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Es
ging langsam auf Weihnachten zu. Die Tage wurden kürzer, und die
Dunkelheit kam früher. Wir wohnten in Neukölln, im
amerikanischen Sektor von Berlin. Zu den Ärgernissen der
Blockadezeit gehörte auch das regelmäßige Abschalten des
Stroms. Es gab ihn täglich nur stundenweise, in der übrigen Zeit
war "Stromsperre". Solange es draußen noch hell war, wenn ich
ins Bett mußte, bemerkte ich das kaum. Aber jetzt wurde es am späten
Nachmittag schon dunkel, während ich noch nicht einmal mit meinen
Schularbeiten fertig war.
Die Abende spielten sich bei Kerzenschein ab. Aber selbst die
Kerzen waren knapp und wir mußten damit sparsam umgehen. Mein Großvater
hatte ein Gerät gebastelt, mit dem wir Kerzen gießen konnten. In
einer alten Konservendose wurde das Kerzenwachs erhitzt und in
eine Röhre gegossen, in der ein Baumwollfaden befestigt war.
Unser bisheriger Sammeleifer, der sich auf Heu, Stroh, Eicheln,
Brennesseln, Pferdeäpfel und Pflaumenkerne erstreckte, wurde
jetzt auf Kerzenreste ausgedehnt. Wir sammelten auch alles, was
einigermaßen nach Fett aussah und nicht eßbar war. Das Ergebnis
unserer selbstgegossenen Kerzen war im wahrsten Sinne des Wortes "betrüblich", denn diese Kerzen erzeugten meist ein äußerst
trübes Licht. Wir ließen den Lichtschalter in unserer Stube auch
nachts an, damit wir sofort bemerkten, wenn es zwischendurch eine
Stunde Strom gab. Dann wurden sofort die Arbeiten erledigt, zu
denen man Strom oder Licht brauchte. Meine Mutter fing dann
manchmal mitten in der Nacht zu bügeln an, während ich
verschlafen meine Schulhefte herausholte und zu lesen und zu
rechnen begann.
Der Nachbarfamilie Lezius ging es da besser. Sie hatte in der Küche
eine Gaslampe, die auch bei Stromsperre funktionierte. Zum Glück
wurden die Straßenlaternen vielerorts mit Gas betrieben, so daß
es draußen nicht ganz dunkel war, wenn wir spät abends unterwegs
waren. Es gab aber auch Stadtteile mit elektrischer Straßenbeleuchtung.
Dort konnte man bei Stromsperre wirklich kaum die Hand vor Augen
sehen.
Die Fenster unseres Treppenhauses gingen zum Hof hinaus, so daß
der Schein der Straßenlaternen dort nicht hinreichte. Kamen wir
abends aus dem Kindergarten nach Haus, war es so dunkel, daß man
noch nicht einmal einen leichten Lichtschein durch die
Fensterscheiben sah. Wir zogen uns dann am Treppengeländer nach
oben, ertasteten das Schlüsselloch und tappten durch den dunklen
Flur in die Küche, bis wir eine Kerze angezündet hatten. Selbst
das war sehr umständlich, denn wir hatten keine Streichhölzer.
Der einzige Weg führte über den Gasanzünder, mit dem erst der
Kocher angezündet wurde. Dann konnte daran die Kerze angesteckt
werden. Bis dahin aber geschah alles bei völliger Dunkelheit. Als
ich einmal den Gasanzünder verlegt hatte, mußte meine Mutter
Herrn Lezius bitten, uns eine Kerze anzuzünden, damit wir den Anzünder
finden konnten. Dabei hatte er nur am anderen Ende unserer
Kochmaschine gelegen.
Einmal gingen wir nach Treptow, da fiel mir eine große Uhr auf,
die an einer Häuserwand befestigt war.
"Wie wird die denn aufgezogen?" fragte ich meine Mutter.
"Die braucht man nicht aufzuziehen, die läuft mit Strom."
"Aber was ist bei Stromsperre? Bleibt die Uhr dann stehen?"
Da erfuhr ich zum ersten Mal, daß es eine regelmäßige
Stromsperre nur in West-Berlin gab, weil die Blockade insgesamt
nur den Westteil der Stadt betraf, und ich begann, die
Ost-Berliner zu beneiden.
Mit
Beginn der Blockade waren die wenigen Lebensmittel, die es nach
der Währungsreform schon wieder gegeben hatte, wieder aus den
Geschäften verschwunden. Es gab jetzt fast gar nichts mehr. Wir
standen jeden Monat dreimal vor den Dekadenstellen, wo die
Lebensmittelkarten für jeweils zehn Tage ausgegeben wurden, und
anschließend wieder in Schlangen vor Geschäften, in denen oft
schon alles ausverkauft war, ehe man drankam.
