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Zwei
Wochen vor dem Weihnachtfest 1952 befinde ich mich in einem
kleinen oberbayerischen Dorf mit dem lustigen Namen Huglfing, etwa
60 Kilometer südlich von München gelegen. Wir sind vier Haustöchter
in einem evangelischen Müttererholungsheim. Gemeinsam mit der
Hausmutter versorgen wir die Mütter und sind zuständig für
Haus, Garten und Waschküche, auch für Hund und Katz. Wir
verstehen uns sehr gut und wechseln uns bei allen Tätigkeiten ab.
"Huuuglfiing!" ruft der Bahnbeamte auf dem kleinen
Bahnhof in schönstem Bayerisch. Unsere erholungsbedürftigen Mütter
sind alle gut angekommen. Das Haus ist blitzblank geputzt, und wir
haben mit viel Vorfreude jede Menge Weihnachtsplätzchen gebacken.
Auch sieben große Christstollen liegen gut verpackt im Keller. Im
ganzen Haus riecht es herrlich weihnachtlich nach Pfefferkuchen,
Anisgebäck und nach Tannenzweigen, die wir vier Mädchen überall
im Haus verteilt haben.
Alle Mütter, die hier das Weihnachtsfest verbringen dürfen‚
sind nervlich und körperlich sehr mitgenommen. Sie haben jeweils
drei bis fünf Kinder, die in dieser Zeit bei Oma und Opa oder bei
anderen netten Menschen untergekommen sind. Wir geben uns alle Mühe,
diesen Frauen ein friedliches, warmes und frohes Weihnachtsfest zu
bereiten. Die schöne Dekoration mit Strohsternen‚ Glöckchen‚
Herzchen und Monden an den Tannenzweigen bringt uns in eine frohe
Weihnachtsstimmung. Wie es sich gehört, fängt es auch an zu
schneien, alles sieht so friedlich und weihnachtlich aus. Wir
singen die alten Krippenlieder: "Der Heiland ist geboren,
freu' dich du Christenheit" oder "Wärst du Kindlein im
Kaschuben Lande, wärst du doch bei uns geboren".
Es gibt jeden Tag ein sehr gutes Essen, denn die Mütter sollen
sich in jeder Hinsicht erholen. Wir machen Spiele und unternehmen
Spaziergänge im tiefen Schnee, auch eine zünftige
Schneeballschlacht darf nicht fehlen. Ausflüge in das schöne
oberbayerische Bergland führen uns nach Mittenwald oder
Garmisch-Partenkirchen‚ auch nach Oberstdorf.
Weihnachtsputz im Müttererholungsheim Huglfing in Oberbayern
1952.
Nun ist es Heiligabend. Ein Bergbauer bringt uns einen großen
Tannenbaum, der im Speisesaal auf einem Brett mit vier Beinen
aufgestellt wird. Wir schmücken ihn mit vielen Strohsternen,
glitzernden Kugeln‚ Lametta und Kerzen, auf die Spitze setzen
wir einen Rauschgoldengel. Auf dem Brett unter dem Weihnachtsbaum
errichten wir eine Miniatur-Landschaft mit dem Stall von
Bethlehem, der Krippe mit dem Jesuskind und Josef und Maria. Im
Herbst haben wir dafür Moos, Wurzeln und bunte Beeren gesammelt.
Als Beleuchtung stellen wir Teelichter in das feuchte Moos.
Dann werden die Kerzen angezündet, wir hören eine
Weihnachtsandacht und singen viele Weihnachtslieder. Danach gibt
es eine Bescherung, jede erhält ein kleines Geschenk und einen
bunten Teller. Wir genießen ein herrliches Weihnachtsmenü: eine
Hühnersuppe, Schweine- und Rinderbraten, dazu Kartoffelklöße,
Rotkohl und als Nachtisch Birne Helene. Dazu gibt es Punsch zu
trinken. Es ist wirklich ein sehr harmonischer, friedvoller
Heiliger Abend. Die Mütter gehen zu Bett‚ und wir vier räumen
ab. Die Kerzen am Christbaum werden gelöscht, die Teelichter an
der Krippe ebenfalls. Nun ziehen wir uns warm an, denn wir wollen
nach Huglfing in die Christmette.
Der Schnee liegt an den Straßenrändern über einen Meter hoch
und glitzert im Mondlicht. Als wir den Berg zur Kirche
hinaufkommen, ist dies ein ganz feierlicher Moment: Im Schnee
flackern viele Windlichter, und vom Kirchturm bläst ein Trompeter
"Vom Himmel hoch, da komm' ich her". Die Kirche ist sehr
gut besucht, wir müssen stehen. Kinder führen ein Krippenspiel
mit echten Tieren auf, ein Esel und ein Kalb stehen an einer
Holzkrippe mit Stroh, nur das Jesuskind ist eine Puppe.
Langsam und frohen Herzens kehren wir zum Mütterheim zurück.
Alles ist dunkel, die Mütter schlafen schon, und auch wir freuen
uns auf unser warmes Bett. Oh Schreck!
