Oswald
Döpke, geboren 1923 in Eldagsen bei Hannover. 1940–42 Studium
an der Braunschweigischen Staatsmusikschule; 1942–45 Soldat;
Verwundung, Gefangenschaft; 1946–48 Schauspieler, 1949–62
Chefdramaturg, Regisseur und ab 1953 Leiter der Hörspiel- und
TV-Spielabteilung von Radio Bremen; 1963–87 Leit. Regisseur im ZDF;
Gastprofessor Mozarteum Salzburg; Regisseur mehrerer hundert Hörspiele
u. Fernsehfilme und von fünfzig Theaterinszenierungen (u.a. Münchner
Kammerspiele, Thalia-Theater Hamburg), Autor von Hör- und TV-Spielen,
Theaterstücken; 1994 Veröffentlichung von Briefen Ingeborg Bachmanns
in der Kulturzeitschrift »du«; Auszeichnungen u.a. Prix Italia,
Kriegsblindenpreis, 1. Preis »Goldenes Prag«, »Taube« von Monte
Carlo, »Silberne Maske« (beste Inszenierung der Spielzeit,
Thalia-Theater); Oswald-Döpke-Archiv Akademie der Künste, Berlin.
Oswald Döpke ist verheiratet, hat zwei Kinder und drei Enkel. Er lebt
in München.
Inhalt
Kamerad Pferd I – Prolog 9
Truppenbetreuung 15
Kamerad Pferd II 21
Lieschen 25
Kamerad Pferd III 29
Maria und Josef 33
Partisanenjagd 39
Fricke 41
Kamerad Pferd IV 45
Steinpilze 49
Von Zuhause nach Zuhause I 51
Von Zuhause nach Zuhause II 57
Ein guter Freund 63
Der Kopf 69
Kamerad Pferd V 71
Ulfilas – Requiem für ein Pferd 75
War er verrückt? 81
Kamerad Pferd VI 83
Kamerad Pferd VII 85
Auf der Heide blüht 89
Kamerad Pferd VIII 91
Epilog 103
Nachwort 105
Kamerad Pferd I – Prolog
Kamerad Pferd I - Prolog
Frankreich, Juli 1942
»Wenn Sie die Oberlippe, Sie können auch Nase dazu sagen, durch
diese Schlaufe ziehen und den Holzgriff um seine Achse drehen –
sehen Sie: so wie ich das jetzt mache! –, bleibt das Tier wie
erstarrt stehen. Schauen Sie sich das an! Der enorme Schmerz, den die
»Nasenbremse«‚ so heißt das Gerät, in diesem besonders
empfindlichen Körperteil verursacht, ermöglicht Ihnen, selbst
komplizierte Operationen durchzuführen, ohne daß Sie zu weiteren Anästhesiemitteln
greifen müssen. Dieser Schmerz überdeckt den der meisten
therapeutischen Eingriffe. Sollte das Pferd aber trotzdem versuchen,
auszubrechen, können Sie zusätzlich auch noch Ohrenbremsen
einsetzen. Sie brauchen die Schlaufe dann nur – so wie ich das am
Maul demonstriert habe – über das Ohr zu ziehen, das Ohr ist ähnlich
empfindlich, und das Pferd rührt sich nicht mehr von der Stelle. Im
Notstand – denn Sie haben ja nicht immer einen Operationssaal zur
Verfügung – können Sie mit dieser Art Narkose sogar
Kolikoperationen machen. Kapiert? Nein? Gut: Ich zeige es Ihnen noch
einmal.«
Die Augen des Grauschimmels traten aus den Höhlen. Er zitterte. Seine
Flanken gingen wie ein Blasebalg. Der mächtige Leib war aufs äußerste
angespannt. Er schweißte stark. Ich sah entsetzt auf den etwa 25
Zentimeter langen Holzgriff mit dem kurzen Strick, der, durch zwei Löcher
im Abstand von zehn Zentimetern geführt, eine Schlaufe bildete, in
der nun die weiche, warme Oberlippe des Tieres steckte, um gut 75 Grad
grotesk verdreht.
»Und jetzt kommen Sie einmal her! Einer nach dem anderen! Beweisen
Sie mir, daß Sie aufgepaßt haben!«
›Nein!‹ dachte ich. ›Nein, das kann ich nicht! Das werde ich nie
können!‹
Ich trat an das Pferd heran.
»Unser Sänger!« lachte eine Stimme, als ich wieder zu mir kam.
»Wer kann singen?«
So hatte es heute morgen auf dem Bahnhof von Montreuil-sur-Mer
angefangen. Nein, wir hatten uns nicht verhört: Ein Offizier –
seine Uniform war grün paspeliert – stand vor den Neuankömmlingen
aus der Heimat, die zur Verstärkung der Besatzungsarmee nach
Frankreich verlegt worden waren, und fragte tatsächlich: Wer kann
singen?
»Der hier!« Karl stieß mich an und zeigte auf mich.
»Treten Sie mal vor!« sagte der Grünpaspelierte. Seine Stimme klang
freundlich und gar nicht militärisch. Als ich mich nicht rührte: »Nun
kommen Sie schon, genieren Sie sich nicht!«
Ich machte zwei Schritte und sah mich um. Karl grinste. (»Hör bloß
auf, ich bin nicht so leicht zu rühren«, hatte er im Waggon gesagt,
wenn ich mit meiner ausgebildeten Gesangsstimme renommierte.) Als ich
vor ihm stand, spitzte der Grünpaspelierte die Lippen und sang:
Do-re-mi-fa-sol. Er hatte einen hübschen, kleinen, etwas nasalen
Tenor. ›Österreicher‹, dachte ich.
»Jetzt Sie!«
Ich räusperte mich, dann sang ich die Tonleiter nach. »Ein Bariton!«
Er schien begeistert. »Ein Bariton! Den wir so dringend brauchen!«
Er schlug mir anerkennend auf die Schulter. Wo war ich hier?
»Jetzt fehlt nur noch ein Baß!«
Aber einen Baß fand er an diesem Tag nicht mehr.
Das war heute morgen gewesen. Nun war
es Nachmittag, und Oberveterinär Dr. Hollung demonstrierte den Neuankömmlingen,
neben mir noch sechs Bauernsöhnen, die mit Pferden aufgewachsen
waren, was ein Veterinärgehilfe, denn das war ich jetzt, als erstes
zu lernen hat.
Wenn ein gegen seinen Willen zum Infanteristen gedrillter
Schauspielschüler der Laune des Zufalls in Gestalt des Zahlmeisters
einer Veterinärkompanie begegnet – denn das war der Grünpaspelierte
–‚ der weniger an Soldaten als an Sängern interessiert ist,
glaubt er nur zu gern, er habe den Krieg schon gewonnen. Das war ein
Irrtum.
