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  Berlin-Neukölln
1948/49
  Wulf Köhn
Blockade-Weihnachten

Es ging langsam auf Weihnachten zu. Die Tage wurden kürzer, und die Dunkelheit kam früher. Wir wohnten in Neukölln, im amerikanischen Sektor von Berlin. Zu den Ärgernissen der Blockadezeit gehörte auch das regelmäßige Abschalten des Stroms. Es gab ihn täglich nur stundenweise, in der übrigen Zeit war "Stromsperre". Solange es draußen noch hell war, wenn ich ins Bett mußte, bemerkte ich das kaum. Aber jetzt wurde es am späten Nachmittag schon dunkel, während ich noch nicht einmal mit meinen Schularbeiten fertig war.

Die Abende spielten sich bei Kerzenschein ab. Aber selbst die Kerzen waren knapp und wir mußten damit sparsam umgehen. Mein Großvater hatte ein Gerät gebastelt, mit dem wir Kerzen gießen konnten. In einer alten Konservendose wurde das Kerzenwachs erhitzt und in eine Röhre gegossen, in der ein Baumwollfaden befestigt war. Unser bisheriger Sammeleifer, der sich auf Heu, Stroh, Eicheln, Brennesseln, Pferdeäpfel und Pflaumenkerne erstreckte, wurde jetzt auf Kerzenreste ausgedehnt. Wir sammelten auch alles, was einigermaßen nach Fett aussah und nicht eßbar war. Das Ergebnis unserer selbstgegossenen Kerzen war im wahrsten Sinne des Wortes "betrüblich", denn diese Kerzen erzeugten meist ein äußerst trübes Licht. Wir ließen den Lichtschalter in unserer Stube auch nachts an, damit wir sofort bemerkten, wenn es zwischendurch eine Stunde Strom gab. Dann wurden sofort die Arbeiten erledigt, zu denen man Strom oder Licht brauchte. Meine Mutter fing dann manchmal mitten in der Nacht zu bügeln an, während ich verschlafen meine Schulhefte herausholte und zu lesen und zu rechnen begann.

Der Nachbarfamilie Lezius ging es da besser. Sie hatte in der Küche eine Gaslampe, die auch bei Stromsperre funktionierte. Zum Glück wurden die Straßenlaternen vielerorts mit Gas betrieben, so daß es draußen nicht ganz dunkel war, wenn wir spät abends unterwegs waren. Es gab aber auch Stadtteile mit elektrischer Straßenbeleuchtung. Dort konnte man bei Stromsperre wirklich kaum die Hand vor Augen sehen.

Die Fenster unseres Treppenhauses gingen zum Hof hinaus, so daß der Schein der Straßenlaternen dort nicht hinreichte. Kamen wir abends aus dem Kindergarten nach Haus, war es so dunkel, daß man noch nicht einmal einen leichten Lichtschein durch die Fensterscheiben sah. Wir zogen uns dann am Treppengeländer nach oben, ertasteten das Schlüsselloch und tappten durch den dunklen Flur in die Küche, bis wir eine Kerze angezündet hatten. Selbst das war sehr umständlich, denn wir hatten keine Streichhölzer. Der einzige Weg führte über den Gasanzünder, mit dem erst der Kocher angezündet wurde. Dann konnte daran die Kerze angesteckt werden. Bis dahin aber geschah alles bei völliger Dunkelheit. Als ich einmal den Gasanzünder verlegt hatte, mußte meine Mutter Herrn Lezius bitten, uns eine Kerze anzuzünden, damit wir den Anzünder finden konnten. Dabei hatte er nur am anderen Ende unserer Kochmaschine gelegen.
Einmal gingen wir nach Treptow, da fiel mir eine große Uhr auf, die an einer Häuserwand befestigt war.

"Wie wird die denn aufgezogen?" fragte ich meine Mutter.
"Die braucht man nicht aufzuziehen, die läuft mit Strom."
"Aber was ist bei Stromsperre? Bleibt die Uhr dann stehen?"
Da erfuhr ich zum ersten Mal, daß es eine regelmäßige Stromsperre nur in West-Berlin gab, weil die Blockade insgesamt nur den Westteil der Stadt betraf, und ich begann, die Ost-Berliner zu beneiden.

