Beckingen/Saar
Herbst 1944
|
Marlis Meyer
Kriegsopfer
Ein sonnengoldener Erntetag ging zur Neige. Vorsichtig bewegten sich die beiden Braunen die
steile "Schleit" hinab, hinter ihnen im Kastenwagen auf Stroh gebettet:
Säcke mit Tafeläpfeln. Sie sollten die rationierten Nahrungsmittel
während des Winters ergänzen oder als Tauschobjekt dienen. Obenauf thronte -
glücklich, dem zweiten Schuljahr wegen der Kriegswirren entronnen zu sein
- mein Vetter Robbi.
Links neben der Bremskurbel schritt der alte Martin, um die fast
vollständig blockierten Vorderräder rechtzeitig bremsen zu können. Den
Zügel hatte er griffbereit um die Eisenrunge geschlungen. Unsere Erntehelfer waren auf
kürzeren Pfaden nach Hause gegangen.
Mutter und ich folgten schweigend der Ladung. Als Neunjährige fühlte
ich mich zu den Erwachsenen gehörig, denn in den Hochstammbäumen waren meine
Kletterkünste willkommen. Nun freute ich mich auf die Belohnung meines
Fleißes. Sobald wir die gefährliche Wegstrecke überwunden hatten,
würde ich einen der braven Kaltblüter besteigen, damals die einzige
Möglichkeit, den Traum vom Reiten zu verwirklichen. Außer den gleitenden Tritten der Pferde, dem Knirschen der Eisenreifen auf dem harten, steinigen Lehm und dem Klirren der
durchhängenden Zugscheitketten herrschte friedliche Stille; der bedrohliche
Geschützdonner hinter der Maginotlinie im nahen Lothringen jenseits der Saar war an diesem Tag ausgeblieben.
Nicht einmal hatten wir während der Arbeit wegen Fliegeralarms in den nahen Wald
flüchten müssen. Dort, drei Kilometer von Beckingen entfernt, fühlten wir uns sicherer als daheim an der
Verbindungsstraße Saarbrücken-Trier, nicht weit von der Bahnlinie,
gegenüber dem Karcher Schraubenwerk.
Von Luftangriffen waren wir bisher verschont geblieben. Sie konzentrierten sich seit 1943 vor allem auf deutsche
Großstädte und Eisenbahnknotenpunkte.
Greise und Mütter mit Säuglingen hatten das Dorf bereits verlassen. Familien aus den besetzten Grenzgebieten
fanden in dem von Bunkern, Höckerlinien und Schützengräben des Westwalls umgebenen Ort Asyl. Zu ihnen
gehörte Robbi, der mit Eltern und Geschwistern bei uns wohnte.
Ich freute mich über die Gesellschaft. Unsere wilden Spiele wurden oft von Sirenengeheul unterbrochen. Die Flucht in den Felsenkeller am Reihersberg
zählte zu den Abenteuern, mit denen wir aufwuchsen.
In den ersten Kriegsjahren waren französische Gefangene bei der Ernte eingesetzt. Sie
aßen mit uns zu Abend, obwohl es verboten war, sie zu beköstigen.
Später wurden sie im Lager isoliert und bewacht zur Arbeit in der Fabrik
geführt. Fürchtete man, daß sie durch den unbeobachteten Kontakt mit den Einheimischen Informationen
über den Verlauf des Frontgeschehens erhalten würden?
Wenn nach Einbruch der Dunkelheit die Laden geschlossen und die Fenster von innen mit Wolldecken
verhängt waren, damit kein Licht, kein Laut nach draußen dringe,
saßen die Erwachsenen um "den Blaupunkt" und hörten Nachrichten von BBC London. Mich
erfüllte Stolz, daß ich in diese und andere Heimlichkeiten eingeweiht war. Wir
wußten, daß das Ende der Schreckenszeit bevorstand, aber nicht, wann und wie es uns erreichen
würde. An diesem Tag empfanden wir Erleichterung, einen Teil der Ernte sicher nach Hause zu bringen.
Endlich war der Steilhang geschafft. Die Bremsklötze wurden gelöst. Martin wand den
Zügel von der Runge, schrie "ha", und das Gefährt bog nach rechts auf den breiten,
ebenen Weg ein, der zwischen Buntsandsteinsockel und der darüber gelegenen Muschelkalkschicht verlief. Fanni und Max
verlängerten die Tritte, legten sich schnaubend ins Geschirr, Stallluft ahnend.
Nach fünfzig Metern wurden die Tiere zum Halten gezwungen, weil ich vorgeprescht war, den Fuhrmann an sein Versprechen zu erinnern. Von hinten stieg ich
über die Deichsel auf Max' Rücken.
"Fallt nicht herunter, ihr beiden, sonst verpaßt ihr das Abendessen!" mahnte Mutter, denn der Knirps wollte
über die Säcke nach vorne krabbeln, um den Kutscher zu spielen, während ich das sanfte Schaukeln des warmen
Pferderückens unter mir genoß.
Die sinkende Sonne ließ den Himmel verblassen, warf unsere bizarren Schatten auf ein abgeerntetes Weizenfeld, dessen hohe Stoppeln silbrig
über gelbem, fruchtbarem Lehm aufglänzten. Er ernährte nicht nur
Getreide, auch unsere Obstbäume in einem von Laubwald geschützten Quellgebiet.
Mit gesenktem, wippendem Mähnenkamm bewegten sich die Tiere zügig
vorwärts. Der Wagen rollte knarrend hinterher. Sicher schlugen die Hufe auf dem befestigten Untergrund den Takt. Wir
näherten uns breitkronigen Apfelbäumen vor der letzten Wegkehre zur Abfahrt ins Dorf. In einer halben Stunde
würden wir daheim sein.
