Die Winter
waren in meiner Kindheit kälter, selten, daß es im
Dezember noch keinen Schnee gegeben hätte. Kam es doch
mal vor, dann besuchte uns St. Nikolaus mit Esel und
Knecht Rupprecht zu Fuß. Aber daß er einmal nicht
gekommen oder sogar wegen Krankheit weggeblieben wäre
– nein, daß gab es nicht.
Oft
waren die Tage von Nikolaus bis zum Christfest so lang,
länger konnte für mich keine Ewigkeit dauern. Angefüllt
mit bangem Warten, den heimlichen Wünschen und Hoffen.
Jeden Abend flocht ich in mein Nachtgebet den heißen
Wunsch mit ein‚ das Christkind möge mich nur nicht
vergessen. Das Versprechen‚ recht brav und artig zu
sein‚ ging dabei mit Leichtigkeit über die kindlichen
Lippen. Wer vom Christkind vergessen wurde‚ mit dem
Kind mußte doch etwas nicht stimmen. Ich hatte dieses
Pech. Mich hatte das Christkind schon zwei Weihnachten
vergessen! Einfach vergessen! Keine Geschenke‚ keinen
Tannenbaum‚ nichts!
Wie
war das nur möglich? Ich wußte es nicht! Ich war doch
so folgsam gewesen! Ein braveres Mädchen als mich
konnte es gar nicht geben. In meinem kleinen
verbitterten Herzen kamen Zweifel auf. Vielleicht gab es
gar kein Christkind?
Ich hüllte
mich immer mehr in diese Schutzbehauptung. Den anderen
gegenüber tat ich sehr schlau und allwissend. Aber am
Abend in meinem Bettchen ließ ich meinen Tränen freien
Lauf, und meine Gebete kamen noch inniger und bittender
über meine Lippen, denn es nahte wieder ein
Weihnachtsfest.
Geschenke‚
die so richtig von Herzen gewünscht wurden‚ bekamen
wir fünf Geschwister nur zu Weihnachten. Kleine
Wunschbriefchen hatte ich immer wieder geschrieben‚
daran konnte es also nicht liegen. So fing ich an‚
mein Nachtgebet lauter und deutlicher zu sprechen‚
vielleicht konnte das Christkind besser hören als
lesen. Mein Nachtgebet bestand von nun an aus drei Wünschen
und einem Versprechen: "Liebes Christkind‚ ich
bitte dich, laß meine Mutti wieder gesund werden. Mir
schenke bitte einen warmen Mantel, und wenn Du eine
Puppe hast, die kein anderes Kind haben möchte‚ ich
nehme sie gerne. Dafür verspreche ich Dir, an Dich zu
glauben bis ich alt und tot bin. Amen."
Ich
war in meinen Wünschen sehr bescheiden geworden. Die
letzten Weihnachten waren sehr trübe und arm gewesen.
Unsere Mutter war seit 1934 linksseitig gelähmt, und so
war der Schlaganfall für uns ein schweres Schicksal,
denn die Mutter war erst 44 Jahre alt. Der Vater war
nach einem Grubenunglück
seit 1918 Frührentner. Meine vier großen Brüder waren
ohne Lehrstelle und arbeitslos. Meine Eltern waren früher
Mitglied der SPD. Vater gab keinem seiner Söhne die
Einwilligung, in den Jugendverband der Nazis
einzutreten. Der älteste ging 1934 zum freiwilligen
Arbeitsdienst, damit bei uns ein Esser weniger am Tisch
saß.
Nur
gut, daß wir beim Fürsten von Hatzfeld etwas Land
pachten konnten, so mußten wir wenigstens nicht mehr
hungern. Trotzdem bekamen wir die Auswirkungen von
Vaters Haltung zu spüren. Die vielen Kontrollen, denen
wir mit unserer kleinen Landwirtschaft ausgesetzt waren,
gingen weit über das Übliche hinaus.
Durch
Mutters Krankheit entstanden immer mehr Lücken im
Haushalt. Es fehlte uns an Wäsche, besonders an warmer
Unterwäsche für mich! Niemand gab uns etwas, für die
Winterhilfe existierten wir nicht. Die Armut schaute uns
aus allen Knopflöchern. Ich durfte wie meine Brüder
nicht in die Jugendorganisation der Nazis eintreten.
Meine Argumente, ich wolle doch auch einmal schöner
gekleidet sein, meine uniformierten Schulfreundinnen bekämen
sogar bessere Noten und ich würde sie deshalb sehr
beneiden, stießen bei meinem Vater auf taube Ohren.
Wenn
Vater von Max Hirsch aus Hennef, einem jüdischen Händler,
ein paar Herrenartikel auf Kredit bekommen hatte, dann
war uns wieder einmal eine Hausdurchsuchung sicher. Der
Ortsvorsteher und seine Parteibonzen ließen die
Tatsache nicht gelten, daß wir zum Abzahlen ein ganzes
Jahr lang Zeit hatten. Sie gaben vor, Bargeld bei uns zu
suchen.