Mit Beginn der Blockade waren die wenigen Lebensmittel, die es nach der Währungsreform schon wieder gegeben hatte, wieder aus den Geschäften verschwunden. Es gab jetzt fast gar nichts mehr. Wir standen jeden Monat dreimal vor den Dekadenstellen, wo die Lebensmittelkarten für jeweils zehn Tage ausgegeben wurden, und anschließend wieder in Schlangen vor Geschäften, in denen oft schon alles ausverkauft war, ehe man drankam.
Manchmal wechselte ich mich mit meiner Mutter ab, und wir standen gleichzeitig an zwei Schlangen. Ich mußte ihr dann immer den Platz "freihalten". Mitunter kam ich in Schwierigkeiten, wenn ich plötzlich vorne stand, aber meine Mutter noch nicht wieder da war. Dann stotterte und stammelte ich, konnte aber nichts kaufen, da ich kein Geld und keine Marken hatte. Später ließ mir Mutter beides in einem Portemonnaie zurück, damit das nicht wieder passierte.
Die Luftbrücke brachte uns einige haltbare Lebensmittel. Neben den Trockenkartoffeln gab es "POM", ein grünliches Pulver, das als Kartoffelersatz verwendet wurde. Es bestand wohl hauptsächlich aus Mais und Soja. Ich aß den daraus angerührten Brei sogar gern, wenngleich andere darüber schimpften. Viele Gemüsesorten gab es als getrocknete Schnitzel, von denen mir vor allem noch die von Roten Beten in Erinnerung geblieben sind. Ich durfte mir, wenn ich spielen ging, ab und zu eine kleine Handvoll davon mitnehmen. Man hatte lange etwas davon, denn die Schnitzel mußten erst lange im Munde aufweichen, ehe sie eßbar wurden.

Für Kinder gab es noch Trockenmilch, die man nicht nur zu einem Getränk, sondern – mit Mehl gestreckt – auch zu einem süßen Brei anrühren konnte. Der wurde mit dem Löffel direkt aus der Tasse gegessen. Eine seltene Delikatesse war das Eipulver. Mit Wasser angerührt und auf der Pfanne gebraten, entstand eine Art Rührei, allerdings ohne Speck und Schinken. Daran war überhaupt nicht zu denken.

Daß die Luftbrücke keine richtige Brücke war, sondern aus einer endlosen Kette von Flugzeugen bestand, wurde mir schnell klar, denn wir wohnten genau in der Einflugschneise zum Flughafen Tempelhof. Alle zwei bis drei Minuten flog eine Maschine mit dröhnenden Motoren nur wenige Meter über unser Haus hinweg, in endloser Reihe, Tag und Nacht. Wenn das Brummen eines Flugzeugs in der Ferne kaum verklungen war, kündigte sich auf der anderen Seite schon das nächste an. Für mich war dieses Geräusch nicht beängstigend, eher beruhigend – bis ich eines Tages erfuhr, daß in der Handjerystraße ein Flugzeug abgestürzt und auf ein Wohnhaus gefallen war. Dabei waren einige Hausbewohner ums Leben gekommen. Parallel zur Zietenstraße, in der wir wohnten, lag die damalige Prinz-Handjery-Straße, dort vermutete ich die Absturzstelle, fand sie aber nicht. Ich wußte ja nicht, daß die Wilmersdorfer Handjerystraße gemeint war. Obwohl meine Mutter mir das erklärte, hatte ich von da an dennoch Angst. Wie schnell konnte eine Maschine auch auf unser Haus stürzen! Manche Nacht lag ich nun in meinem Bett und konnte nicht einschlafen, während ein Flugzeug nach dem anderen über unser Dach hinwegbrummte.

Die Amerikaner oder: "Xänkju!"
Für mich waren die Amerikaner der Inbegriff des schlechten Benehmens und eines besseren Lebens zugleich. Ich hatte bis dahin zwar noch keine Gelegenheit gehabt, einen kennenzulernen, aber meine Mutter mahnte mich ständig: "Benimm dich nicht wie ein Amerikaner!"
Die Amerikaner, kurz Amis genannt, schienen ständig in der Nase zu bohren, sich bei Tisch am Kopf zu kratzen und die Beine auf den Tisch zu legen. Letzteres hatte ich zwar noch nie gewagt, aber gehört, das sei die normale Sitzhaltung eines jeden Amerikaners.

Wir hatten damals eine scheußliche Sandseife im Kindergarten. Sie erzielte ihre Reinigungswirkung wohl weniger aus den Seifenanteilen als vielmehr aus dem Scheuereffekt, sie erzeugte auch keinerlei Schaum, sondern eine Art Sandpampe, die zusammen mit dem Schmutz wieder abgewaschen wurde. Eines Tages bekamen wir ein Stück weißer Seife, die wundervoll weich war und stark schäumte. Wir erfuhren, das wäre amerikanische Seife. Von nun an bezeichneten wir alles als "amerikanisch", was qualitativ besser war als die gewohnten Dinge.

