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Drei
Jahre nach der Inflation ging es uns immer noch schlecht. Ich war
13 Jahre alt. Mein jüngerer Bruder und ich hatten eines
gemeinsam: ständig Hunger! Mutter teilte uns das Brot zu, am
Brotkasten hing ein Schloß! Unser Vater hatte 1924 bei der
Reiherstieg-Werft in Hamburg angefangen zu arbeiten, aber jetzt,
im November 1926, wurden alle Hamburger Werften bestreikt. Ich
denke nicht gerne an diese Zeit zurück, denn Mutter hat heimlich
viel geweint, weil es für uns nicht genug zu essen gab. So machte
ich mir Gedanken, wie ich zum Haushaltsbudget beitragen könnte
und suchte in der Zeitung nach einem Job.
Ich hatte Glück! Hinter dem Rücken meiner Mutter schrieb ich
eine Firma an und bekam Antwort.
Firma Henry Gabrielson-Papier Export AS, Spitalerstr. 12,
Semperhaus B – stand als Absender auf der Karte.
Nun mußte ich Mutter mein Geheimnis offenbaren. Zuerst wollte sie
nicht zulassen, daß ich dreimal in der Woche jeweils zwei Stunden
in der Stadt als Laufjunge und Bote Geld dazuverdiente. Ich
bettelte, bis sie einverstanden war.
Zum Vorstellungstermin in Hamburg kam Mutter mit. Außer mir
bewarben sich fünf weitere Jungen um den Job. Vier Mark pro Woche
sollte es dafür geben – das war damals viel Geld! Für eine
Mark konnte man zum Beispiel vier Pfund Rama-Margarine oder 20
Eier kaufen. Bei uns in Hamburg-Wilhelmsburg gab es bei Bäcker
Meier am Ernst-August-Kanal für 10 Pfennige eine Riesentüte voll
Kuchenrändern. Mein Fahrrad, ein "Dauerpedder", auf
Hochdeutsch: Dauerndtreter, hatte 28,50 RM gekostet. Ich war sehr
stolz darauf, denn ich hatte vom Frühjahr bis zum Herbst bei
Bauer Benthak geholfen und es mir von dem Lohn zusammengespart.
Ein Fahrrad mit Torpedo-Freilauf und Rücktrittbremse war viel zu
teuer.
Ich bekam die Botenstelle, vielleicht weil ich schüchterner als
die anderen Jungen war. Gleich am Montag sollte ich anfangen. Nach
Schulschluß um 14 Uhr lief ich rasch nach Hause, damit ich pünktlich
um 15 Uhr meine Stelle antreten konnte. Ich mußte meinen
Sonntagsanzug anziehen, damit ich anständig aussähe, verlangte
Mutter. Dann bin ich mit meinem Dauerpedder losgesaust. Von 15 bis
17 Uhr hatte ich Briefe und Prospekte auszutragen. Die Lauferei
war ja zuerst ungewohnt, weil ich mich in der Gegend um den
Hauptbahnhof nicht auskannte. Am zweiten Tag klappte alles schon
viel besser. Ich kam mit den Fahrstühlen und Paternostern gut
zurecht, das machte mir Spaß.
Als ich die ersten vier Mark nach Hause brachte, war die Freude
groß. Mutter fiel mir um den Hals und drückte mich. "Mien
groot‘n Jung’n", sagte sie. Dabei wischte sie sich mit dem
Schürzenzipfel über die Augen. Ich war stolz, daß ich Mutter
helfen konnte.
Es ging auf Weihnachten zu. Der Chef und seine Sekretärin hatten
Vertrauen zu mir, ich mußte auch Geld und Schecks zur Bank
bringen. Einen Tag vor Heiligabend bekam ich nicht vier, sondern
zehn Mark!
Mir kamen die Tränen vor Freude – so viel Geld! Die Sekretärin
merkte es und nahm mich in den Arm. "God Jul", sagte sie und
gab mir einen Kuß auf die Wange, was mich ganz durcheinander
brachte. Auf der Rückfahrt nach Hause hat mich kein Auto überholt,
so schnell fuhr ich, um Mutter das Geld auf den Tisch zu legen.
Mutter lobte mich und sagte: "Du lieber Gott, ich danke dir. Ist
die Not am größten, so ist der liebe Gott am nächsten."