Das
erste Weihnachten nach Mutters Erkrankung war wohl das
schlimmste für mich. Es gab keinen Weihnachtsbaum‚
keinen Teller mit Süßigkeiten‚ keine Geschenke für
keinen in der Familie, und wir waren doch sieben
Personen. Nur sieben Hasen‚ von Teig gebacken‚ wie
sonst die Weckmänner, im Tannengrün versteckt, das an
den Wänden im Wohnzimmer, fast unter der weißgetünchten
Decke befestigt war. Aber so, als würden sie sich im
Kreise nachlaufen. Mehr hatte das Christkind für uns
nicht gehabt. Da half auch kein Weinen und Fragen, es
war einfach nicht mehr dagewesen.
Ich
kann mich nicht daran erinnern, daß es am zweiten
Weihnachten Geschenke gegeben hat, aber daran, daß ich
krank, mit einer Lungenentzündung in meinem Bett, auch
von der Nonne Schwester Bonevita betreut wurde. Die
Mutter wurde noch immer durch sie versorgt und gepflegt.
Zum
dritten Weihnachtsfest nach Mutters Erkrankung, hatte
das Christkind schon etwas für mich abgegeben: ein Paar
gestrickte Wollstrümpfe und ein braunes Samtkleid mit
Blümchenmuster. Oh, da ging es mir schon besser um mein
Herzchen, das vor Freude zerspringen wollte. Und der
Mutter ging es auch besser‚ sie erkannte nun ihre
Familie wieder, und sie lernte neu das Sprechen und das
Schreiben.
Nun rückte
das Weihnachtsfest 1937 heran‚ und ich war zehn Jahre
alt. Es gab bestimmt im ganzen Dorf kein Mädchen mit so
guten Vorsätzen. Ich nahm mir fest vor, an das
Christkind zu glauben‚ innig betete ich jeden Abend
ein Stoßgebet, mit der Bitte, mich nur nicht zu
vergessen.
Die
Adventszeit war fast wie früher, als die Mutter noch
nicht erkrankt war. Sie saß mit in der Küche, im
Backofen des großen Küchenherdes brutzelten Bratäpfel.
Beim Duft und Schein der zweiten Kerze am Adventskranz
kam schon richtige Weihnachtsstimmung auf. Der Vater
hatte nach langer Zeit die Zither hervorgeholt und
spielte ganz leise Weihnachtslieder, die wir mitsummten.
Die vier älteren Brüder saßen bei ihm am Tisch und
bastelten irgendwelche Sachen.
Ich
hockte auf einer kleinen Fußbank der Mutter zu Füßen,
die in ihrem Krankenstuhl sitzend am Geschehen teilnahm,
und las ihr aus dem Lesebuch eine Weihnachtsgeschichte
vor. Aus der Kirchenzeitung oder aus dem katholischen
Heftchen "Frau und Mutter“, das sie einmal im
Monat bekam, las ich ihr am liebsten vor, denn drinnen
war mein Herzenswunsch, eine Anzeige mit einer Puppe,
groß abgebildet‚ und ich versäumte es nicht, der
Mutter diese Spalte immer wieder vorzulesen. Damit
wollte ich ihr ja nur mitteilen, wie wichtig es doch
war, zu wissen, das es irgendwo einen Versand gab, der
68 cm große Puppen hatte. Ich legte ihr das Heftchen so
auf den Schoß‚ daß sie das Puppenbild sehen mußte,
und schaute solange darauf, bis sie es mit ihrer rechten
gesunden Hand an sich nahm und betrachtete: "Ja
mein Mädelchen‚ wenn ich gesund wäre, dann wäre
bestimmt vieles anders."
Damit
war die Geldsorge gemeint, die ihre Krankheit kostete.
Ein Seufzer kam aus ihrer Brust, den ich seufzend
unterstützte. Mein Hinweis, daß ich kein Schwesterchen
hätte‚ wohl eine Puppenküche, aber keine Puppe, fiel
auf taube Ohren.
Einer
der Brüder meinte: "Hör endlich auf mit deiner
Bettelei! Mit dir, Schwesterchen‚ haben wir genug an
Puppen im Haus."
Der Blöde,
er konnte ja gar nicht wissen, wie wichtig eine Puppe für
mich war, er war doch nur ein Junge! Aber die
Schleckereien aus der Puppenküche stibitzten sie mir,
ohne Ausnahme, alle vier.