Ein andermal brachte ein Junge eine kleine Tafel Blockschokolade mit, die noch an einem weißen Fallschirm hing. Er hatte sie auf der Straße gefunden. Dabei erfuhren wir, daß die Amerikaner für die Kinder Schokolade und andere Süßigkeiten an Fallschirmen abwarfen, kurz bevor sie landeten. Ich habe oft zu den Flugzeugen hinaufgeschaut, wenn sie tief über mich hinwegflogen. Es gab normale Flugzeuge mit einem Rumpf und zwei Propellern, aber auch größere mit Doppelrumpf und vier Propellern. Es gelang mir allerdings nie, einen Fallschirm zu erwischen. Ein einziges Mal sah ich einen einsamen Fallschirm nach unten trudeln, aber bevor ich ihn erreichen konnte, hatten sich bereits mehrere Jungen darauf gestürzt.

Irgendwann gab es in der Schule aber für jeden eine Tafel Blockschokolade – die erste Schokolade in meinem Leben. Sie bestand aus einem einzigen Riegel mit fünf Kästchen. In jedes Kästchen war ein Buchstabe eingeprägt, so daß sich das Wort BLOCK ergab. Man brauchte schon gute Zähne, um davon etwas abzubeißen. Die meisten Jungen verspeisten die Schokolade sofort, aber ich nahm sie mit nach Hause. Meine Mutter stellte mir frei, meinem Bruder etwas abzugeben; ich gab ihm zwei Kästchen und meiner Mutter eins, das sie aber nicht annahm. Da hob ich es für Großvater auf, der es aber mit Hinweis auf seine Zähne ebenfalls ablehnte. So konnte ich es mit ruhigem Gewissen selber essen. Es war ein ganz besonderer Genuß.

Den Geschmack kannte ich zwar schon ein bißchen vom Schokoladenreis her, den es einmal wöchentlich als Quäkerspeise gab – einen dicken dunkelbraunen Reisbrei; aber der Genuß der reinen Schokolade war ungleich eindrucksvoller. – Außerdem kostete es immer ein gewisses Maß an Überwindung, den Schokoladenreis zu essen, da er häufig kleine weiße Maden enthielt, die deutlich in dem braunen Brei zu sehen waren. Wir fischten sie zwar heraus, wenn wir sie sahen, werden aber bestimmt viele unentdeckte mitgegessen haben. Das war trotzdem kein Grund, auf die Speise zu verzichten.

In der Adventszeit erkrankte meine Mutter wieder an der Kopfgrippe und lag meist im Bett. Eines Tages entdeckte ich, daß in der Hermannstraße Weihnachtsbäume verkauft wurden. Da meine Mutter zu schwach war, um sich selbst darum zu kümmern, drückte sie mir 50 Pfennig in die Hand und schickte mich los. Ich sprach den Händler an, zeigte ihm das Geld und sagte ihm, daß ich das für einen Baum ausgeben könne. Er überlegte einen Augenblick und führte mich zu einem kleinen Baum, den ich gut allein tragen konnte. Er stellte ihn auf, drehte ihn hin und her, damit ich ihn gut betrachten konnte, und fragte, ob er mir gefalle. Er gefiel mir, und ich nahm ihn mit.
Meine Mutter war entsetzt, als sie den Baum sah: "Mein Gott, was hast du dir denn da andrehen lassen?"

Ich fand ihn ganz in Ordnung. Bei näherem Hinsehen stellte sich allerdings heraus, daß es nur ein halber Baum war: Er hatte nur an einer Seite Äste, die andere Seite war völlig kahl. Der Händler hatte den Baum so geschickt vor mir gedreht, daß ich immer nur die volle Seite zu sehen bekam. Meine Mutter lächelte aber dann doch; immerhin war es mein erster Einkauf mit eigener Entscheidung. Wir stellten den Weihnachtsbaum auf ein kleines Tischchen an die Wand, da war die Rückseite ohnehin nicht zu sehen. Ich fand diese Lösung übrigens so praktisch, daß ich heute noch nach solchen Bäumen Ausschau halte: Man kann sie dichter an die Wand stellen, ohne daß sie umfallen.

Kurz vor dem Weihnachtsfest wurde uns im Kindergarten angekündigt, daß uns Amerikaner besuchen würden.
(weiter gehts im Buch)

   
  Gekürzt aus: "Nachkriegs-Kinder", Reihe ZEITGUT, Band 2.
   
   
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  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

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