Als wir die Haustür aufsperren, kommen uns schwarze Rauchschwaden
entgegen. Schnell öffnen wir alle Türen und Fenster, damit der
Rauch abziehen kann. Dann suchen wir die Feuerquelle. Beim Anblick
der Krippe erschrecken wir: Alle Figuren sind schwarz verkohlt,
nur die Krippe selbst mit dem Jesuskind und Maria und Josef ist
unversehrt. Wir haben ein brennendes Teelicht übersehen, und nur
das feuchte Moos verhinderte, daß alles komplett verbrannte. Es
kommt uns an diesem Heiligen Abend wie ein Wunder vor, daß
niemand zu Schaden gekommen ist.
Brigitte Meyer-Rudat, hier eine der vier Haustöchter, irrt
zwei Jahre später, am Heiligabend 1954, durch Londons Nebel. Mehr
davon in der nächsten Geschichte.
Christmas time 1954
Zwei Jahre später. Zwölfmal schlägt es vom Big Ben - ja, ich
stehe mitten in London an der Themse. Ich bin 19 Jahre alt und
schon vier Monate hier. Es ist kurz vor Weihnachten. Die Tage sind
grau in grau, abends und nachts gibt es dicken Nebel. Oft ist er
gelblich und riecht sehr stark nach Schwefel. Ich bin deshalb
schon dreimal nicht in die Englisch-Abendschule gegangen. Es ist
wirklich unangenehm, plötzlich mit wildfremden Menschen
zusammenzustoßen, richtig gruselig. In den Krimis von Edgar
Wallace spielt dieser Nebel nicht umsonst immer eine große Rolle.
Jetzt ist es Mittagszeit und ich habe für meine Mutter und meine
Oma im fernen Deutschland in einem Antiquitätengeschäft ein
Weihnachtsgeschenk erstanden: zwei wunderschöne Kerzenständer,
mit Gravierungen reich verziert. Sie waren nicht ganz billig. Ob
sie aus echtem Messing bestehen, weiß ich nicht. Mit den
passenden Bienenwachskerzen werden sie jedenfalls feierlich
aussehen. -
Wie
gut geht es uns inzwischen. Ich muß an das erste Weihnachtsfest
nach dem Krieg denken. Wir waren als Flüchtlinge aus Pitzerwitz
in Pommern in Buckenhof bei Erlangen, Mittelfranken,
untergekommen: zwei Zimmer zu ebener Erde, mit alten Möbeln, drei
riesige ausgestopfte Vögel hingen an den Wänden und machten mir
angst. Es war kalt, wir hatten zwar einen eisernen Herd, aber
keine Kohlen und auch kein Holz, doch wir waren froh, daß wir
nicht in ein Flüchtlingslager zu ziehen brauchten. Unsere Wirtin
legte uns zum Fest ein paar Briketts vor die Tür und einen Mantel
für mich. Den hatte sie aus einer alten Jacke genäht, dazu eine
selbstgestrickte Mütze, einen Schal und Handschuhe. Das war meine
schönste Überraschung!
Für ein wenig Marmelade mußte ich eine Stunde in der Schlange
stehen. Zehn Jahre alt war ich damals, als die Amerikaner in
unsere Schule kamen und dafür sorgten, daß alle Flüchtlingskinder
Schulspeisung bekamen. Eine Woche vor Weihnachten landete auf dem
Dorfplatz in Uttenreuth, wo ich zur Schule ging, sogar ein
amerikanischer Hubschrauber. Ein Nikolaus in rotem Mantel mit weißem
Pelzbesatz stieg aus. Alle Flüchtlingskinder wurden in den großen
Saal der Dorfgaststätte eingeladen. Jedes Kind erhielt eine Tüte
mit Süßigkeiten, einen Becher Kakao und weiche weiße Brötchen.
Diesen herrlichen Geschmack und den freundlichen Klang der fremden
Sprache habe ich nie vergessen. Wie gut, daß ich als Kind immer
so aufmerksam zugehört habe.
1945 wohnten farbige Amerikaner in einem früheren Café in
unserer Nähe und riefen mir über den Zaun lachend "Hallo
Baby, how are you?" und anderes zu. Wenn ich dann auf
Englisch antwortete, bekam ich meistens eine Süßigkeit,
Kaugummi, Schokolade oder Bonbons. Einmal sprach ich mit den GI's
einen ganzen Satz in ihrer Sprache. Alle klatschten vor lauter
Freude darüber. Einer von ihnen hob mich über den Zaun. Sie
liefen mit mir hinter das große Haus, setzten sich um den
Gartentisch und grinsten mich an. Dann brachte mir Jonny in einem
silbernen Becher eine Riesenportion Eiskrem mit Schlagsahne und
Schokoladenstreusel. Noch nie hatte ich solch ein leckeres Eis
gegessen! Da fing ich an, mit großem Eifer Englisch zu lernen. -
Es
hat sich gelohnt, denn in der Foreigner School‚ die ich hier in
London abends besuche, komme ich sehr gut mit und mein Englisch hört
sich mittlerweile ganz gut an.