Bei Bauer Rheders erstand ich einen Sack Grünkohl und half
Mutter, das Gemüse abzustrubbeln. Der Kohl war noch voll Schnee
und Eis und meine Finger wurden ganz klamm. Nach dem Putzen schütteten
wir den Kohl zum Säubern in den Waschkessel und anschließend in
Mutters größten Pott. Dann durfte ich mit Kienspan Feuer anzünden
und Holz nachlegen. Mutter warnte: "Paß’ schön auf, das
Feuer darf nicht ausgehen!"
Während sie bei Kaufmann Münch in Niedergeorgswerder – der
existiert heute noch! – einiges besorgen wollte, heizte ich
weiter ein und schwitzte nicht wenig dabei. Mein Bruder holte von
draußen Holz herein. Der dampfende Kohl hat mehr als gestunken!
Nach einer Dreiviertelstunde war Mutter wieder da. Mit rotem Kopf
und schwer bepackt mit zwei Körben kam sie den Deich herunter.
Ich lief ihr entgegen und nahm sie ihr ab. Dabei fragte ich sie: "Warum stinkt denn der Kohl beim Kochen so entsetzlich?"
"Weil er Frost gehabt hat, das muß so sein, sonst schmeckt er
nicht", erklärte sie mir.
Neugierig sahen wir zu, wie Mutter die Körbe auspackte. Dabei
lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mutter hatte eine große
Schweinebacke und geräucherten Speck eingekauft. "So Jungs, dat
kummt alln’s in Greunkohlpott! Hier hab’ ich noch ’n paar
Tannenbaumkringel, die könnt ihr mit Zwirnsfaden in den
Tannenbaum hängen", sagte sie. "Der Weihnachtsmann hat keine
Zeit, is’ nichts mit der Bescherung dieses Jahr. Nächstes Jahr
will er bestimmt kommen."
Wir Jungen waren damit zufrieden.
Am nächsten Tag war Heiligabend. Wir freuten uns schon auf die
Schweinebacke und den geräucherten Speck. Vormittags spielten wir
auf dem Deich, wo wir uns eine Rutschbahn – bei uns sagte man
Glitsche – angelegt hatten. Wir trugen Stiefel mit Holzsohlen,
Schuhe mit Ledersohlen waren nur sonntags erlaubt. Das Glitschen
machte richtig Spaß! Der Postbüdel (-bote) kam und stellte sein
Fahrrad oben am Deich ab. Als er zum Haus hinuntergehen wollte,
rutschten ihm schon beim dritten Schritt die Beine unterm Hintern
weg. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegend, schimpfte er: "Düsse
verdreihten Görn!"
Briefe und Päckchen lagen verstreut auf dem Deich, alles war aus
seiner Ledertasche herausgerutscht. Wir haben heimlich gelacht,
halfen ihm aber beim Aufsammeln der Postsachen. Schuld hatten wir
ja. Unsere Mutter hatte alles mit angesehen und wollte es auch
Vater sagen. Mein Bruder und ich hatten Angst. Aus der Strafe
wurde aber nichts – Mutter hatte es vergessen!
So verging der Nachmittag, es wurde schummerig und schnell dunkel.
Nach dem Waschen durften wir in die Küche – sie war voller Überraschungen!
Es gab Kartoffelsalat und Knackwürste. Ich sah dankbar zu Mutter
hin, die mich aber schon beobachtet hatte.
Der Weihnachtsmann ist zwar nicht gekommen, aber wir sind richtig
sattgeworden, wofür wir unserem Herrgott dankbar waren. Die
Lichter am Tannenbaum leuchteten in diesem Jahr besonders hell, so
schien mir. Mutter stimmte ein Lied an: "Oh Tannenbaum, wie grün
sind deine Blätter ..." Als wir das zweite Lied: "Oh, du fröhliche,
selige gnadenbringende Weihnachtszeit" sangen, mußte mein
Bruder laut aufstoßen, so vollgefressen war er!
Vater sagte "Mahlzeit!"
Mit dem Singen war es vorbei, wir mußten alle lachen. Es war eine
ärmliche Weihnachtsfeier ohne Bescherung, aber trotzdem schön!
Das damalige Weihnachtsessen habe ich übernommen bis auf den
heutigen Tag, nur Kaßler und Kochwürste kommen heute zusätzlich
an den Grünkohl.
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