Meine kleine Puppenwelt - Bücher aus dem Zeitgut-Verlag

 

 

 

 

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Bücher aus dem Zeitgut Verlag

Ein Hesse setzt sich durch

Waldemar Müller 

Ein Hesse setzt sich durch

Mein Leben für die Landwirtschaft 1927 - 2002. Aus der Reihe 'Sammlung der Zeitzeugen'. 
Mit Fotos.


Zeitgut Verlag GmbH
Juni 2005 
kartoniert
150 Seiten
3933336562

 

 

€ 12,90 kaufen


Kurzbeschreibung

Spannend und selbstironisch erzählt Waldemar Müller sein Leben für die Landwirtschaft, das Leben eines Hessen, der sich nicht unterkriegen läßt. Dem Leser eröffnen sich aufschlußreiche Einblicke in eine vom Landleben geprägte Kindheit und Jugend während des Dritten Reiches. Doch auch Müllers Erinnerungen an die hessische Landwirtschaft der Nachkriegszeit fördern so manche interessanten Begebenheiten zutage.

Autor

Waldemar Müller geboren 1927 in Heinebach, Kreis Melsungen. Nach Abschluß der Volksschule zwölf Monate als Landjahrpflichtiger im Saarland, danach berufliche Weiterbildung im Landdienst der Hitlerjugend. Nach Ablegung der Prüfung zum Landwirtschaftlichen Gehilfen 1944 Wehrdienst bei der Waffen-SS; Einsätze an der Ostfront; amerikanische und belgische Gefangenschaft, Heimkehr 1946. Weiterbildung zum Geflügelzüchter und zum Agraringenieur. Ab 1952 beim Kreisbauernverband Melsungen, 1954 Wechsel zum Verband Fritzlar, Übernahme der Geschäftsführung und Aufbau eines Dienstleistungszentrums für Mitglieder; ehrenamtliche Tätigkeit beim Bund der Hessischen und Deutschen Landjugend; Ernennung zum vereidigten Landwirtschaftlichen Sachverständigen. Seit 1988 im Ruhestand.

Waldemar Müller ist verheiratet, hat zwei Söhne und vier Enkelkinder. Er lebt in Fritzlar.

 

Leseprobe

Vorwort

Dieses Buch soll weder eine spektakuläre Lebensbeschreibung noch ein spannender Roman sein. Ich habe die Erlebnisse niedergeschrieben, um mich noch einmal an die Zeit zu erinnern, in die ich hineingeboren wurde und die zunächst voller Erwartungen, Hoffnungen und Abenteuer schien. Doch die damaligen Ziele erwiesen sich als riesige Enttäuschung, als ein Irrtum voller Schrecken. Vielleicht habe ich auch erst jetzt den Mut gefunden, wieder in die Vergangenheit einzutauchen. Je mehr ich mich deshalb zurückversetzte, um so deutlicher traten die Bilder hervor. Mir wurde klar, wieviel Schreckliches und Unmenschliches ich als junger Mensch verkraften mußte. Zeitweise war – wie für viele Millionen andere Menschen auch – jeder Tag ein Kampf ums Überleben.

Ich will meinen Nachkommen einen ungeschminkten Eindruck von der Zeit vermitteln, die wir durchleben mußten. Sie sollen es nicht nur durch ihre Lehrer vermittelt bekommen, die es wiederum auch nur durch ihre Lehrer und durch Lektüre erfahren haben – wenngleich ich deren Bemühen, der Wahrheit nahezukommen, nicht in Abrede stellen möchte.
Selbst auf die Gefahr hin, hier und da auf Ablehnung zu stoßen, habe ich das Geschehen geschildert, wie ich es erlebt und in Erinnerung habe.