Von Beruf Musiklehrer an einem österreichischen Gymnasium, hatte sich
der Zahlmeister mit der Aufstellung eines Chores einen Herzenswunsch
erfüllen können, gerade jetzt, nach dem gewonnenen
Frankreichfeldzug, jetzt, wo auch die Veterinärkompanie weniger mit
der Behandlung von Kriegsverletzungen als mit Schlagverletzungen und
Geschirrschäden beschäftigt war, Erkrankungen also, wie sie auf
Bauernhöfen alltäglich sind. Außerdem verstand er nichts von
Pferden und gab gern zu, daß sie ihm »unheimlich« seien.
Dafür verstand der Kompaniechef um so mehr davon. Oberstabsveterinär
Dr. Isenberg hatte »in dieser ruhigen Zeit« damit begonnen, einen
Reitstall aufzubauen, dessen Ruf weit über die Grenzen der Division
hinaus erstrahlte. Es verging kein Wochenende, an dem die Herren der höheren
Stäbe nicht Jagden ritten, Hindernisse sprangen, sich im
Dressurreiten übten oder mit Einfahrwagen und Sechsergespann
Gutsherrengewohnheiten pflegten, von denen sie daheim vermutlich nicht
einmal zu träumen wagten. Im roten Rock und mit Samtkappe versteht
sich. Aber der Höhepunkt waren die abendlichen Diners. Sie hatten
breughelsches Format.
Dazu sang der Chor »Wie es daheim war« und »Jetzt gang i ans Brünnele«,
und nachdem der Zahlmeister nun auch noch den ersehnten Bariton mit
Soloqualitäten präsentieren konnte – der bisher fehlende Baß
wurde von der Bäckereikompanie ausgeliehen –, wagte er sich an den
Jägerchor aus dem »Freischütz«, den er für den Hubertustag
einstudierte.
An diesem Tag sollte ich mich nicht
nur als Bariton bewähren – was zur Zufriedenheit von Dirigent und
Publikum dann auch gelang –, ich assistierte auch zum ersten Mal bei
einer Bulbusextirpation und erntete das besondere Lob des Chefs. Ein
außerplanmäßiger Assistenzveterinär war schwer erkrankt in ein
Heimatlazarett zurückverlegt worden, und da seine Position nicht
neubesetzt werden konnte, versuchte man es mit dem »Sänger«.
Nach weiteren drei Wochen hatte ich gelernt, was eine unerfahrene,
aber aufmerksame Hilfskraft‚ die ihre Chance begreift, bei der
Behandlung von Hufkrebs und Hufknorpelfisteln‚ Widerristschäden,
eitrigen Phlegmonen und Gelenkseröffnungen lernen kann und bald
heraus hat, wie man mittels eines Maulgatters bei schlechten
Futterverwertern Zähne raspelt‚ bei Neuzugängen Blutproben
entnimmt und unter dem Mikroskop Erithrozyten und Leukozyten auszählt.
Gleich in der ersten Woche meiner Assistenz war es zu einem Unglücksfall
gekommen, der mich tief deprimierte und meine Karriere als Veterinärgehilfe
schon wieder zu beenden schien. Nachdem ich den Status praesens einer
Fuchsstute aufgenommen und die Kanüle zur Blutentnahme in die große
Rollader gestochen hatte, bemerkte ich, daß mir das Glasgefäß zum
Auffangen des Blutes fehlte. Als ich in den Nebenräumen endlich
gefunden hatte, was ich brauchte, lag mein Patient bereits im Stroh
und war verblutet. Ich hatte vergessen, die Kanüle aus der Ader zu
ziehen.
Zu meiner Überraschung wurde ich nicht bestraft. Lehrgeld müsse
jeder zahlen, sagte Isenberg, und da die Adern der Pferde dicker seien
als die der Menschen‚ seien auch die Kanülen dicker. Er lachte
schallend und war gekränkt, daß ich seine Begeisterung nicht zu
teilen schien. »Gott erhalte Ihnen Ihre empfindsame Künstlerseele!«
Und dann erklärte er mir, »wie man solche Mißgeschicke und nicht
nur solche bei uns hier repariert!«
Bei Pferden unterscheidet die Dienstvorschrift für Veterinäre
zwischen 120 Krankheiten, nennt aber nur sechs, an denen ein Tier auch
sterben darf, soll es danach zu keiner gerichtlichen Untersuchung
kommen. Aber Krankengeschichten seien zuerst einmal Papier und das sei
bekanntlich geduldig, erklärte Isenberg, nahm das Krankenblatt meines
verstorbenen Patienten zur Hand und sagte: »Passen sie mal auf!« Die
Stute hier sei wegen eines harmlosen Geschirrdrucks eingeliefert und
sachgerecht behandelt worden, und nun verende sie an einer – er nahm
den Stift zur Hand und schrieb und hielt mir das Geschriebene unter
die Nase – »Gelenkseröffnung infolge Schlagverletzung in unseren
Ställen. Punkt! Kapiert?!«
Und an Gelenkseröffnungen dürfen Pferde nach der Vorschrift sterben.
So einfach war das.
Als ich meinen Dienst antrat, war Dr.
med. vet. Isenberg, im Zivilberuf Professor an einer tierärztlichen
Hochschule, seit kurzer Zeit damit beschäftigt, dem Reitstall einen
Glanz zu verleihen, der seinesgleichen suchte: Er stellte bestimmte
Pferderassen, nach Haarfarben geordnet, zu Zügen zusammen. Das hatte
es noch nicht gegeben. Er hatte mit Befriedigung zur Kenntnis
genommen, daß »sein« Künstler seine Begeisterung für die Schönheit
edler Tiere teilte. Und außerdem hatte er sich als lernfähig
erwiesen.
So weihte er mich denn in ein Geheimnis ein‚ das – wie sich bald
herausstellte – die meisten kannten. Der berühmte Reitstall war
illegal. Er bestand fast ausschließlich aus solchen Pferden, die an
den berühmten sechs Krankheiten gestorben waren. Also toten Pferden.
Ich habe ihn nicht gefragt, ob er Gogols »Tote Seelen« kenne.
Die Sache begann mich zu reizen.
Um dem Reitstall ständig neue erstklassige Tiere zuführen zu können,
bedurfte der Chef eines diskreten Mitverschworenen, der in der Lage
war, die Krankengeschichten variationsreich zu manipulieren. Da der
erkrankte Assistenzveterinär nicht mehr zur Verfügung stand, hatte
Isenberg mich für diese delikate Aufgabe ausersehen.
Wenn sein pferdenärrisches Auge in den folgenden Monaten einen neuen
»Crack« für den Reitstall erspäht hatte, trat ich in Aktion: Ich
legte eine Krankengeschichte an, deren Modellfall so aussah, daß das
auserwählte Tier nach seiner Einweisung unter Aufbietung aller
veterinärmedizinischen Künste behandelt wurde und danach als »geheilt«
an die Vorratsstaffel entlassen werden konnte, wo es dann noch ein
paar Wochen als Rekonvaleszent verblieb. In der Vorratsstaffel dann
erkrankte es an einem der sechs lebensbedrohlichen Leiden, wurde
daraufhin in die Lazarettstaffel zurücküberwiesen, wo es – trotz
aufopfernder Betreuung – »korrekt« verendete.