Manchmal wechselte ich mich mit meiner Mutter ab, und wir standen
gleichzeitig an zwei Schlangen. Ich mußte ihr dann immer den
Platz "freihalten". Mitunter kam ich in Schwierigkeiten, wenn
ich plötzlich vorne stand, aber meine Mutter noch nicht wieder da
war. Dann stotterte und stammelte ich, konnte aber nichts kaufen,
da ich kein Geld und keine Marken hatte. Später ließ mir Mutter
beides in einem Portemonnaie zurück, damit das nicht wieder
passierte.
Die Luftbrücke brachte uns einige haltbare Lebensmittel. Neben
den Trockenkartoffeln gab es "POM", ein grünliches Pulver,
das als Kartoffelersatz verwendet wurde. Es bestand wohl hauptsächlich
aus Mais und Soja. Ich aß den daraus angerührten Brei sogar
gern, wenngleich andere darüber schimpften. Viele Gemüsesorten
gab es als getrocknete Schnitzel, von denen mir vor allem noch die
von Roten Beten in Erinnerung geblieben sind. Ich durfte mir, wenn
ich spielen ging, ab und zu eine kleine Handvoll davon mitnehmen.
Man hatte lange etwas davon, denn die Schnitzel mußten erst lange
im Munde aufweichen, ehe sie eßbar wurden.
Für Kinder gab es noch Trockenmilch, die man nicht nur zu einem
Getränk, sondern – mit Mehl gestreckt – auch zu einem süßen
Brei anrühren konnte. Der wurde mit dem Löffel direkt aus der
Tasse gegessen. Eine seltene Delikatesse war das Eipulver. Mit
Wasser angerührt und auf der Pfanne gebraten, entstand eine Art Rührei,
allerdings ohne Speck und Schinken. Daran war überhaupt nicht zu
denken.
Daß die Luftbrücke keine richtige Brücke war, sondern aus einer
endlosen Kette von Flugzeugen bestand, wurde mir schnell klar,
denn wir wohnten genau in der Einflugschneise zum Flughafen
Tempelhof. Alle zwei bis drei Minuten flog eine Maschine mit dröhnenden
Motoren nur wenige Meter über unser Haus hinweg, in endloser
Reihe, Tag und Nacht. Wenn das Brummen eines Flugzeugs in der
Ferne kaum verklungen war, kündigte sich auf der anderen Seite
schon das nächste an. Für mich war dieses Geräusch nicht beängstigend,
eher beruhigend – bis ich eines Tages erfuhr, daß in der
Handjerystraße ein Flugzeug abgestürzt und auf ein Wohnhaus
gefallen war. Dabei waren einige Hausbewohner ums Leben gekommen.
Parallel zur Zietenstraße, in der wir wohnten, lag die damalige
Prinz-Handjery-Straße, dort vermutete ich die Absturzstelle, fand
sie aber nicht. Ich wußte ja nicht, daß die Wilmersdorfer
Handjerystraße gemeint war. Obwohl meine Mutter mir das erklärte,
hatte ich von da an dennoch Angst. Wie schnell konnte eine
Maschine auch auf unser Haus stürzen! Manche Nacht lag ich nun in
meinem Bett und konnte nicht einschlafen, während ein Flugzeug
nach dem anderen über unser Dach hinwegbrummte.
Die
Amerikaner oder: "Xänkju!"
Für mich waren die Amerikaner der Inbegriff des schlechten
Benehmens und eines besseren Lebens zugleich. Ich hatte bis dahin
zwar noch keine Gelegenheit gehabt, einen kennenzulernen, aber
meine Mutter mahnte mich ständig: "Benimm dich nicht wie ein
Amerikaner!"
Die Amerikaner, kurz Amis genannt, schienen ständig in der Nase
zu bohren, sich bei Tisch am Kopf zu kratzen und die Beine auf den
Tisch zu legen. Letzteres hatte ich zwar noch nie gewagt, aber gehört,
das sei die normale Sitzhaltung eines jeden Amerikaners.
Wir hatten damals eine scheußliche Sandseife im Kindergarten. Sie
erzielte ihre Reinigungswirkung wohl weniger aus den
Seifenanteilen als vielmehr aus dem Scheuereffekt, sie erzeugte
auch keinerlei Schaum, sondern eine Art Sandpampe, die zusammen
mit dem Schmutz wieder abgewaschen wurde. Eines Tages bekamen wir
ein Stück weißer Seife, die wundervoll weich war und stark schäumte.
