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  Hamburg-Wilhelmsburg
November/Dezember 1926
  Ernst Haß
Grünkohl-Weihnachten

Drei Jahre nach der Inflation ging es uns immer noch schlecht. Ich war 13 Jahre alt. Mein jüngerer Bruder und ich hatten eines gemeinsam: ständig Hunger! Mutter teilte uns das Brot zu, am Brotkasten hing ein Schloß! Unser Vater hatte 1924 bei der Reiherstieg-Werft in Hamburg angefangen zu arbeiten, aber jetzt, im November 1926, wurden alle Hamburger Werften bestreikt. Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück, denn Mutter hat heimlich viel geweint, weil es für uns nicht genug zu essen gab. So machte ich mir Gedanken, wie ich zum Haushaltsbudget beitragen könnte und suchte in der Zeitung nach einem Job.

Ich hatte Glück! Hinter dem Rücken meiner Mutter schrieb ich eine Firma an und bekam Antwort.
Firma Henry Gabrielson-Papier Export AS, Spitalerstr. 12, Semperhaus B – stand als Absender auf der Karte.

Nun mußte ich Mutter mein Geheimnis offenbaren. Zuerst wollte sie nicht zulassen, daß ich dreimal in der Woche jeweils zwei Stunden in der Stadt als Laufjunge und Bote Geld dazuverdiente. Ich bettelte, bis sie einverstanden war.
Zum Vorstellungstermin in Hamburg kam Mutter mit. Außer mir bewarben sich fünf weitere Jungen um den Job. Vier Mark pro Woche sollte es dafür geben – das war damals viel Geld! Für eine Mark konnte man zum Beispiel vier Pfund Rama-Margarine oder 20 Eier kaufen. Bei uns in Hamburg-Wilhelmsburg gab es bei Bäcker Meier am Ernst-August-Kanal für 10 Pfennige eine Riesentüte voll Kuchenrändern. Mein Fahrrad, ein "Dauerpedder", auf Hochdeutsch: Dauerndtreter, hatte 28,50 RM gekostet. Ich war sehr stolz darauf, denn ich hatte vom Frühjahr bis zum Herbst bei Bauer Benthak geholfen und es mir von dem Lohn zusammengespart. Ein Fahrrad mit Torpedo-Freilauf und Rücktrittbremse war viel zu teuer.

Ich bekam die Botenstelle, vielleicht weil ich schüchterner als die anderen Jungen war. Gleich am Montag sollte ich anfangen. Nach Schulschluß um 14 Uhr lief ich rasch nach Hause, damit ich pünktlich um 15 Uhr meine Stelle antreten konnte. Ich mußte meinen Sonntagsanzug anziehen, damit ich anständig aussähe, verlangte Mutter. Dann bin ich mit meinem Dauerpedder losgesaust. Von 15 bis 17 Uhr hatte ich Briefe und Prospekte auszutragen. Die Lauferei war ja zuerst ungewohnt, weil ich mich in der Gegend um den Hauptbahnhof nicht auskannte. Am zweiten Tag klappte alles schon viel besser. Ich kam mit den Fahrstühlen und Paternostern gut zurecht, das machte mir Spaß.

Als ich die ersten vier Mark nach Hause brachte, war die Freude groß. Mutter fiel mir um den Hals und drückte mich. "Mien groot‘n Jung’n", sagte sie. Dabei wischte sie sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. Ich war stolz, daß ich Mutter helfen konnte.

Es ging auf Weihnachten zu. Der Chef und seine Sekretärin hatten Vertrauen zu mir, ich mußte auch Geld und Schecks zur Bank bringen. Einen Tag vor Heiligabend bekam ich nicht vier, sondern zehn Mark!

Mir kamen die Tränen vor Freude – so viel Geld! Die Sekretärin merkte es und nahm mich in den Arm. "God Jul", sagte sie und gab mir einen Kuß auf die Wange, was mich ganz durcheinander brachte. Auf der Rückfahrt nach Hause hat mich kein Auto überholt, so schnell fuhr ich, um Mutter das Geld auf den Tisch zu legen. Mutter lobte mich und sagte: "Du lieber Gott, ich danke dir. Ist die Not am größten, so ist der liebe Gott am nächsten."