Der Krieg war aus unserm Bewußtsein gelöscht. - Nur die unter Grashauben aus dunklen
Schießscharten starrenden Westwallbunker paßten nicht ins Bild.
Die Stimmung wurde jäh vom Wimmern der Sirenen zerstört. Enttäuscht
verließen Robbi und ich im Schatten der Baumgruppe unsere erhabenen Positionen. Martin leitete
seine beiden Vasallen samt der Fuhre achtsam in die Geborgenheit des dichten Astwerks.
Aus unserem Versteck glitt der Blick über die mitten im Ort aufragende kahle Kuppe des Reihersberges hinweg nach
Süden. Bis Saarlouis schlängelte sich der Fluß durch weites
Wiesengelände. Am östlichen Horizont stieg die schmutzig gelbe Dunstglocke der
Eisenhütten Dillingen, Völklingen und Burbach empor. Wo wir den Bahnhof des
Nachbarstädtchens vermuteten, erschien die weiße Dampffahne einer in
Richtung Beckingen ausfahrenden Lokomotive. Sie zerfiel in eine durchsichtig aufwirbelnde
Rauchsäule, als der Güterzug, wie ein Spielzeug anmutend, hinter den letzten
Gebäuden hervorkroch.
Langsam näherte sich die Kette der Waggons unserm Dorf, verschwand hinter der sonnenbeschienenen Erhebung, die auch unser Anwesen verbarg.
Fernes Dröhnen lenkte unsere Aufmerksamkeit nach oben. Wie dunkle Greife hoben sich drei Jagdbomber vom Himmel ab. Lauter drang der
gleichförmige Chor ihrer Motoren in uns ein. Wie gelähmt starrten wir ihnen entgegen, hofften,
daß sie wie ein Spuk vorüberziehen würden.
Plötzlich scherte einer mit einem bösartig singenden Heulton aus.
Als die Detonation unser Ohr erreichte, folgte er bereits seinen Gefährten nach Westen.
Keiner wußte, wie lange wir totenstill verharrt hatten. Mutter fand zuerst die Sprache wieder:
"Die Bombe
muß in unserer Straße niedergegangen sein."
Wir dachten an unsere Angehörigen, Nachbarn und Freunde. Robbi wiederholte weinend:
"Mama, Papa ... Meine Mama ist tot..."
Mutter begann zu beten: "Vater unser, der du bist im Himmel..." Martin und ich fielen ein.
Schnauben und Kopfschlagen der ungeduldigen Pferde riefen uns in die Wirklichkeit
zurück. Langgezogener Sirenenlaut kündigte die Entwarnung an. Fanni und Max rückten den Wagen aus dem Wiesenhang. Der kleine Vetter wurde auf die Ladung gehoben. Ich
trottete hinterher. Die Talstraße lag schon im Schatten des
nordwestlichen Berghanges. Während der Ortsdurchfahrt begegnete uns niemand, als trauten sich die Menschen nicht mehr aus Stollen und Kellern. Wir
fröstelten.
Nach einer halben Stunde hatten wir die Schraubenwerke erreicht. Hinter ihren schwarzgrau getarnten Mauern mit den hohen Fenstern
lärmte das Tag und Nacht gewohnte Scheppern und Klirren, begleitet vom dumpfen Rhythmus des Dampfhammers.
Wir erspähten von weitem das unversehrte Dach unseres Hauses, atmeten tief auf im
Bewußtsein, daß wir unsere Lieben heil antreffen würden.
Nach unserer Ankunft im Hof liefen uns Robbis Eltern aus dem Felsenkeller entgegen und nahmen ihn in die Arme. Auch Schwester und Bruder fanden sich ein. Wir
hörten, daß eine Bombe ganz in der Nähe eingeschlagen sei; keiner
wußte genau, wo.
Während wir den Wagen entluden, tauchten unsere etwa 300 Meter entfernt wohnenden
Angehörigen völlig verstört auf. Tante Marianne hielt ihr dreijähriges
Töchterchen eng umschlungen. Befremdet betrachteten wir sein rußgeschwärztes Gesichtchen. Das Kind war nicht ansprechbar, schien uns nicht zu erkennen.
Fragen und Antworten der Erwachsenen überschnitten sich. Was war geschehen?
Als der Güterzug den Ort auf dem Bahndamm parallel zur Dillinger
Straße passierte, befand sich dort ein Trupp von etwa 30 französischen und russischen Gefangenen mit ihren Aufsehern auf dem
Rückweg zum Lager in einer alten Mühle mitten im Dorf. Wegen des anfliegenden
Jabo-Geschwaders suchten sie im Park unserer Verwandten unter Bäumen und
Sträuchern Zuflucht. Dem Hausherrn gelang es, einige, die sich ganz in der
Nähe der Villa versteckt hatten, in den Luftschutzraum zu schleusen, ehe die Bombe auf der Umfassungsmauer explodierte. Es gab mehr als zehn Tote. Keiner der
Draußengebliebenen kam unverletzt davon.
Vor diesem Haus, der Villa Bill in Beckingen, ging im Herbst 1944 eine Bombe nieder. Sie traf die Kriegsgefangenen, die hier im Garten Schutz gesucht hatten.
Erst am nächsten Tag erfuhren wir, daß der Lokführer den langsam rollenden Munitionstransport zwischen Dillingen und Beckingen in Panik verlassen hatte.
|