Wir erfuhren, das wäre amerikanische Seife. Von nun an
bezeichneten wir alles als "amerikanisch", was qualitativ
besser war als die gewohnten Dinge.
Ein andermal brachte ein Junge eine kleine Tafel Blockschokolade
mit, die noch an einem weißen Fallschirm hing. Er hatte sie auf
der Straße gefunden. Dabei erfuhren wir, daß die Amerikaner für
die Kinder Schokolade und andere Süßigkeiten an Fallschirmen
abwarfen, kurz bevor sie landeten. Ich habe oft zu den Flugzeugen
hinaufgeschaut, wenn sie tief über mich hinwegflogen. Es gab
normale Flugzeuge mit einem Rumpf und zwei Propellern, aber auch
größere mit Doppelrumpf und vier Propellern. Es gelang mir
allerdings nie, einen Fallschirm zu erwischen. Ein einziges Mal
sah ich einen einsamen Fallschirm nach unten trudeln, aber bevor
ich ihn erreichen konnte, hatten sich bereits mehrere Jungen
darauf gestürzt.
Irgendwann gab es in der Schule aber für jeden eine Tafel
Blockschokolade – die erste Schokolade in meinem Leben. Sie
bestand aus einem einzigen Riegel mit fünf Kästchen. In jedes Kästchen
war ein Buchstabe eingeprägt, so daß sich das Wort BLOCK ergab.
Man brauchte schon gute Zähne, um davon etwas abzubeißen. Die
meisten Jungen verspeisten die Schokolade sofort, aber ich nahm
sie mit nach Hause. Meine Mutter stellte mir frei, meinem Bruder
etwas abzugeben; ich gab ihm zwei Kästchen und meiner Mutter
eins, das sie aber nicht annahm. Da hob ich es für Großvater
auf, der es aber mit Hinweis auf seine Zähne ebenfalls ablehnte.
So konnte ich es mit ruhigem Gewissen selber essen. Es war ein
ganz besonderer Genuß.
Den Geschmack kannte ich zwar schon ein bißchen vom
Schokoladenreis her, den es einmal wöchentlich als Quäkerspeise
gab – einen dicken dunkelbraunen Reisbrei; aber der Genuß der
reinen Schokolade war ungleich eindrucksvoller. – Außerdem
kostete es immer ein gewisses Maß an Überwindung, den
Schokoladenreis zu essen, da er häufig kleine weiße Maden
enthielt, die deutlich in dem braunen Brei zu sehen waren. Wir
fischten sie zwar heraus, wenn wir sie sahen, werden aber bestimmt
viele unentdeckte mitgegessen haben. Das war trotzdem kein Grund,
auf die Speise zu verzichten.
In der Adventszeit erkrankte meine Mutter wieder an der Kopfgrippe
und lag meist im Bett. Eines Tages entdeckte ich, daß in der
Hermannstraße Weihnachtsbäume verkauft wurden. Da meine Mutter
zu schwach war, um sich selbst darum zu kümmern, drückte sie mir
50 Pfennig in die Hand und schickte mich los. Ich sprach den Händler
an, zeigte ihm das Geld und sagte ihm, daß ich das für einen
Baum ausgeben könne. Er überlegte einen Augenblick und führte
mich zu einem kleinen Baum, den ich gut allein tragen konnte. Er
stellte ihn auf, drehte ihn hin und her, damit ich ihn gut
betrachten konnte, und fragte, ob er mir gefalle. Er gefiel mir,
und ich nahm ihn mit.
Meine Mutter war entsetzt, als sie den Baum sah: "Mein Gott, was
hast du dir denn da andrehen lassen?"
Ich fand ihn ganz in Ordnung. Bei näherem Hinsehen stellte sich
allerdings heraus, daß es nur ein halber Baum war: Er hatte nur
an einer Seite Äste, die andere Seite war völlig kahl. Der Händler
hatte den Baum so geschickt vor mir gedreht, daß ich immer nur
die volle Seite zu sehen bekam. Meine Mutter lächelte aber dann
doch; immerhin war es mein erster Einkauf mit eigener
Entscheidung. Wir stellten den Weihnachtsbaum auf ein kleines
Tischchen an die Wand, da war die Rückseite ohnehin nicht zu
sehen. Ich fand diese Lösung übrigens so praktisch, daß ich
heute noch nach solchen Bäumen Ausschau halte: Man kann sie
dichter an die Wand stellen, ohne daß sie umfallen.
Kurz
vor dem Weihnachtsfest wurde uns im Kindergarten angekündigt, daß
uns Amerikaner besuchen würden.
(weiter gehts im Buch)
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