Hatte sich der Vorbesitzer eines auf diese Weise verblichenen Tieres
zu einer unserer reiterlichen und kulinarischen Veranstaltungen
angesagt – der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, daß ich
mich während der abendlichen Feste immer stärker als Solist unseres
Chores profiliert hatte –, wurde das »verstorbene« Pferd bis zur
Abreise seines ehemaligen Besitzers in irgendeinem Stall versteckt.
Schwieriger gestaltete sich das Versteckspiel‚ wenn wir eine größere
Reitgesellschaft mit schönen Pferden zu versorgen hatten, denn es war
zu vermuten, daß eines der Tiere einem der Gäste gehörte. Und da
passierte es schon einmal, daß Herr Oberst Meier plötzlich
fasziniert feststellte, wie sehr der Wallach des Herrn Oberstleutnants
Schulze doch seinem verblichenen »Rondo« gleiche, »bis auf
Milchmaul und Stirnflocke«, ja, er möchte wetten, auch die Gänge
seien die gleichen. Doch unwiderlegbar bewies die Krankengeschichte,
welche Wunder die Natur hervorbringt.
Nachdem ich mich derart qualifiziert hatte, wartete Ende Oktober ein
besonderer Vertrauensbeweis auf mich.
Kamerad Pferd II
Frankreich, Ende Oktober 1942
Es waren vier Schreibmaschinenseiten voller Tippfehler. Während ich
sie überflog, spürte ich, wie er mich beobachtete.
... Dann hat sich mit faulendem
Dachstroh ernährt
Und weitergehungert Kamerad Pferd,
Verwundet, erfroren, von Feuer versehrt
Behalten im Herzen wir Kamerad Pferd ...
»Aber...« Ich sah Isenberg an. »Aber
...«
»Kein Wort!« Er unterbrach mich sofort. »Sie können dazu sagen,
was Sie wollen. Doch Sie werden dieses Gedicht beim Divisionsstab
vortragen! Schon nächste Woche! Auswendig! Und das ist ein Befehl! Im
übrigen habe ich Sie schon angekündigt.«
Ich versuchte es noch einmal: »Aber das ist ein ganz fürchterlich
sentimentales Machwerk! Auch formal ganz indiskutabel!«
»Keine Widerrede! Wenn ich schon einen Künstler in der Kompanie
habe, muß er es auch beweisen!«
»Aber es ist auch viel zu lang: 28 Strophen!«
»Machen Sie fünfzehn daraus. Doch die müssen hinhauen! Sie ahnen ja
nicht, wie so etwas ankommen wird! Und noch etwas: Das Gedicht hat ein
Herr aus unserer Division verfaßt, dem ich sehr verpflichtet bin. Sie
verstehen?!«
Ich verstand. Ich hatte den Namen des Autors nicht übersehen.
Oberstveterinär Dr. Schröder war Isenbergs unmittelbarer
Dienstvorgesetzter und sein Protektor. Er kannte und deckte das »Reitererholungsheim
Isenberg« und war ein regelmäßiger Gast. (»Kompliment, Herr
Isenberg, Sie garantieren den Stäben das angenehmste Wochenende
zwischen Amiens und der belgischen Grenze!«)
»Blamieren Sie mich ja nicht, sonst geht die schöne Zeit bei uns für
Sie zu Ende. Ich kann Sie ohnehin nur mit größter Mühe bei den rückwärtigen
Diensten halten. Ihr Jahrgang gehört an die Ostfront und da wird kräftig
geschossen, falls Ihnen das entgangen sein sollte!«
Isenberg hatte sich nicht getäuscht:
Als die fünfzehn Strophen des Hohen Liedes vom guten Kameraden Pferd
verklungen waren, herrschte ergriffenes Schweigen. Dann erhob sich der
Divisionskommandeur, räusperte sich und begann: »Brav, wirklich brav
...«, seine Stimme versagte. Nachdem er einige Male geschluckt hatte,
nahm er einen neuen Anlauf: »Herr Isenberg, ich wünsche, daß dieses
wunderbare Gedicht in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift ›Der
Reiter‹ erscheint!«
Die Herren begannen zu klatschen. Isenberg sah zu Schröder hinüber,
Schröder wurde blaß. Ich wußte, was in ihm vorging. Er hatte seine
Strophen nur mehr am Refrain wiedererkannt, am sich fünfzehnmal
wiederholenden »Kamerad Pferd«. Und nun sollte er das Gedicht
einsenden.
Nein, es war kein lyrisches Meisterwerk geworden, was ich da aus dem
originalen Schröder zusammengebastelt hatte, wirklich nicht; und es
war auch in dieser Form nicht weniger sentimental und unaufrichtig. Im
Gegenteil: Durch die Verdichtung auf nur fünfzehn statt der ursprünglichen
28 Vierzeiler machten sich die Verdienste des Kameraden Pferd nun
derart die Rangfolge streitig, daß sie die Zuhörer wie eine geballte
Ladung trafen, unter der sie sich nur noch wegducken konnten. Einige
von ihnen aber hatte es voll erwischt. Bereits bei der achten Strophe
hatte der Stabschef begonnen, intensiv sein Monokel zu putzen, was von
den anderen scheinbar als Ermutigung verstanden worden war, nun
ihrerseits der Rührung freien Lauf zu lassen.
Und wieder machte ich eine Erfahrung, die mich an meine Auftritte als
Kind von sechs, sieben Jahren auf der Bühne des heimatlichen
Ratskellers erinnerte, wenn ich mein Publikum zu verachten begann,
weil es Beifall spendete, obgleich mir mein Vortrag mißglückt war,
aber trotzdem spürte: Auch der falsche Beifall ist süß.
Isenberg rettete Schröder. »Herr General, ich denke, daß Herr Schröder
es billigen wird, wenn mein Oberreiter ...« – ich war bei der
letzten Beförderung nicht, wie erhofft, zum Gefreiten, sondern nur
zum »Oberreiter«, dem niedrigsten Rang, ernannt worden, da Isenberg
zu befürchten schien, meine Sonderstellung dürfe vor den anderen
nicht auch noch bei der Beförderung herausgestrichen werden; so trug
ich nun, anstelle des Gefreitenwinkels nur einen Stern auf dem linken
Ärmel – » ... wenn mein Oberreiter das Gedicht, das er so brav
aufgesagt hat«, er sah mich gönnerhaft an, »noch einmal an unseren
Dichter, und das ist Oberst Schröder, wie wir alle erlebt haben, zurückgibt,
für eventuelle Korrekturen ...«
Schröder blühte dankbar auf. »Sehr gut«‚ sagte der Kommandeur.
