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Leseprobe
aus dem Zeitgut Verlag
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Rudi
Brill
Fronthelfer der Hitler-Jugend
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Fürth-Bexbach
28. Januar 1945-
20. März 1945
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Ich
war 15 Jahre alt, als am 1. September 1944 mein Einsatz als
Fronthelfer in Fürth begann. Zu Hause war ich in Zweibrücken, 30
Kilometer entfernt. In den Monaten bis Kriegsende habe ich meine
Gedanken und Erlebnisse meinem Tagebuch anvertraut
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28.
Januar 1945
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Fürth:
Ich hatte mir vorgenommen, täglich einen Psalm zu lesen. Wenn ich
beim 150. angelangt bin, so hoffte ich, wäre der Krieg aus oder
wenigstens der Einsatz. Grinsen muß ich über mich selbst, daß ich
Leichtgläubiger dachte, nach spätestens drei Wochen sei der
Einsatz vorbei. Nun dauert er schon fast fünf Monate. Schule?
Existiert so was eigentlich noch?
Schulklingel, Klassenzimmer, Tafel, Landkarten, Hefte, Bücher,
Pauker, Turnen, Englisch, Latein, Mathematik‚ Religion, Angst vor
der Klassenarbeit, nichtgemachte und morgens fünf vor acht schnell
abgeschriebene Hausaufgaben, der "Rex", blauer Warnbrief
vor dem Sitzenbleiben, Schulärger mit den Eltern. Was war das
eigentlich alles?
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Gerade
nochmal
davongekommen.
Diese Aufnahme von
mir entstand kurz nach
Kriegsende. |
Jetzt ist das alles ausgetauscht durch: Einsatz, Trillerpfeife,
Tagesplan, Pickel, Schaufel, Axt und Beil, Itze, unser Ausbilder,
weltanschauliche Schulung, Singen von Liedern der Bewegung,
Essenfassen, Geschirrspülen, Sockenstopfen, Knopfannähen, Fingernägel-,
Schuh- und Unterkunftsappell, Waffenkunde, Marschieren, Exerzieren,
Geländekunde, Postempfang, Briefeschreiben, Nacktbrausebad, Wäscheabgabe
und Wäscheempfang, Aufenthaltsraum, Schulungsraum ... Das ist jetzt
unser Lebenskreis. War jemals was anderes?
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6.
Februar:
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An den
beiden kleinen Brücken an der Straße zum Bahnhof bauen wir
Talsperren, damit das Tal unter Wasser gesetzt werden kann als
Panzerhindernis. Wir kippen in den Wasserdurchlaß unter der Straße
Sandsäcke, Bohlen und Steine und lassen nur eine kleine Öffnung,
die leicht geschlossen werden kann. Bei all dem überlegen wir immer
wieder, wer das alles mal beseitigen muß, die Panzergräben,
Stellungen, Talsperren, Straßenhindernisse usw.
Den Eltern und Verwandten habe ich heute geschrieben, sie möchten
auf ihren Briefen und Karten keinen Absender mehr angeben. Wenn ich
eines Tages hier irgendwie verschwinde, soll niemand einen
Anhaltspunkt haben, wo ich zu finden bin.
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17.
Februar
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Paul
brachte einen kleinen Transport von Jungen zur Auffüllung unserer
Schar. Er erzählte von unserer zerstörten Stadt und bestätigte,
daß unser Haus völlig ausgebrannt sei und die Säulen zwischen den
Schaufenstern aussähen wie eine griechische Tempelruine. Auch die
Dienststelle mußte umziehen in die Lammstraße. Sie ist ständig
besetzt. Paul hat abwechselnd Tag- oder Nachtdienst. Trotzdem ist er
viel besser dran als ich, denn er kann in Ixheim bei seinen Eltern
wohnen; ich gönne es ihm. Er ist mir stets ein guter,
freundschaftlicher Schulkamerad gewesen. Ein Jahr älter als ich,
rechnet er damit, bald zum Reichsarbeitsdienst eingezogen zu werden.
Wann werden wir uns dann einmal wiedersehen? Herzlich
verabschiedeten wir uns voneinander: "Machs gut!"
Für die Neuankömmlinge sind wir nun schon alte Hasen. Unsere
Gefolgschaft ist, eben weil sie so klein ist, doch sehr aufZack. Mit
ltze vertrage ich mich seltsamerweise ganz gut. Vielleicht hat ihm
imponiert, daß ich mein Versprechen gehalten habe und aus dem
Weihnachtsurlaub zurückgekommen bin. Nur der Bannführer ist für
mich nach wie vor eine Schreckfigur. Zum Glück sehen wir ihn nicht
oft.
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22.
Februar
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Auf der
Höhe 393 zwischen Fürth und Lautenbach ziehen wir Laufgräben
zwischen den Bunkern. Auch 30 cm hohe Stolperhindernisse haben wir
beiderseits der Straße angelegt. Das sind in die Erde gerammte Pfähle,
über die einfacher Draht gespannt ist. Wir stellen uns plastisch
vor, wie die dummen Amerikaner heranstürmen, stolpern und damit
kampfunfähig werden. Hahahahaha!
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3. März
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Wie üblich
marschierten wir zu unserer Baustelle auf der Höhe 393 zwischen Fürth
und Lautenbach. Oben auf dem Berg stapften wir über ein weites Stück
freies Land. Plötzlich tauchten ein paar Jabos auf, hinter einem
Wald hervor und beschossen unten im Tal ein Auto. Da waren sie auch
schon über uns und hatten uns entdeckt.