Die Londoner Geschäfte locken weihnachtlich geschmückt, jedoch
anders als in Deutschland. Alles ist künstlich, auch die
Tannenzweige, und alles scheint mir so grell. Es erinnert mich
mehr an Karneval. Weihnachtslieder werden auch gespielt: "Jinglebells,
jinglebells" oder "I'm dreaming of a white
Christmas". Ich kaufe mir einen unechten Tannenzweig und eine
dicke rote Kerze mit Goldschleifchen.
Ich arbeite in einem Hotel. Wir haben nur zwei Dauergäste, die
Dame des Hauses liegt im Krankenhaus, und das zweite deutsche Mädchen
hat Urlaub. Essen kann ich für uns drei Personen schon kochen, es
gibt genug Lebensmittel. Aber von Weihnachten ist nichts zu spüren.
Der Hausherr weint nur noch, weil er Angst um seine Frau hat.
Zwei Tage vor Weihnachten höre ich in der Royal Festival Halle
ein wunderbares Konzert, für das ich Karten erstanden habe. Die
Wiener Philharmoniker spielen die Neunte Symphonie von Beethoven.
Es herrscht eine einzigartige festliche Atmosphäre. Meine
Freundin steht unten in der Halle und winkt mir zu.
Zum ersten Mal in meinem Leben trage ich Pumps und einen wunderschönen
Seidenripsrock. Dem stimmungsvollen Rahmen angepaßt, will ich in
der Pause die breite Marmortreppe hinunterschreiten. Da gleite ich
mit den schönen glatten Pumps aus und - hopp-hopp-hopp - rutsche
ich auf meinem Allerwertesten die Treppe hinunter! Die
feingekleideten Konzertbesucher um mich herum sind erschrocken.
Zwei galante Herren helfen mir wieder auf die Beine. Wie gut, daß
die Sitze gepolstert sind. Trotz dieses Mißgeschicks bleibt das
Konzert ein unvergeßlicher Kunstgenuß.
Jetzt werde ich doch ein wenig traurig. Heute ist Heiligabend. Das
Päckchen von Mutti und Oma ist noch nicht eingetroffen, die Lady
liegt immer noch im Krankenhaus. Ich bin den Tränen nahe, als
mich gegen 17 Uhr eine Leiterin vom Deutschen Jugendkreis anruft
und fragt, ob ich den Heiligen Abend nicht doch mit meinen
Landsleuten zusammen feiern möchte. Natürlich will ich das. Nur
wie finde ich sie?
Per Telefon erhalte ich eine genaue Wegbeschreibung. Nachdem ich
alles versorgt habe, mache ich mich guten Mutes auf den Weg. Es
ist bereits nach 19 Uhr. Es regnet, die Straßenbeleuchtung brennt
nicht gerade sehr hell. Die Straßen‚ die Häuser, alles sieht
gleich und recht trübsinnig aus. Die wenigen Leute, denen ich
begegne, kommen mir etwas angetrunken vor. Die nach einer Straße
fragen?
Nein, ich muß dieses Haus doch finden! Also nochmals um den
U-Bahnhof herum, über den Platz, zur Kingsroad, dann rechts um
die Ecke, ein großes Backsteinhaus. Ich stehe davor: es ist zwar
die richtige Nummer - nur leider die falsche Straße! Ich bekomme
ganz weiche Knie, mir wird hungrig und mulmig. Ich nehme meinen
ganzen Mut zusammen und klingele an einer Haustür, einmal,
zweimal.
Die Tür wird geöffnet. Eine junge Frau nimmt mich bei der Hand
und zieht mich in das Wohnzimmer. Da sind keine Zweige, kein
Tannenbaum mit Kerzen. Nein, bunte Luftschlangen hängen quer
durch den Raum‚ in der Mitte ist eine Tanzfläche und ein wenig
angeheiterte Menschen drücken mir ein Glas in die Hand. "Very
fine cherry", rufen sie, "drink, please drink!"
Ich versuche nochmals nach der Straße zu fragen, es ist zwecklos.
Ich renne einfach hinaus. Jetzt haben sie es geschafft, ich heule
laut vor mich hin und versuche, mein jetziges Zuhause zu finden.
Dort angekommen, ist es bereits 22 Uhr. Ich unternehme einen
letzten Versuch, den Abend zu retten, und es gelingt mir tatsächlich,
meine Bekannte telefonisch zu erreichen. Ja, sie warten immer noch
auf mich. Sie nennt mir eine Buchhandlung am Trafalgar Square, wo
sie mich gleich abholen wird. Erneut mache ich mich auf den Weg -
und finde diese Buchhandlung!
In einigen Minuten sind wir am richtigen Haus. Es ist einfach
wunderbar: Als die Tür aufgeht, steht dort ein kleiner Tannenbaum
mit brennenden Kerzen, geschmückt mit Strohsternen und Lametta.
Vor Freude wird mir ganz warm ums Herz. - Ja, Christ ist geboren,
freut euch alle Christenheit.
Am ersten Weihnachtstag treffen sich hier morgens ab neun Uhr
viele Menschen aus verschiedenen Ländern, die gemeinsam
Weihnachtslieder singen und plaudern wollen. Auch meine deutschen
Freunde sind da. Es ist ein wunderbares Erlebnis.
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