»Sie sind doch sicher damit einverstanden, lieber Herr Schröder?«
Schröder nickte bereitwillig. »Und Sie, Herr Isenberg«, der General
wandte sich an den Chef, »werden mir noch eine Bitte erfüllen: In
den nächsten Wochen erwarte ich hohen Besuch: Der Oberbefehlshaber
unserer Heeresgruppe hat sich mit seinen Herren angesagt. Ich bin
sicher, Sie werden unseren jungen Freund hier«‚ und er sah väterlich
zu mir herüber, »für zwei, drei Tage zu mir abstellen. Der
Feldmarschall ist ein begeisterter Reiter. Er wird seine Freude haben!«
Vierzehn Tage später kam der angekündigte
Besuch. Der Feldmarschall und seine Herren hatten ihre Freude.
Der »Siegeszug« – ich kann es nicht anders nennen – eines
Gedichtes nahm seinen Anfang.
Kamerad Pferd III
Rußland, Januar 1943
Im Januar 1943 waren wir nach Rußland verlegt worden. Stalingrad war
gefallen. War das der Anfang vom Ende?
Die Veterinärkompanie lag im Mittelabschnitt, in der Nähe von
Roslawl.
Wir hatten über 600 Patienten. In Frankreich waren es höchstens 300
gewesen. Und hier hatten wir auch noch mit Krankheiten zu tun, die
niemand kannte. Eine dieser neuen Krankheiten befiel nur Kaltblüter.
Sie verschonte die russischen Panjepferde, die anscheinend gegen die
Erreger immun waren. Das brachte uns auf die Spur. Aber es dauerte
Wochen, und viele Patienten verendeten, bis wir herausfanden, daß
diese Krankheit durch Blutkörperparasiten verursacht und von Zecken
übertragen wurde. Endlich hatte man auch einen Impfstoff entwickelt,
der aber nur wirksam war, wenn er unmittelbar nach dem Zeckenbefall
gespritzt wurde. Es schien aussichtslos, unsere Patienten ständig
nach Zecken abzusuchen. Bei mehreren hundert Pferden eine unlösbare
Aufgabe. Die Krankheit hieß Piroplasmose.
Ein ähnlich unlösbares Problem stellte die Milbenpest dar. Grab- und
Saugmilben fraßen die Tiere kahl. Rappe und Schimmel waren nicht mehr
zu unterscheiden. Es herrschte Chaos: Welches Pferd gehörte welcher
Einheit? Einzige Hilfe boten die Hufbrandnummern im linken Hinterhuf;
aber die waren oft nicht rechtzeitig erneuert worden und bereits
ausgewachsen.
Da die Fronten zum Stehen gekommen waren, von gelegentlichen Einbrüchen
in die »deutsche Abwehrfront« abgesehen, gab es nur mehr wenige
verwundete Pferde.
Doch das »Kurhotel Isenberg« florierte auch hier. Starb ein vordem
gesundes Tier, lud das Feldtelefon die Stabsoffiziere zum Mahl. Ein
Pferdeschnitzel kann eine Delikatesse sein. Vor allem der Sauerbraten.
Hier das Rezept: Drei Tage lang in einer Marinade ziehen lassen,
dreimal täglich wenden, dann gut trocknen, mit einer Sauce aus süßer
Sahne, Johannisbeergelee, Rosinen, Korinthen und einem Schuß Rotwein
abschmecken und in Butter und Schmalz fünf Minuten lang bei großer
Hitze von allen Seiten anbraten. Eine unbeschreibliche Köstlichkeit.
Das konnte die Heimat nicht bieten.
Deshalb machten viele Frontoffiziere, bevor sie zum Urlaub in die
Heimat fuhren, bei uns Station. Zum Auftanken, bevor zu Hause die
Bomben fallen, sagten sie. Als Mitbringsel für die Lieben daheim
nahmen sie ein Stück von unserem berühmten Bärenschinken mit,
getrocknetes Pferdefleisch. Und auf dem Weg zurück zur Front legten
sie bei uns noch einmal eine Pause ein. In diesem Jahr wurden wir so
etwas wie ein Erholungsheim im Niemandsland. Irgendwo »da vorn«
lagen die Russen, irgendwo »da hinten« lauerten die Partisanen, und
»daheim« nahm der Bombenkrieg auf die deutschen Städte zu. Selbst
wenn sich eine großkalibrige Granate einmal zu uns verirrte, bestand
der Krieg für die Veterinärkompanie vornehmlich aus vorbeikommenden
Sanitätswagen auf dem Weg zur Lazarettkompanie, verwundeten Pferden
und Gerüchten »von da vorn« und solchen »von zu Hause«. Die
letzteren allerdings wurden immer deprimierender.
Und dann gab es immer noch »Kamerad
Pferd«.
Aus dem Titel des Gedichtes war mittlerweile so etwas wie mein »Künstlername«
geworden. Kaum einer redete mich anders an. Kein 30. Januar, kein »Führer-Geburtstag«,
kein 1. Mai, keine Oster- oder Pfingstfeier ohne das Lied vom nie
aufbegehrenden, opferwilligen Kameraden.
Doch im Gegensatz zum idyllischen Frankreich des Jahres 1942 hatte die
Anteilnahme der Zuhörer eine neue Dimension bekommen: Der Krieg war
nicht mehr zu gewinnen, das ahnten jetzt viele, auch wenn sie den
Gedanken, daß er bereits verloren war, nicht auszusprechen,
vielleicht auch nicht einmal zu denken wagten.
Es war eine andere Art von Rührung, die sie jetzt ergriff, wenn sie
den Versen lauschten, die das Hohe Lied von der armen, geduldigen,
widerspruchslosen, schuldlos leidenden Kreatur sangen.
... Dann hat sich mit faulendem
Dachstroh ernährt
Und weiter gehungert, Kamerad Pferd ...
Das klang im Russland des Jahres 1943
anders. Da kam nicht mehr nur Mitleid auf, da meldeten sich eigene
Zweifel, da war etwas von verlorenen, vergeblichen Hoffnungen, auch
von Scham, und bei einigen wohl auch Erkenntnis und aufkeimende Wut,
daß man sich hatte mißbrauchen lassen und immer noch mißbrauchen
ließ.
... Und ist dieser Krieg eines
Tages vorbei,
Das Pferd, es hat teil auch an unserem Siege ...
Wer mochte das noch glauben?
