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Es
war Anfang Dezember 1945. Der Zweite Weltkrieg hatte sein Ende
gefunden. Seit einem halben Jahr schwiegen die Waffen. Wir
erwarteten das erste friedliche Weihnachtsfest seit sechs Jahren.
Das Leben hatte sich zunehmend normalisiert. Obwohl die Menschen
in unserer ländlichen Gegend nicht in so hohem Maße unter dem
Bombenterror zu leiden brauchten wie die Menschen in den Städten,
war auch hier der Kriegsschrecken nicht spurlos vorübergegangen.
Nun hieß es, zusammenrücken, denn der Strom von Flüchtlingen
und Obdachlosen aus den Ostgebieten und aus den Großstädten
hielt an. Wer noch ein Zimmer oder eine Kammer in seinem Hause zur
Verfügung stellen konnte, nahm eine Flüchtlingsfamilie bei sich
auf. Es gab eine für heutige Verhältnisse unvorstellbare
Solidarität. Das wenige, das man selber noch besaß, wurde
geteilt mit denen, die alles verloren hatten.
Unser kleines Fachwerkhaus, das ich mit meinen Eltern und mit
meiner Großmutter bewohnte, teilten wir seit den letzten
Kriegstagen mit einem älteren Ehepaar. Es waren entfernte
Verwandte, und sie hatten in einer Bombennacht ihre ganze Habe
verloren. Nun waren sie froh, bei uns wenigstens wieder ein Dach
über dem Kopf gefunden zu haben.
Die Militärregierung der Siegermächte hatte die zivile
Verwaltung in ihre Hand genommen und somit Gesetz und Ordnung
wiederhergestellt. Trotzdem waren die Zeiten noch sehr unruhig.
Immer wieder machten umherstreunende Banden von sich reden. Es
entstanden die wildesten Gerüchte. Man hörte von Gräueltaten -
auch aus einigen Dörfern in unserer Gemeinde. Denn der Schutz des
Gesetzes war noch nicht überall gewährleistet.
Diese umherziehenden Gruppen setzten sich zum großen Teil aus
ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Osteuropa
zusammen. Nach Wiedererlangung ihrer Freiheit waren viele von
ihnen nicht mehr gewillt oder in der Lage, in ihre Heimat zurückzukehren.
Was man ihnen nicht freiwillig gab, nahmen sie sich mit Gewalt.
Dabei kam es auch verschiedentlich zu Übergriffen und Racheakten
gegenüber ihren früheren Unterdrückern. Nach Einbruch der
Dunkelheit war es ratsam, Fenster und Türen gut zu verschließen.
Wer draußen noch irgendeine Arbeit zu verrichten hatte, trug
Sorge, sich nicht allzuweit von den schützenden Häusern zu
entfernen.
Es war an einem solchen Abend in der Vorweihnachtszeit, ich
glaube, es war am Abend des zweiten Advent. Meine Eltern waren
eben mit der Stallarbeit fertiggeworden und wir schickten uns an,
das Abendbrot zu essen, als plötzlich an unsere Haustür geklopft
wurde. Mein Vater begab sich nach draußen, um nachzuschauen.
Neugierig gesellte ich mich zu ihm. Ich war damals neun Jahre alt.
Sechs merkwürdige Gestalten stehen an einem Adventsabend des
Jahres 1945 vor dem kleinen Häuschen der Familie Müller im
Bergischen Land und bitten um ein Quartier für die Nacht.
Da
stand in der Dunkelheit ein gutes halbes Dutzend Männer. In
gebrochenem Deutsch baten sie um ein Quartier für die Nacht.
Zögernd ließ mein Vater sie eintreten. Nachdem sie in unserer
Wohnstube Platz genommen hatten, konnten wir sie im Scheine der
Lampe näher betrachten. Sehr vertrauenserweckend sahen sie nicht
aus. Das Leben auf der Landstraße hatte sie gezeichnet.
Während meine Mutter das Abendbrot zubereitete, versuchte mein
Vater etwas über das Schicksal der Männer zu erfahren. Nach der
einfachen, mit wenigen Mitteln zubereiteten, aber kräftigen
Mahlzeit wurde beratschlagt, wie und wo man die Männer für die
Nacht unterbringen könnte.
Im Hause selber war es, nicht zuletzt durch unsere Verwandten als
neue Mitbewohner, ziemlich eng geworden. Also blieb nur noch die
Scheune. Im Scheunenanbau befand sich der Holzschuppen, dort
lagerte auch das Heu als Wintervorrat für unsere beiden Kühe.
Hier im Heu richteten nun meine Eltern mit allerlei Decken und
alten Mänteln ein warmes und bequemes Nachtlager her. Unsere alte
Petroleumlampe sorgte für die nötige Helligkeit.
Kurz vor Schlafenszeit entschloß sich mein Vater zu einem
"Kontrollgang", wie er sich ausdrückte. Es ließ ihm nämlich
keine Ruhe, ob sich unsere Gäste auch an die Abmachung gehalten
hatten, wegen der großen Brandgefahr auf das Rauchen zu
verzichten. Meine Mutter bat mich mitzugehen. Im Beisein eines
Kindes - so meinte sie - wäre mein Vater sicherer vor eventuellen
Übergriffen.
Als wir den Holzschuppen betraten, bot sich uns im Schein der
Laterne ein Bild, das ich bis heute nicht vergessen habe: Da hatte
sich ein Teil der Männer unserer Sägen bemächtigt und sie
schnitten nun die schweren Stämme, die hier als Brennholz
lagerten, in Ofenlänge durch. Die anderen spalteten die klobigen
Klötze mit dem Beil zu handlichen Scheiten und stapelten sie auf.
Das alles bereitete ihnen ein sichtliches Vergnügen, umso mehr,
als sie nun unsere ungläubigen und erstaunten Blicke sahen. Sie
erklärten, das sei nur ein kleiner Dank für die freundliche
Aufnahme.
Am anderen Morgen sind sie dann nach einem guten Frühstück -
nicht ohne ein großes Butterbrotpaket, das jeder von ihnen zum
Abschied in die Hand gedrückt bekam - weitergezogen, einer
ungewissen Zukunft entgegen.
Viele Jahre sind seitdem ins Land gegangen, doch immer wieder muß
ich an jenen Dezemberabend denken, an dem die Angst, die
Voreingenommenheit und das Mißtrauen besiegt wurden durch ein
wenig Menschenfreundlichkeit.
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