Fritzlar, im Juli 2004


Väterliche Strenge

(...) In einer der Schubladen dieses Schränkchens bewahrte unsere Mutter ihr »Klimpergeld« auf. Daraus hatte ich einmal zwei Pfennig genommen und mir davon Himbeerbonbons gekauft. Nachdem ich sie gerade genüßlich gelutscht hatte, verlangte meine Mutter gebieterisch, ihr die Zunge herauszustrecken. Sofort stellte sie fest, daß sowohl die Farbe als auch der Geruch von Bonbons stammten. Als sie daraufhin fragte, woher ich dieselben hätte, versuchte ich es zunächst mit einer Notlüge und behauptete, Frau Wiegand, die ein Lebensmittelgeschäft besaß, hätte sie mir geschenkt. Davon kam ich jedoch schnell wieder ab, da meine Mutter sofort meine älteste Schwester Lilli aufforderte, mit dem Rad zu Wiegands Geschäft zu fahren und meine Aussage zu überprüfen. So kam der Tatbestand ans Licht. Mit der abschließenden Bemerkung meiner Mutter – »das sage ich dem Vater, wenn er heute abend nach Hause kommt« – war mein Schicksal für diesen Tag besiegelt. Meine Mutter hätte die Sache sofort mit dem Kochlöffel erledigen können, wie sie das bei kleineren Vergehen zu tun pflegte, aber bei diesem »Verbrechen« war sie dazu nicht bereit.

Es folgte der längste Nachmittag meines Lebens. Mal wünschte ich mir, der Abend käme nie, dann wieder sehnte ich ihn herbei, damit die Sache überstanden war. Schließlich ertönte der markante Pfiff meines Vaters, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Nach der Tracht Prügel mußte ich ohne Abendbrot sofort ins Bett, aber das machte mir nach der vorangegangenen Tortur fast nichts mehr aus.

Jener Pfiff unseres Vaters war immer das unbedingte Signal für uns Kinder, sofort nach Hause zu kommen. Befanden wir uns an hellen, lauen Sommerabenden auf unseren Lieblingsspielplätzen, dem Zimmerplatz oder dem Sägewerk Viereck direkt gegenüber unserem Haus – zwischen den gestapelten Brettern, vor allem im Sägespänschuppen ließ sich herrlich Versteck spielen –, und waren wir nach dem Pfiff nicht innerhalb von zwei Minuten zu Hause, mußten wir Prügel befürchten. Meistens riefen wir deshalb schon von weitem: »Wir kommen, wir kommen!« (...)

Mein Vater Hermann Müller auf dem Kutschbock des Wassertankwagens. Da es auf dem Farmgelände kein Leitungssystem gab, mußte das Wasser per Wagen zu den einzelnen Tränken befördert werden.


Das Leben auf dem Hof

Jeder von uns hatte eine wöchentlich wechselnde Aufgabe. Wir schafften Holz und Kohlen in die Küche, morgens brachten wir die Asche nach draußen und machten den Herd sauber. Jeden Abend holte jemand Milch bei einem Landwirt im Dorf, samstags wurden die Kellertreppe und die Treppe zur Haustür gewischt, außerdem die Schuhe geputzt und der Hof gekehrt. Manchmal schickte uns unsere Mutter mit Einkaufskörben auf die Wiesen am Strebelsberg, um Nüßchen, also Feldsalat, zu stechen. Auf den kalkmergelhaltigen Böden wuchs dieses »Unkraut« sehr gut, so daß wir zu viert meistens bald eine gute Mahlzeit für die Großfamilie gesammelt hatten. Eine relativ leichte Aufgabe war es auch, Meerrettich auf den feuchten Stellen im Hühnergarten auszugraben. Zum Heidelbeeren- oder Hagebuttenpflücken geschickt zu werden, fiel uns Jungen schon schwerer. Die anschließende Arbeit für die Frauen, wenn die Hagebutten aufgeschnitten und ausgekratzt wurden, war mit noch mehr Mühe verbunden, besonders wegen der vielen juckenden Härchen an diesen Früchten! Allerdings war die so entstehende Hagebuttenmarmelade der leckerste Brotaufstrich, den wir kannten.


Mit dem Ausbau der Geflügelfarm wuchs auch die Familie. Die ersten vier Kinder der Familie Müller posieren im Hühnerauslauf der väterlichen Geflügelfarm: Wolf, Rex, »Waldi« und Lilli (von links nach rechts).

Je nach Jahreszeit hatten die Frauen und Mädchen alle Hände voll zu tun, um die Versorgung zu regeln, manchmal sogar über mehrere Tage hinweg. Da war beispielsweise die Bohnenverwertung. Körbeweise wurde das zarte, grüne Erntegut gewaschen, man schnitt beide Enden der Bohne ab und zog die Fäden ab. Danach wurden alle Bohnen per Hand – später mit einem kleinen Maschinchen – in schräge, gleichmäßig dicke Scheiben geschnitten, anschließend mit Salz vermischt und in große Steinguttöpfe so fest eingedrückt, daß immer eine dünne Salzlake darüberstand. Später legte man Bretter und Steine obenauf, das Ganze wurde ständig überprüft und saubergehalten. Ein ganz ähnliches Verfahren wurde bei der Sauerkrautzubereitung mit Weißkohl angewandt.