Nach dieser letzten Zeile wartete ich, mit wachsender Spannung, auf
irgendeine Reaktion, ein spontanes Auflachen, ein plötzliches Husten
... ‚ aber bisher folgte immer nur dumpfes Schweigen, bevor, wie
bisher, der Beifall ausbrach. Dabei hatte ich in meinem Vortrag meine
Zweifel an dieser Heilsgewißheit anklingen lassen, unüberhörbar,
wie ich meinte. Und es schien mir, als wohne diesen Versen eine immer
gefährlichere Sprengkraft inne, die in offenen Defätismus ausarten könne,
ausarten müsse, mit nicht absehbaren Folgen. Sollte ich mich so sehr
getäuscht haben?
Bei einem Treffen hoher Offiziere des Mittelabschnitts zeigte sich ein
berühmter Panzergeneral besonders beeindruckt vom Los der
Kriegspferde.
»Sie haben doch Panzer, Herr Feldmarschall!« wagte ich zu sagen. »Ja,
leider«‚ sagte er. »Mit Pferden wären wir nicht so tief in Rußland
vorgedrungen.«
Hatte ich richtig verstanden?
»Wird bei den Veterinären eigentlich immer noch so schneidig
geritten?« fragte er plötzlich. Selbst er wußte also davon. Ich
bejahte. »Verrückt«, sagte er und fügte leise hinzu: »Aber es muß
ja auch Bordelle geben.«
Und Isenberg?
Ich hatte eine Reihe minimaler Änderungen bei einigen Strophen
vorbereitet, vor allem bei Passagen voller Siegerpathos und
prahlerischem Überlegenheitsgetue, winzige Retuschen und vermutlich
nur für ein aufmerksames Ohr erkennbar, so daß der passionierte Sog
erhalten blieb. Doch Isenberg reagierte nicht, wenn ich ihm heimlich
zu verstehen gab, daß ich ihn dringend sprechen müsse. Fürchtete
er, daß sich daraus erst recht ein Skandal entwickeln könnte? Bei
der Bekanntheit, die die Verse mittlerweile erlangt hatten, war das
nicht auszuschließen. So blieben die fünfzehn Strophen unverändert.
Ich rezitierte, und die Herren hörten zu, wenn sie nach ihrem
Reitvergnügen zur Tafel gebeten wurden. Denn es wurde natürlich
weitergeritten. Isenberg hatte erkannt, daß er den Reitstall nicht
aufgeben durfte. Jetzt erst recht nicht. Es wurde geritten,
gesprungen, mit dem Einfahrwagen herumkutschiert und, wenn genügend
Schnee lag, erfreuten sich die Herren unter dem Grollen der nicht sehr
weit entfernten Front am Skikjöring: vorneweg ein kleiner Araber,
dahinter ein Trakehner und dann ein großer Hannoveraner. Und alle
drei in einer Farbe. Und für die Springreiter waren die Parcours in
Gribowka und Dubrowka ständig bereit.
Die Lazarettkompanie hatte nun unverhältnismäßig viele Abwürfe zu
kurieren: Die Herren waren jetzt meistens betrunken.
In Smolensk, anläßlich einer Inspektion durch einen hochdekorierten
General, waren die Herren derart gerührt, daß unser
Divisionskommandeur sarkastisch meinte, ein Kommando von drei
beherzten Russen würde durchaus genügen, »um wichtige Teile der
deutschen Generalität« gefangenzunehmen, »bevor sie auch nur ihre
Taschentücher weggesteckt haben«. Der Gast lachte und sagte, er müsse
die Herren entschuldigen, denn Heinrich George, der am Abend zuvor mit
seinem Ensemble den »Richter von Zalamea« gespielt hätte, habe ihn
bei weitem nicht so gerührt wie »Kamerad Pferd«.
Von Zuhause nach Zuhause II
Oktober 1943
Mutter brachte mich zum Bahnhof nach Wülfinghausen. Das waren etwa fünf
Kilometer. Wir hatten uns während der letzten Viertelstunde an der
Hand gehalten und nicht gesprochen.
Mutter versuchte, tapfer zu sein und nicht zu weinen. Ihre Fingernägel
hatten sich in meine Handflächen gegraben. »Es ist nicht so schlimm
da draußen«, sagte ich, »die Veterinärkompanie liegt hinter der
Front. Ich fühle mich da fast zu Hause.«
»Zu Hause?« sagte Mutter entsetzt.
»Ja, ich weiß, es klingt komisch, aber so geht es vielen: Die
Kompanie ist so etwas wie ihr Zuhause.« Und ich dachte: ›Es wäre
schlimm, wenn ich zurückkäme und sie wäre nicht mehr da.‹
Wo war die 321. Infanterie-Division?
Wo die 321. Infanterie-Division war, war die Veterinärkompanie. Und
wo die Veterinärkompanie war, war ich zu Hause. Seit drei Tagen, seit
ich von zu Hause abgefahren war, hatte ich jeden im Zug gefragt,
keiner wußte es. Vor zwei Wochen noch lag sie südwestlich von
Smolensk. Aber der Zug war gestern von Minsk aus in Richtung Bobruisk
abgebogen, irgendwo in der Nähe von Gomel war nun Endstation. Wir
waren also viel weiter südlich als bei der Abreise.
Seit zwei Stunden kam und endete Zug
auf Zug. Antreten, abzählen, Namen nennen, Dienstgrad, Truppenteil,
aufrücken, anschließen, Schnauze halten, Pioniere rechts raus,
Artilleristen nach links, abzählen, nachrücken ... Und ständig die
Suche nach vertrauten Gesichtern, das Horchen auf bekannte Namen,
Truppenteile, Divisionen.
Einige hatten Glück: Neidisch sah man, daß sich zwei gefunden
hatten, zwei aus derselben Einheit, und die nun alles versuchten,
zusammenzubleiben, sich nicht wieder zu verlieren, in der Hoffnung,
den alten Haufen wiederzufinden.
Den alten Haufen wiederfinden! Das war die Sehnsucht aller hier. Den
alten Haufen: die vertraute Gemeinschaft, eine Zufallsgemeinschaft von
Menschen, die nichts anderes miteinander verband als gemeinsame Monate
im Dreck, im Schnee, »in der verdammten Scheiße«, gemeinsamer
Hunger, gemeinsame Angst, aber auch diese irrationale Hoffnung,
gemeinsam sei die Chance zu überleben größer – eine trügerische
Hoffnung, das wußten alle, aber die Vertrautheit der Gesichter, der
Stimmen, der Schicksale, soweit man sie kannte, schien die Ängste des
einzelnen erträglicher zu machen. Da war nichts mehr von einem
gemeinsamen Siegeswillen, und wenn es den jemals gegeben haben sollte,
so hatte ich nicht viel davon bemerkt.
Wo war die 321. Infanterie-Division? Wo war die Veterinärkompanie? Plötzlich
verstand ich, daß Heinz Brand, der mit mir auf Urlaub fahren sollte,
darum gebeten hatte, auf den Urlaub verzichten und bei der Kompanie
bleiben zu dürfen.
