|
Dieses schlichte
Volkslied, das zur Weihnachtszeit gespielt und gesungen wird, hat einst ein
Zimmermann aus Goldlauter im Thüringer Wald komponiert. Mich erinnert besonders
dieses Lied an meine Kindheit, die ich bei meinen Großeltern in Gera
verbrachte.
Zum Weihnachtsabend versammelte sich die gesamte Familie in der kleinen,
bescheidenen Wohnung. Zu Weihnachten gehörte natürlich auch ein mit Kerzen,
Naschwerk, Glaskugeln und Lametta festlich geschmückter Tannenbaum.
Da die "gute Stube" der großelterlichen Wohnung nicht gerade geräumig war,
wurde der stattliche Baum an die Decke gehängt. Das entlastete zwar die räumliche
Enge, brachte aber andere Probleme mit sich. Ich erlebte es nie, daß der
Weihnachtsbaum so hing, wie er sollte. Immer waren zusätzliche
Stabilisierungsmaßnahmen erforderlich. Einmal wurde sogar ein in Silberpapier
eingewickeltes Brikett als Ausgleichsgewicht eingesetzt. Ein anderes Mal wurde
der Baum mit dünnen Fäden in eine senkrechte Lage gezurrt, so daß er im
Prinzip eher einem Fesselballon ähnelte, zumal mein Onkel Rudel über diese Fäden
Lametta hängte, um die Gleichgewichtsbemühungen deutlicher sichtbar zu machen.
Jedenfalls war unser Tannenbaum nicht nur Gegenstand festlicher Andacht, sondern
auch Objekt mancher Frotzelei, was mein Großvater bis dahin immer gelassen
hinnahm. Als sich aber auch noch meine Großmutter an den Sticheleien
beteiligte, war das Maß voll. Nun legte Großvater ziemlich kategorisch fest: "Martha, nächstes Jahr kaufst du den Weihnachtsbaum!"
Als vor Jahresfrist Großmutter immer wieder den Weihnachtsbaumkauf anmahnte,
bekam sie jedesmal zu hören: "Martha, dieses Jahr kaufst du das Bäumchen
selber."
Es war höchste Zeit. Am letzten Tag des Weihnachtsmarktes machte Großmutter
sich auf den Weg. Ich mußte sie begleiten, wohl eher als Lastesel denn als
Gutachter.
In der Tat: Großmutter hatte einen Weihnachtsbaum von seltener Schönheit
ausgewählt. Er war von geometrischer und ästhetischer Symmetrie – und auch
nicht billig. Weil der Großmutter noch weitere Besorgungen einfielen, wurde der
Baum in der Fahrradaufbewahrung nahe der Einkaufsstraße abgestellt.
Es dämmerte schon, als wir ihn dort wieder abholen wollten. Leider war unser
Weihnachtsbaum inzwischen von einem Auto überrollt, das forstwirtschaftliche
Prachtstück sozusagen zu Kleinholz gemacht worden. Wir bekamen zwar den
Kaufpreis vom Betreiber der Fahrradaufbewahrung ersetzt, aber einen
Weihnachtsbaum hatten wir nun nicht mehr.
So blieb uns nichts weiter übrig, als noch einmal auf den Markt zu gehen. Die
Weihnachtsbaumhändler waren schon am Zusammenräumen, das Geschäft für dieses
Jahr war gelaufen. Doch wir hatten Glück und erstanden noch einen Baum, sogar für
den Spottpreis von 25 Pfennigen. Danach sah er auch aus. Der Händler
entschuldigte sich fast dafür, daß er uns so einen Krüppel von Baum andrehen
mußte. Aber was sollten wir machen?
Diesen oder keinen, so stand die Frage.
Zuhause angekommen mußte ich den Baum erst einmal im Waschhaus abstellen. Großvater
erwartete uns mit sichtbarer Spannung und der von Neugier geladenen Frage:
"Wo habt ihr denn den Weihnachtsbaum?"
"Im Waschhaus", war Großmutters einsilbige und verlegene Antwort.
Mit den Worten: "Den muß ich sehen", zündete Großvater die Petroleumlampe
an und ging unverzüglich ins Waschhaus. Noch in der zweiten Etage hörte ich
sein schallendes Gelächter, von Großmutter kommentarlos hingenommen.
Nie wieder habe ich ein so lustiges Weihnachtsfest, wie das nun anstehende,
erlebt. Den ganzen Abend wurden immer wieder neue und skurrilere Vorschläge zur
Richtungskorrektur des Weihnachtsbaumes unterbreitet und praktiziert. Aber, was
wir auch unternahmen, jedes zusätzliche Gewicht löste zugleich eine
Drallbewegung aus. Diesem Tannenbaum fehlte einfach die festliche Ruhe.
Möglicherweise hat dieses Erlebnis dazu beigetragen, daß ich später während
meines Ingenieurstudiums sehr schnell die Gesetze einer Drehbewegung um eine
freie Rotationsachse verstanden habe.
|