Später im Jahr waren die Zwetschgen an der Reihe: Sie wurden zentnerweise gewaschen, aufgeschnitten, entsteint und in einem großen Kupferkessel mit Zucker vermischt und stundenlang zu Mus gekocht. Wenn viel Obst geerntet worden war, wurde alles – Zwetschgen, Äpfel oder Birnen – nach der Säuberung in Scheiben, Ringe oder Stückchen geschnitten und zu Back- oder Dörrobst verarbeitet.

All das bot auch der Kaufmann an. Vor seinem Tresen standen Fässer mit Bohnen, Sauerkraut, eingelegten Heringen, sauren Gurken. Doch das Selbstgemachte war nicht nur preiswerter, sondern wir konnten auch darüber verfügen, wann immer uns der Sinn nach dem speziellen Gericht stand.

Im Herbst halfen die größeren Geschwister bei der Kartoffellese: Die Familie brach morgens zu Verwandten oder zu dem Landwirt auf, bei dem die Einkellerungskartoffeln, immerhin etwa acht bis zehn Zentner pro Kampagne, bezogen wurden. Wir Jüngeren durften mitkommen, brauchten jedoch nicht mitzuhelfen. Es herrschte eine schöne Stimmung, wenn sich frühmorgens der Nebel lichtete und die umgebrochene Erde unter der aufgehenden Sonne dampfte. Diejenigen, die bei der Lese mitarbeiteten, klagten in den ersten Stunden allerdings über klamme Finger.

Bei unseren Spielen in Wald, Feld und Flur begleiteten uns unsere Hunde. Hier »umarmt« mich unsere Dogge Cäsar.

Einmal stromerte ich hinter der gebückten Kolonne herum, suchte nach Mäusenestern oder beobachtete die Pferde, die jedesmal vorbeikamen, wenn eine neue Reihe umgebrochen wurde. Da entdeckte ich eine der aus meiner damaligen Perspektive älteren Frauen, deren schwarze Wollstrümpfe oberhalb der Knie endeten und von Weckringen gehalten wurden. Ich war neugierig, was sich oberhalb der Weckringe verbergen könnte, pirschte mich heran und schaute nach oben. Fast hätte ich einen lauten Schreckensruf ausgestoßen. Ich taumelte zurück und mußte mich erst einmal auf einem Kartoffelsack ausruhen. Was ich gesehen hatte, war zu entsetzlich; es sah aus wie eine lange, blutrote, offene Wunde. Mußte die Frau nicht sofort ins Krankenhaus gebracht werden, um die Wunde nähen zu lassen? Würde nicht eine entstellende Narbe entstehen?

Zum Glück gab es bald Kaffee und frischen, warmen Zwetschgenkuchen. Für mich war dies immer der Höhepunkt der Kartoffellese, und so hatte ich meinen Schreck schnell vergessen. Ich war froh, ältere Brüder zu haben, die mir verschiedene Ungereimtheiten erklären konnten.


Unser Haus auf dem Gelände der Geflügelfarm, im nordhessischen Heinebach, Nürnberger Landstraße 79.


Lagerführer in Groß-Gurek und Deutsch-Rogau

(...) Beim Reichslanddienst-Lehrhof in Deutsch-Rogau handelte es sich um einen 1200 Hektar großen Gutsbetrieb, der zum HJ-Gebiet Köln-Aachen gehörte. Etwa ein Drittel der Teilnehmer stammte jedoch aus dem Gebiet Westkurhessen. Alle Lagerangehörigen aus dem Gebiet Köln-Aachen stammten aus der Umgebung von Düren, Erkelenz und Hückelhoven. Die Arbeitskräfte des Betriebs waren zumeist polnische Gespannführer und Tagelöhner. Wir waren insgesamt zwanzig Mädchen und zwanzig Jungen und wurden, getrennt nach Geschlechtern, in zwei Baracken untergebracht. Unser Lagerführer war Berufsjugendführer, der Verwalter ein verwundeter Wehrmachtsunteroffizier; auch er hatte einen Arm verloren. Bei feierlichen Anlässen trug er mit Stolz das Eiserne Kreuz Erster Klasse auf seinem Abendanzug.