Gleich nach der Ankunft der Züge
hatte man uns nach Waffengattungen zusammengestellt. Aber als ständig
neue Züge auf den wenigen Gleisen neben dem Dorfplatz in dem
dreckigen Kaff hielten und die Ankommenden eine kilometerlange
Schlange bildeten, wurden sie, sowie sie aus den Waggons kletterten,
zu Kompanien formiert, Infanteristen neben Artilleristen, Panzerfahrer
neben denen aus den Versorgungseinheiten, Rückkehrer neben solchen,
die auf dem Weg in den Urlaub abgefangen und sofort wieder zurücktransportiert
worden waren, Leichtverletzte, die auf Sanitätsfahrzeuge warteten,
neben Versprengten aufgeriebener Einheiten ...
Die Fronten waren auf der ganzen Linie zusammengebrochen, und die Löcher
mußten gestopft werden.
Plötzlich fuhr ich zusammen: Da
hatte einer »321.« gesagt. Ganz leise. Ganz nah.
»Jemand hier von der 321.?« fragte ich.
»Mensch, Kamerad Pferd!« Ein alter Obergefreiter, wenige Meter
entfernt, starrte mich an. Er war gerade angekommen und ordnete sich
neben mir ein. »Gott sei Dank, ich bin nicht mehr allein auf der
Welt!«
Ja, verrückt, aber es stimmte, ohne den eigenen Haufen fühlte man
sich allein auf der Welt, allein zwischen fünf-, sechstausend
anderen.
»Siehst du die Sonnenblumen, drüben auf der gegenüberliegenden
Seite?« frage er. »Das wär’ doch was?!«
Als ich den kleinen Vorgarten mit den hohen Sonnenblumen entdeckte,
gut 200 Meter entfernt, wußte ich sofort, was er meinte. Wenn es uns
gelingen würde, in dem allgemeinen Durcheinander von Aufrücken,
Neuformieren, neuem Abzählen, Weiterrücken zu diesem Garten zu
gelangen, hatten wir vielleicht eine Chance, denn schon begannen
Lastwagen vorzufahren und die ersten Kolonnen abzutransportieren.
Wohin die Reise ging, war allen klar. Es wurde still, kaum einer sagte
etwas. Die gelegentlichen Ansätze von Galgenhumor erstickten immer
gleich wieder im Schweigen, das nur vom Geräusch der Wagen, dem
Klappern von Waffen, Ausrüstung und Befehlsgeschrei unterbrochen
wurde.
Der Obergefreite hatte recht: In dem Gedränge und Geschiebe und
leisem Geschimpfe schien es beim Neuformieren nicht allzu schwer, die
Plätze zu vertauschen, man stolperte, beschwerte sich, tat, als suche
man den alten Nebenmann, und schon hatte man ein paar Meter in
Richtung auf die Sonnenblumen zu gewonnen.
»Mensch, daß ich dich getroffen habe! Ich bin von der 3. Kompanie.
Bei uns hast du erst vor ein paar Wochen dein Gedicht aufgesagt!«
Nach einer halben Stunde waren wir
auf der entgegengesetzten Seite des Dorfplatzes. Die Sonnenblumen
waren ganz nah. Als die letzten Lastwagen abfuhren, schrie eine
Stimme: »Kleine Pause, die nächsten kommen gleich!« Viele hauten
sich hin, andere vertraten sich die Beine. Das war der Moment.
Ich müsse mal austreten, »halt mir den Platz frei!« sagte ich laut
und verschwand im Vorgarten mit den Sonnenblumen. Noch während ich
durch den lückenhaften Zaun kletterte, knöpfte ich demonstrativ die
Hose auf. Zwischen den Blumen wuchs Kohl. Er war hoch ins Kraut
geschossen und bildete zur Straße hin eine Art Hecke. Das einstöckige
Bauernhaus im Hintergrund schien leer. Während ich mich niederhockte,
sah ich mich vor sichtig um: Niemand schien mich zu bemerken. Die
Hecke aus Kraut und Blumen hatte mich verschluckt. Dann begann auch
schon wieder das Weiterrücken der Kolonnen. Ich wartete ein paar
Minuten, dann kroch ich bis zur Hauswand. Die Erde war dort lockerer;
ich buddelte mich ein. Mir war klar, was passieren würde, wenn man
mich finden sollte. Seltsamerweise konkretisierte sich dieser Gedanke
nicht weiter in meinem Bewußtsein. Ich desertierte ja nicht. Ich
wollte nur zu meiner Einheit.
Es muß so gegen 6 Uhr abends gewesen sein, als ich durch den Zaun
kletterte. Jetzt war es bereits dunkel. Die Geräuschkulisse aus
Kommandorufen, Waffenklappern und fernen Lastwagen war dünner
geworden. Dann wurde es ganz still. Nur in der Ferne grollte die
Front. ›Ich bin wohl eingeschlafen‹, dachte ich. Und schlief
weiter.
»Wenn Du nicht tot bist, kannst du
jetzt aufstehen!« Die Stimme kam von der Hausseite des Gartens. Da
meine Beine taub geworden waren, robbte ich auf den Ellenbogen durch
Kohl und Blumen.
In der Tür des verlassenen Hauses hockte der Obergefreite. »Los! Los
jetzt!« sagte er. »Hinter der Scheune steht ein Lkw, der Fahrer ist
von der Front zurückgekommen und weiß nicht, was er machen soll. Es
ist niemand mehr da. Ich habe ihm gesagt, wir seien die letzten. Jetzt
ist er froh, daß er Gesellschaft hat. Hier wimmelt es von Partisanen.«
Ich konnte meine Beine immer noch nicht belasten, die Verwundung
machte sich bemerkbar. Er riß mich hoch und schleppte mich durch den
Flur zum Hinterausgang.
»Schnell ins Führerhaus!« sagte der Fahrer. Er war vielleicht
neunzehn. Er zitterte. Gleich mit seinem ersten Transport war er ins
Artilleriefeuer geraten. Bevor die Soldaten abspringen konnten, hatte
es zwei Tote gegeben. Dem Beifahrer wurden die Beine abgerissen.
»Wohin?« fragte er.
»Richtung Bobruisk!« sagte der Obergefreite.
»Wo ist das?« fragte der Fahrer.
»Im Norden!« sagte der Obergefreite.
»Und wo ist Norden?« fragte der Fahrer.
»Zeige ich dir schon. Und nun fahr endlich!« Der Motor sprang an.
»Bloß keine Scheinwerfer!« sagte der Obergefreite.
»Sind längst kaputt«, sagte der Fahrer.
Wir hatten keine Ahnung, wo die Front verlief. Doch die Einschläge
lagen verdammt nah. »Laß uns umkehren!« bat der Fahrer.
»Wohl verrückt?!« schrie der Obergefreite. »Wenn ich krepieren
soll, dann bei meinem Haufen!«
Die 321. habe vor vierzehn Tagen nördlich von Bobruisk gelegen, sagte
der Obergefreite. Also fuhren wir nach Norden.
