26. April, kehrte mein jüngerer
Bruder mit einer Hiobsbotschaft von der Schule heim. Unterwegs sei ihm
Herr R. begegnet und der habe ihn gefragt, ob ich denn nicht mehr in
Jena studieren würde. Für uns Anlass genug, dass ich sofort zu
meiner Reise aufbrach. In Begleitung meiner Mutter ging ich
sicherheitshalber nicht wie sonst zum Hauptbahnhof, sondern zum nächstgelegenen
ländlichen Haltepunkt, etwa eine Stunde Fußweg durch Wald und
zwischen Feldern. Meine Mutter fuhr noch bis Schwerin mit, wo wir bei
einer ihrer Freundinnen übernachteten.
Am Sonntag, dem 27. April, ging es für mich von dort weiter nach
Westberlin, am nächsten Vormittag wurden die bei Bekannten
deponierten Bücher und andere Utensilien versandfertig verpackt, am
Nachmittag nahm ich beim Konsulat meine Reisepapiere in Empfang.
Am Dienstag, wenige Stunden vor Abfahrt des Militärzuges, machte ich
dann den wohl dümmsten Fehler meines Lebens, der zum Glück ohne
Konsequenzen blieb, abgesehen von den Alpträumen, die mich noch
jahrzehntelang verfolgten. (...)
Werkstudent
in Heidelberg
Am 30. April 1952, um 12.45 Uhr, kam ich mit dem Zug aus
Frankfurt/Main im ehemaligen, längst verschwundenen Heidelberger
Hauptbahnhof an. In meiner Aktentasche hatte ich die nötigsten
Utensilien und im Geldbeutel etwa 60 DM West, die ich am Tag zuvor in
einer Westberliner Wechselstube für mein ganzes Vermögen von rund
250 Ostmark erhalten hatte. Ein Polizist wies mir den Weg zur
Universität, die ich gegen 13 Uhr erreichte.
Das
Passbild in meinem ersten westdeutschen Personalausweis, aufgenommen
im Mai 1952. Nach achtmonatiger Mensa-Kost in Jena und den ersten »Hungerdiät«-Tagen
in Heidelberg war ich recht hager. Das änderte sich aber schon bald.
Ich
erwischte gerade noch die buchstäblich letzte Person, die vor dem
bevorstehenden Mai-Feiertag das Gebäude, die so genannte Alte
Universität, verließ. Ihr erläuterte ich meine Situation und sie
empfahl mir, mich an das Collegium Academicum, ein nahe gelegenes
Studentenwohnheim, zu wenden.
Leider kam ich im CA um eine Stunde zu spät an. Um 12 Uhr war die
Bewerbungsfrist für einen Wohnplatz abgelaufen. Aber auch bei früherer
Ankunft wäre meine Chance gering gewesen, denn von 60 Bewerbern
hatten nur 18 berücksichtigt werden können. Trotzdem: Für die
ersten Tage bekam ich hier eine Unterkunft, und zwar in einem
Abstellraum, in den man mir eine vorübergehend ungenutzte Schlafcouch
stellte. Und mehr brauchte ich für den Anfang ja auch nicht.
In der hauseigenen Mensa nahm ich mein erstes westliches Mittagessen
ein, zu dem mich ein Collegiat eingeladen hatte. Er schenkte mir auch
einige Suppenmarken. Danach zog es mich zur Sternwarte auf den Königstuhl.
(...)
Der
offenbar blinde Pförtner der Sternwarte meldete mich telefonisch bei
Professor Kienle an und beschrieb mir den Weg zum Direktorenwohnhaus.
Die junge Frau, die mir öffnete, musste eine Kienle-Tochter sein,
denn »Paps, der Student aus Jena ist da« schallte es durch die
Wohnung.
»Er soll rein kommen«, echote es zurück. Ich stellte mich vor, erwähnte
meinen Besuch seines Kolloquiumsvortrags in Potsdam, der gerade sechs
Wochen zurücklag, und trug dann mein Hauptanliegen vor, nämlich
einen Arbeitsplatz auf der Sternwarte zu bekommen. Kienle erläuterte
mir, das dies zurzeit leider nicht möglich sei, da er für Hilfskräfte
noch keine Gelder zur Verfügung hätte. Das liege entscheidend auch
daran, dass das neue Land Baden-Württemberg ja gerade vor einer Woche
gebildet worden sei und es darum viele verwaltungstechnische Probleme
gebe. Sogar bei der Bezahlung der ständigen Mitarbeiter. Ich solle
aber mal bei Professor Kopff, dem Direktor des Astronomischen
Recheninstituts nachfragen, der bekomme seine Mittel vom Bund und habe
vielleicht eher die Möglichkeit, eine Hilfskraft einzustellen. Etwas
enttäuscht, aber keineswegs entmutigt, wanderte ich zu Fuß wieder
bergab.
Prof.
Dr. Hans Kienle (1895–1975), von Mai 1953 bis zum Ende meiner
Assistentenzeit 1962 mein Chef und Geldgeber. Die Sektparty nach
seiner Wahl in die Friedensklasse des Ordens »Pour le mérite« im
Jahre 1960 habe ich noch gut in Erinnerung.
Das Abendessen in der Mensa, eine geschenkte Suppe, nutzte ich, um
mich nach möglichen Arbeitsplätzen umzuhören. Ich erfuhr auch die
Namen etlicher Firmen, bei denen man als Werkstudent eine Arbeitsmöglichkeit
bekommen konnte, so bei der BASF in Ludwigshafen oder bei der
LANZ-Landmaschinenfabrik in Mannheim.
Inhalt
»Sterne über Ost und West«
Vorwort
6
Kindheit
und Jugend in der NS-Zeit
Von New York nach Rostock 8
Kriegsjahre 15
Kriegsende
und Nachkriegszeit
Die Russen kommen 28
Neuanfang in Rostock 32
Pennäler-Astronomie
Das erste und das zweite Fernrohr 37
Die erste Montierung 39
Die erste Expedition 40
Wo war Saturn? 43
Das »Sternbüchlein 1946« und seine Folgen 44
Entdeckung eines »neuen« Sterns 46
Drei Versionen eines Spiegelteleskops 47
Krisenjahr 1948 51
Partielle Sonnenfinsternis und Astronomie-AG 52
Zu Besuch im Einsteinturm in Potsdam 55
Der große Refraktor 56
Etappenziel 61
Ost-westliches
Astronomiestudium
Praktikant am Meteorologischen Institut Warnemünde 63
Stud. phil. nat. an der Universität Rostock 65
»Und in Jene lebt sich’s be-e-e-ne« 70
Ab in den Westen – aber wie? 77
Werkstudent in Heidelberg 83
Hilfsrechner an der Badischen Landessternwarte 90
»Höchster« Student Heidelbergs 100
Zwischen Königstuhl und Pic du Midi 107
Glossar
118
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