Das
Heftchen mit dem Puppenbild wanderte jeden Abend mit ins
Bett. Ich konnte es mir nicht oft genug ansehen: Eine
Puppe mit Schlafaugen, Mamastimme‚ Zöpfen‚ Hut‚
Mantel und einem hübschen Kleidchen darunter. Sie trug
schwarze Lackschuhe. Auch, daß sie an einer Hand der
Puppenmutter, was ich ja denn wohl war‚ laufen konnte,
das alles war doch sehr wichtig. Aber keiner nahm eine
Notiz von meiner Sorge und den heißen Wünschen. Die Brüder
verhöhnten mich sogar wegen meines lauten Betens.
Der
Weihnachtsmorgen kam, die Mutter ging an ihrem Stock mit
in die Wohnstube. Ich hatte es wohl wahrgenommen‚ aber
ich war so aufgeregt und wollte mich noch schnell an ihr
vorbeidrängeln. Dabei hielt mich mein älterer Bruder
an meinen Zöpfen fest. Vor lauter Neugierde hatte ich
nicht bemerkt, daß mein erster Weihnachtswunsch in Erfüllung
gegangen war: In der Stube stand ein Tannenbaum mit weißen
brennenden Kerzen und bunten Kugeln geschmückt. Auf dem
Tisch lag wieder die schwere rote Weihnachtsdecke‚ die
Porzellanteller waren gefüllt mit Plätzchen‚ Honig-
und Pfefferkuchengebäck. Die rotwangigen Äpfel waren
sicher vom Himmelspersonal extra für unsere Stube
blankgerieben worden. An meinem Stuhl hing auf einem Bügel
ein grüner Lodenmantel mit Kapuze und neben meinem
Teller lag das Spiel "Spitz paß auf ..."
Gott
sei dank‚ das Christkind hatte uns nicht vergessen!
Das waren meine ersten Gedanken. Die brennenden Kerzen
am Baum waren die einzige Lichtquelle im Raum. Es war in
den frühen Morgenstunden und das Stubenfenster hatte
rundherum am Holzrahmen entlang Eisblumen angesetzt. Ich
ging ans Fenster, um zu sehen‚ ob noch irgendwelche
Spuren im Schnee sichtbar gewesen wären‚ aber nein‚
nichts. Im Garten sah ich ein Reh‚ das sich an einem
Rest Gemüse seinen Hunger stillte.
Der
Vater stimmte ein Weihnachtslied an. Die Mutter saß in
ihrem Stuhl und wir stellten uns zum Weihnachtsbaum. Ich
hatte meine Freude an dem schön geschmückten
Tannenbaum. Von all den Vorbereitungen hatte ich gar
nichts mitbekommen. So war die Überraschung doppelt groß.
Kräftig sang ich das Lied "Oh Tannenbaum"
mit. Dabei meinte ich, der Baum hätte gezittert. Daß
ich es selbst war, wußte ich nicht, als ich meine heißersehnte
Puppe‚ wohl etwas versteckt‚ in einem
holzgeschnitztem fahrbaren Lehnstuhl sitzen sah. Mit
einem erlösenden Schrei rief ich: "Lotte, meine
Lotte! Jetzt habe ich dich endlich!"
Alle
Sehnsucht einer echten Puppenmutter lagen in diesen
Worten. Das Puppenkind fest in meinen Armen haltend‚
hatte ich meine Umwelt vergessen, auch die armen und
schlechten Jahre. Sie hatte mich mit allem wieder versöhnt.
Erst viel später merkte ich, daß die Eltern und
Geschwister mit dem Singen aufgehört hatten und mich
beobachteten. Oh wie war ich glücklich!
Freudig
ging ich später im neuen Mantel an der Hand des Vaters
zur Messe in die Kirche. Wir mußten eine
Dreiviertelstunde durch den Schnee stapfen. Nach der
Messe gingen wir zur aufgebauten Weihnachtskrippe. Ich
hatte nicht vergessen‚ was mir die Mutter gesagt
hatte: Nur dort‚ beim Kind in der Krippe, könnte ich
mich für alles bedanken. Der Vater ließ mir Zeit‚
damit ich all das Schöne in mir aufnehmen konnte. Jedes
Jahr kam eine neue Krippenfigur von den Spenden hinzu.
So war der aus schwarzem Holz geschnitzte Knabe neu. Er
kniete am Rande der Krippe, und hielt die Spardose dafür
in seinen Händen. Freudig nickte er jedesmal mit seinem
Turban bedeckten Kopf, wenn ein Geldstück in der Dose
klimperte.
Der
Vater kam an meine Seite und legte seine Hand auf meine
Schulter, als er zu mir sagte: "Siehste‚ und es
gibt doch ein Christkind!"
Dann
gab er mir ein Zehn-Pfennig-Stück in die Hand und
deutete auf den Knaben. Ich steckte das Geld in den dafür
vorgesehenen Schlitz, der Knabe bedankte sich mit einem
verbeugenden Kopfnicken. Ich flüsterte ihm leise ins
Ohr: "Tschüß‚ bis Sonntag."
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