»Aber da ist ja die Front!« jammerte der Fahrer.
»Halt endlich die Schnauze!« brüllte der Obergefreite und schlug
dem Fahrer brutal ins Gesicht. »Halt ja die Schnauze, du Memme! Ein
bißchen früher oder später, was macht das schon?! Und wisch dir das
Blut aus der Fresse!« Er warf dem Fahrer einen Putzlappen zu, der vor
der Frontscheibe lag.
Gegen 6 Uhr morgens sahen wir
entfernt in der Dämmerung einige Kühe. Oder waren es Pferde? Ja, es
waren Pferde. Bisher waren wir niemandem begegnet. Wo Pferde sind, müssen
Menschen sein.
»Langsam!« schrie der Obergefreite. Und jetzt sahen wir auch einige
Männer, sie kamen über die Böschung. Partisanen?
»Raus!« schrie der Obergefreite. »Schnell raus!« Er riß mich mit
sich in den Straßengraben und nahm Druckpunkt. Doch bevor die Männer
auf der anderen Seite der Straße verschwunden waren, schrie er: »Mensch,
das sind welche von uns!«
Wir sprangen auf und winkten. Sie warfen sich hin und duckten sich
hinter der Böschung. Dann schienen auch sie überzeugt, daß es nicht
die Russen waren, und winkten zurück.
Und jetzt hatte ich auch das Pferd erkannt: Es war der Schecke von
Oberst Bauer, ein Wallach, der eine Woche vor meiner Abreise mit einer
schweren Kolik bei uns eingeliefert worden war. Es gab nur ein
einziges so wunderschön gezeichnetes Tier in der Division. »Willi!«
schrie ich.
Jetzt hatte ich auch die anderen erkannt. »Kamerad Pferd! Du?! Das
gibt’s doch nicht!«
Irgendwo zwischen Gomel und Bobruisk, mitten im Chaos der wankenden
Fronten, fand ich ihn wieder, meinen Haufen, 200 Kilometer von dem Ort
entfernt, wo ich ihn verlassen hatte. Die vier waren mit den Pferden
auf dem Weg zur Vorratsstaffel im nächsten Dorf. Die Kompanie lag
drei Kilometer entfernt. Heute abend sollte sie marschbereit sein.
Weiter nach Westen. Ich war wieder »zu Hause«.
»Vorerst bekommen Sie keinen Urlaub
mehr«‚ sagte Isenberg. »Ich hatte Ärger mit dem Stab, weil die
Herren vergeblich auf Ihr Gedicht gewartet haben.«
Ulfilas – Requiem für ein Pferd
Frankreich, 6. Juni 1944
Es ist jetzt fünf nach zehn Uhr morgens.
Das Sperrfeuer liegt hinter uns, vor uns fallen seit einer
Viertelstunde kaum noch Bomben; die Flugzeuge drehen ab, zurück zur
Insel, nachdem sie die Lastensegler ausgeklinkt haben. Das Feuer der
Flak holt viele herunter; die leichten Kisten platzen wie
Spielzeugmodelle. In Trauben hängen die Fallschirmjäger in der Luft,
ein leichtes Ziel für die Karabiner der Infanterie. Über Bayeux
liegt dichter Rauch. Oberleutnant P. läßt halten und hinter einer
Hecke Deckung suchen. Der »Bocage Normand«, diesem von unzähligen
Hecken durchzogenen Wiesenland, verdanken wir, daß wir bislang keine
Verluste haben. Ich binde das Pferd an einen Ast, es zittert seit
Stunden und bäumt sich bei jedem nahen Einschlag auf.
Oberleutnant P. sieht mich an: »Sie reiten sofort zurück und holen
meine Kartentasche, ich habe sie auf dem Kamin im kleinen Salon
vergessen. Beeilen Sie sich! Treffpunkt Caumont-l’Eventé. Viel Glück!«
Soll das ein Scherz sein? Vor einer Viertelstunde hat er gesagt: »Daß
wir da rausgekommen sind, aus diesem Inferno, ist ein Wunder. Ich war
zwei Jahre in Rußland, mitten in der Scheiße, aber so etwas habe ich
noch nicht erlebt.« Ich sehe P. an. »Na los!« sagt er. »Haben Sie
mich nicht verstanden? Reiten Sie!«
Es ist jetzt 10 Uhr 15. Um 7 Uhr 30 kam der Befehl, uns von Arromanche
abzusetzen, auf eine rückwärtige Kampflinie, wie es hieß. Vor uns,
hinter uns, über uns: der Weltuntergang.
Zuerst in Richtung Bayeux, dann weiter auf St. Lô zu. Wir sind
gelaufen, geklettert, gekrochen, einzeln und in kleinen Gruppen, jede
Bodenwelle nutzend, die Hecken boten einigen Schutz, aber das Pferd
konnte nicht kriechen, und nur wenige Hecken sind hoch genug: Es bot
ein markantes Ziel.
»Wollen wir das Pferd nicht zurücklassen?« hatte ich gefragt.
»Sind Sie verrückt? Sie sind hier Meldereiter«, sagte P., »und
ohne Pferd kann ich Sie überhaupt nicht brauchen. Sie können nicht
mal schießen ohne die verdammte Brille. Haben Sie denn keine
Ersatzbrille?«
»Nein, leider auch kaputt.
»Sie Salonsoldat«, sagte P., »warum mußte ausgerechnet ich Sie übernehmen,
mitsamt dem Gaul?!« Ich sah auf seine Beinprothese. »Wenn ich reiten
könnte«, sagte P., »dann hätte ich Sie längst wieder abgegeben,
nach vorn, verstehen Sie, mein Haufen hat ohnehin zu viele Krücken.«
›Stimmt‹, dachte ich, ›Kriegsbeschädigte, kaum wieder einsatzfähig,
halbausgebildete Rekruten, alte Männer: Ersatzbataillon, der Name
sagt es.‹ Aber was heißt »nach vorn abgegeben«? »Vorn« gibt es
erst seit heute morgen. Alle reden seit Jahren von der Invasion, aber
keiner hat daran geglaubt. Das hat man heute nacht erlebt! Der beste
Geheimdienst der Welt hat nicht gemerkt, daß da drüben Tausende von
Soldaten zusammengezogen werden, daß Hunderte von Schiffen losfahren
und zig Geschwader von Flugzeugen auf den Einsatz warten! Erst als sie
in Sichtnähe vor ihrer Nase auftauchen, wachen sie auf.