"Volle Deckung!" schrie ltze. Doch hier gab es keine. Kein
Baum, kein Strauch, kein Graben, kein Loch in der Nähe. Wir warfen
uns platt auf den Boden.
Die vier Flugzeuge stießen tiefer und umkreisten uns. Wir wußten,
daß sie auf einzelne Leute, auf Zivilisten, ja sogar auf Frauen,
auf Bauern auf dem Felde schossen. Und wir lagen da wie auf dem Präsentierteller.
Kaum war ein Flieger weg, war schon der nächste da. Einer flog so
niedrig, daß wir das Gesicht des Piloten erkennen konnten, der
seitlich aus dem Kabinenfenster auf uns schaute. Bei jedem Anflug
glaubten wir, jetzt schießt er, und drückten uns an die kalte
Erde. 30 Jungen über wenige Quadratmeter kreuz und quer. Wenn das
kein lohnendes Ziel war!
Mit einem Mal ging eine der "Thunderbirds" noch tiefer und
stieß direkt auf uns zu. Es war wirklich ein
"Donnervogel", fürchterlich das Dröhnen des Motors. Wir
krallten uns noch fester an den Boden. Einer schrie, daß es das
Donnern übertönte: "Jetzt ist es aus!"
Wir glaubten das alle. Eine MG- oder Bordkanonengarbe, eine kleine
Bombe in unsere dichte Masse - da wäre keiner davongekommen. Mit 15
will man ja noch nicht sterben!
Ein Stoßgebet, verzweifelt, innig wie noch nie, ging mir durchs
Herz: "Lieber Gott, hilf uns!"
Eine unbeschreibliche, nie vorher gekannte Ruhe kam über mich. Ich
fühlte es fast körperlich: Gott hält jetzt seine Hand über uns.
Tausend Gedanken schossen mir in diesen Sekunden durch den Kopf.
Jetzt muß er schießen, jetzt, jetzt!
Doch der Bomber dröhnte über uns hinweg, war vorbei, hatte nicht
geschossen. Jaulend zog die Maschine hoch und auch die nächste flog
weiter. Halb betäubt vom Lärm staunten wir, daß wir noch lebten.
Wir hoben die Köpfe von der Erde. Noch ein paarmal umkreisten sie
uns, jetzt höher. Sie waren sich wohl nicht schlüssig. Was sie
sich wohl im Sprechfunk sagten?
Als die Flugzeuge für einen Augenblick die Kurve etwas größer
nahmen, taumelten wir, noch halb betäubt, hoch, rasten den Berg
hinunter, dem Laufgraben zu. Wir rannten, wie uns noch nie ein Führer
zum Laufen gebracht hatte, wir rannten um unser Leben, erreichten
den Graben und ließen uns hineinfallen, einer über den andern.
"Es zittern die morschen Knochen", haben wir oft gesungen.
Wir haben zwar keine morschen Knochen, aber unsere zitterten noch
lange. Unsere Gesichter strahlten, wir fielen uns um den Hals:
"Mensch, nochmal davongekommen, Menschenskind!"
Ein Dankgebet wie noch nie stieg aus meinem zerspringenwollenden
Herzen empor. Die Welt war neu für uns, das Leben begann noch
einmal. Da waren Bäume, Sträucher, Gras, Erde, Erde, die man
fassen und durch die Finger rieseln lassen konnte. Alles war wieder
da, wir waren noch da! Aus sicherer Deckung schauten wir zu, wie die
Jabos noch eine Weile kreisten. Warum sie nicht geschossen haben?
fragten wir uns.
"Die werden uns in unseren graugrünen Drillichen für
Kriegsgefangene gehalten haben", vermutete einer. Das klang
plausibel. Für mich aber war es klar: Einer, der die Macht dazu
hat, hatte die Hände des Piloten am Abzug der Bordwaffen
festgehalten, damit er nicht schießen konnte.
Als die Maschinen endgültig verschwunden waren, liefen wir langsam
und mit weichen Knien den Berg hinauf zu der Stelle, an der unser
Leben beinahe geendet hätte. Wir sammelten unsere verstreut
liegenden Werkzeuge ein und gingen an die Arbeit. Den ganzen Morgen
über war das Geschehene unser Gesprächsthema. Mit welchen Gefühlen
ich das jetzt, nach zwölf Stunden, schreibe, kann ich nicht ausdrücken.
Aber was ich gewiß tun werde, heute und alle Tage, die mein Leben
noch zählen wird, ist, dankbar sein für jeden neuen Tag und für
das noch einmal geschenkte Leben. (...)
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17. März
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Bexbach:
Paul ist tot! Tot!
Das Wort glotzt mich an in seiner ganzen unbegreiflichen
Sinnlosigkeit. Ich sitze im hintersten Kämmerchen des Pfarrhauses,
Tränen laufen über mein Gesicht. Ich wollte den 46. Psalm noch
einmal lesen, der am 14. März dran war, aber ich schloß das Neue
Testament wieder. Wäre doch alles nur ein böser Traum!
Ich möchte aus ihm erwachen, zu Hause in Zweibrücken im Bett. Die
Turmuhr müßte sieben schlagen. Ich könnte aufstehen, zur Schule
gehen, Paul treffen. Doch es hilft alles nichts - es ist kein Traum.
Paul ist tot! Dieser fröhliche, lebenslustige Freund ist tot!
(...)
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Mit freundlicher Genehmigung des
Zeitgut-Verlages
Bild: © Zeitgut-Archiv
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