Bei Bauer Rheders erstand ich einen Sack Grünkohl und half Mutter, das Gemüse abzustrubbeln. Der Kohl war noch voll Schnee und Eis und meine Finger wurden ganz klamm. Nach dem Putzen schütteten wir den Kohl zum Säubern in den Waschkessel und anschließend in Mutters größten Pott. Dann durfte ich mit Kienspan Feuer anzünden und Holz nachlegen. Mutter warnte: "Paß’ schön auf, das Feuer darf nicht ausgehen!"

Während sie bei Kaufmann Münch in Niedergeorgswerder – der existiert heute noch! – einiges besorgen wollte, heizte ich weiter ein und schwitzte nicht wenig dabei. Mein Bruder holte von draußen Holz herein. Der dampfende Kohl hat mehr als gestunken! Nach einer Dreiviertelstunde war Mutter wieder da. Mit rotem Kopf und schwer bepackt mit zwei Körben kam sie den Deich herunter. Ich lief ihr entgegen und nahm sie ihr ab. Dabei fragte ich sie: "Warum stinkt denn der Kohl beim Kochen so entsetzlich?"
"Weil er Frost gehabt hat, das muß so sein, sonst schmeckt er nicht", erklärte sie mir.

Neugierig sahen wir zu, wie Mutter die Körbe auspackte. Dabei lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mutter hatte eine große Schweinebacke und geräucherten Speck eingekauft. "So Jungs, dat kummt alln’s in Greunkohlpott! Hier hab’ ich noch ’n paar Tannenbaumkringel, die könnt ihr mit Zwirnsfaden in den Tannenbaum hängen", sagte sie. "Der Weihnachtsmann hat keine Zeit, is’ nichts mit der Bescherung dieses Jahr. Nächstes Jahr will er bestimmt kommen."
Wir Jungen waren damit zufrieden.

Am nächsten Tag war Heiligabend. Wir freuten uns schon auf die Schweinebacke und den geräucherten Speck. Vormittags spielten wir auf dem Deich, wo wir uns eine Rutschbahn – bei uns sagte man Glitsche – angelegt hatten. Wir trugen Stiefel mit Holzsohlen, Schuhe mit Ledersohlen waren nur sonntags erlaubt. Das Glitschen machte richtig Spaß! Der Postbüdel (-bote) kam und stellte sein Fahrrad oben am Deich ab. Als er zum Haus hinuntergehen wollte, rutschten ihm schon beim dritten Schritt die Beine unterm Hintern weg. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegend, schimpfte er: "Düsse verdreihten Görn!"

Briefe und Päckchen lagen verstreut auf dem Deich, alles war aus seiner Ledertasche herausgerutscht. Wir haben heimlich gelacht, halfen ihm aber beim Aufsammeln der Postsachen. Schuld hatten wir ja. Unsere Mutter hatte alles mit angesehen und wollte es auch Vater sagen. Mein Bruder und ich hatten Angst. Aus der Strafe wurde aber nichts – Mutter hatte es vergessen!

So verging der Nachmittag, es wurde schummerig und schnell dunkel. Nach dem Waschen durften wir in die Küche – sie war voller Überraschungen! Es gab Kartoffelsalat und Knackwürste. Ich sah dankbar zu Mutter hin, die mich aber schon beobachtet hatte.

Der Weihnachtsmann ist zwar nicht gekommen, aber wir sind richtig sattgeworden, wofür wir unserem Herrgott dankbar waren. Die Lichter am Tannenbaum leuchteten in diesem Jahr besonders hell, so schien mir. Mutter stimmte ein Lied an: "Oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter ..." Als wir das zweite Lied: "Oh, du fröhliche, selige gnadenbringende Weihnachtszeit" sangen, mußte mein Bruder laut aufstoßen, so vollgefressen war er!
Vater sagte "Mahlzeit!"
Mit dem Singen war es vorbei, wir mußten alle lachen. Es war eine ärmliche Weihnachtsfeier ohne Bescherung, aber trotzdem schön!

Das damalige Weihnachtsessen habe ich übernommen bis auf den heutigen Tag, nur Kaßler und Kochwürste kommen heute zusätzlich an den Grünkohl.

   
  Aus: "Zwischen Kaiser und Hitler". Reihe ZEITGUT, Band 15.
   
   
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  Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

 
     

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