Ich binde das Pferd los, führe es um
die Hecke in einen Hohlweg, der in die Richtung führt, aus der wir
gerade gekommen sind, zurück ins »Inferno«. Plötzlich ist der
Himmel wieder voller Flugzeuge. Warum schmeißen die ihre Bomben im
Hinterland runter? Die Front ist doch vorn, da wo ich hinreite!? –
Eine Detonation! Der Gaul und ich fliegen in die Hecke. Das Pferd
schreit! Ich habe nicht gewußt, daß Pferde schreien können, jetzt
weiß ich es – es dringt in die Seele. Ich habe die Trense nicht
losgelassen, ich klopfe den Hals des Tieres und rede ihm begütigend
zu ... Weiter durch den Hohlweg bis zur nächsten Biegung, das sind
etwa 200 Meter ... Ein neuer Einschlag! Das Pferd bricht aus, wir
landen wieder in den Hecken. So kommen wir nie nach vorn. Ulfilas
blutet an der Kruppe: oberflächlich, nicht gefährlich. Ja, es ist
Ulfilas, der braune Wallach, Hannoveraner, neun Jahre alt, schöne
schmale Blesse bis zum Maul, hinten beidseitig gestiefelt, rechtes
Auge erblindet, ich weiß nicht, seit wann und wodurch. Ein frommes,
folgsames Tier, aber so schrecklich hoch! Zu hoch für das Heckengelände.
Ich ducke mich tief auf seinen Hals. Noch ist der Weg frei, noch etwa
hundert Meter bis zur Biegung. Aber jetzt kommen sie: Die Wagen mit
Verwundeten und Toten rasen an mir vorbei, frische Truppen überholen
mich. Schwerer Artilleriebeschuß setzt ein. Chaos! Ein Kradmelder
schreit: »Dreh den Gaul um, du Held, das ist die falsche Richtung!«
Der Luftdruck einer Explosion schleudert mich vom Pferd, Ulfilas ist
weg! Ich krieche durch eine Hecke: Da steht er und wartet auf mich,
seine Flanken gehen wie ein Blasebalg, er kommt auf mich zu und stößt
mich mit dem Maul. Ich falle ihm um den Hals ... Plötzlich sind wir
auf der Straße nach Caen: Lastwagen, Geschütze, Panzer, Sankas;
Tieffliegerangriff, Bomben fallen: Das Pferd findet auf dem Pflaster
keinen Halt, bei jeder Explosion rutscht es aus, schreit, rast davon.
Aber immer wieder kommt es zu mir zurück oder wartet auf mich. Ja,
mein Pferd: Wir sind aufeinander angewiesen, wir sind eine
Notgemeinschaft, eine Überlebensgemeinschaft! Bloß weg von der Straße,
zurück in die Hohlwege! Die sind total verstopft. Durch! ... Ich habe
die Richtung verloren, aber da vorn muß das Meer sein, von da kommen
die Sanitätswagen, da vorn ist die Kartentasche!
Plötzlich, hinter einem Erdwall: Granatwerferbeschuß. Sind das schon
die ...? Mit Granatwerfern schießt man nur auf kurze Entfernung,
meist über ein Hindernis hinweg. Man kann die ballistische Kurve der
Granate in der Luft verfolgen, sieht sie langsamer werden, im
Scheitelpunkt umkippen ... Wenn man dann mit geschlossenen Augen bis
acht zählt und noch am Leben ist, hat es einen anderen getroffen, und
man kann aufatmen. Ich zähle bis sechs – dann spüre ich einen
harten Schlag. Es wird dunkel. Nach einer Weile – Sekunden? Minuten?
– stößt mich etwas an, etwas Warmes, Feuchtes in meinem Gesicht.
Die Explosion hatte mich verschüttet, Ulfilas hat mich gefunden.
Braves Pferd! Mein Pferd! Mein unschuldiger, einäugiger Kamerad! ...
Da sind sie! Sie sind da! Sie kommen direkt auf mich zu, zehn Meter
vielleicht noch: amerikanische Uniformen, Maschinenpistolen ... Ich
starre sie an, sie starren mich an ... irritiertes Kopfschütteln ...
Dann sind sie um die nächste Biegung verschwunden.
Als Roß und Reiter endlich »vorn«
ankamen – auf meiner Armbanduhr war es 15 Uhr 30 –, hatte sich das
»Unbegreifliche« mehrfach wiederholt. Aber als ich Ulfilas ansah,
begriff ich plötzlich: wir waren beide völlig verdreckt, unkenntlich
für Freund und Feind. Das Bild, das wir boten, war nicht so schnell
einzuordnen, Entschlüsse nicht so schnell zu fassen. Und was wären
das für Entschlüsse gewesen? Auf eine Vision schießt man nicht so
schnell.
Das kleine Château, das uns bis
heute früh als Quartier gedient hatte, war kaum beschädigt. Einsam
stand es zwischen Trümmern. Auf dem Kaminsims lag die Kartentasche
mit den präzisen Plänen der rückwärtigen Auffangstellungen des
Feldersatzbataillons.
Vom Château hatte man einen direkten Blick auf den Hafen von
Arromanche und die Landungsoperationen der Alliierten. Ich sah die
gigantische Maschinerie der Invasionsarmeen in voller Aktion. Aber ich
begriff sie nicht
Ich nahm Ulfilas am Zügel, und wir machten uns auf den Rückweg.
Diesen Weg zurück ins Hinterland kann ich nicht beschreiben. Ich habe
ihn nicht mit Bewußtsein wahrgenommen. Ich hatte die Kartentasche
gefunden, mitten im Schlund der Hölle – und ich wollte sie zurückbringen.
Später habe ich mich immer wieder gefragt, warum hast du nicht hinter
einer Hecke gewartet, bist nach angemessener Wartezeit zu deiner
Einheit zurückgeritten und hast erklärt, vorn stehe nichts mehr,
kein einziges Haus, was nicht einmal ganz falsch gewesen wäre. Aber
ich habe keine Antwort gefunden.
Was ich auf dem Rückweg sah, löste in mir keine Empfindungen aus.
Ich empfand nichts beim Anblick der Opfer des »längsten Tages«, die
da auf den Wegen lagen, in den Bäumen und Hecken hingen, auf den
Sankas schrien. Apokalyptische Bilder – aber ich empfand nichts. Ich
weiß nur, daß ich unentwegt dachte: ›Ich muß die Tasche zurückbringen,
ich muß das Pferd zurückbringen.‹
Gegen Mitternacht war ich in
Caumont-l’Eventé. Unsere Einheit lag in einer »Ferme« am
Ortsausgang. Ulfilas war von mehreren Streifschüssen getroffen
worden, der Widerrist war aufgerissen, die Kruppe blutete, er lahmte
stark. Mich hatte es an der Stirn erwischt, auch am linkem Oberarm,
aber es waren Fleischwunden, keine Affäre.
Als ich Oberleutnant P. die Kartentasche übergab, sagte er: »Ach,
Sie sind tatsächlich zurückgekommen. Ich hatte sie schon als
Deserteur gemeldet. So kann man sich täuschen. Wollen mal sehen,
vielleicht ist jetzt das EK drin.«
Oswald Döpke, 1944, mit Pferd
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