In unserem Betrieb war hauptsächlich landwirtschaftliche Arbeit zu verrichten; wir halfen bei Aussaat und Ernte. Wenn der polnische Vormann mit seiner übergroßen Sense bei der Getreideernte die Reihe der Mäher anführte, hatten wir als ungelernte Schnitter und die Mädchen beim Aufnehmen der Garben keine Chance, Schritt zu halten. Später war es ein beeindruckender Anblick, wenn auf der einen Seite des großen Schlages etwa zwanzig Pferdegespanne mit Schälpflügen, auf der anderen Seite die gleiche Anzahl Ochsengespanne hintereinander Furche um Furche zogen.

Eine zusätzliche Aufgabe bestand in diesem Jahr darin, eine Hauptdränageleitung durch den schweren Tonboden zu verlegen. Der Graben, den wir zu diesem Zweck aushoben, war stellenweise über einen Meter tief.

Manchmal versuchten wir bei dieser Arbeit, unbemerkt eine zusätzliche Verschnaufpause einzulegen. Dann stellten wir einen Posten auf, der uns warnen sollte, wenn der Lagerführer angeritten kam. Leider ertappte er uns manchmal, weil er, unsere Taktik ahnend, einen Bogen geritten war und sich von der entgegengesetzten Seite näherte. An solchen Tagen mußten wir eine Stunde länger graben. (...)

Pause während eines langen Arbeitstages auf dem Reichslanddienst-Lehrhof. Der vierte von links bin ich, froh, die Beine ausstrecken zu können.


Einsame Flucht

Mit den Kameraden Heinz Bunnenberg, Mitte, und Dieter Müller, rechts, beim Scharfschützenlehrgang.

(...) Der hohe Elbdamm war auf einer Länge von Hunderten von Metern schwarz vor lauter Menschen. Es waren Soldaten aus allen nur denkbaren Einheiten, aber auch Wehrmachthelferinnen, Flüchtlingsfamilien, »Blitzmädel« und Rote-Kreuz-Schwestern – alle hatten vor den nachfolgenden russischen Soldaten bei den Amerikanern Schutz gesucht.

Ich ging zum Ufer der Elbe und mischte mich unter die Menge. Aus dem allgemeinen Gemurmel konnte ich heraushören, daß befürchtet wurde, die Amerikaner könnten uns den Russen überlassen, sobald diese hier auftauchten.

Dann sah ich ein kleines Boot, das am jenseitigen Elbufer ablegte, zu uns herüberkam, einige wenige Leute aufnahm und wieder gemächlich zurücktuckerte. Wenn das die Evakuierung sein sollte, würde sie Monate dauern.

Auf einmal wurde es ganz still, alle hatten das unverkennbare Brummen und Kettengerassel von Panzern gehört. Sie näherten sich schnell. Schon sah ich von meinem Standpunkt am Ufer aus die Rohre der Kanonen, die oben über den Damm herausragten. Dann tauchten russische Soldaten zu Fuß und berittene Offiziere auf. Noch immer war es totenstill.

Vom gegenseitigen Ufer näherte sich wieder das Boot der Amerikaner. Am Damm lösten sich einige russische Offiziere aus ihrer Gruppe und schritten auf die Anlegestelle des Bootes zu. Sie stiegen ein und fuhren davon.

Die Spannung unter der wartenden Menschenmenge war bis ins Unerträgliche gestiegen und entlud sich in lauten Ausrufen einzelner Personen. Uns werde nichts geschehen, und da wir uns den Amerikanern ergeben hätten, könnten uns diese nicht an die Russen ausliefern, wurde gemutmaßt. Hier und da war vereinzeltes Aufschluchzen zu hören. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die russische Abordnung an diesem Spätnachmittag des 7. Mai 1945 zurückkehrte.

Wieder wurde es totenstill, alle schienen den Atem anzuhalten. Mir schwante nichts Gutes. Ich hatte mich wenige Schritte vom Ufer entfernt in der Menge auf den Boden gesetzt und begonnen, meine Schuhe aufzuschnüren. Die Russen kamen ans Ufer und schritten so gemächlich die Böschung hinauf, wie sie zuvor heruntergekommen waren. Dann riefen sie ihre Leute zu einer Besprechung zusammen. Noch immer herrschte Stille, man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Dann ging alles sehr schnell. Die Motoren der Panzer brüllten auf, und die schweren Fahrzeuge begannen, sich auf der Krone des Dammes zu drehen. Gleichzeitig bewegten sich die Offiziere und Fußsoldaten in Richtung Ufer und bahnten sich dabei rücksichtslos einen Weg durch die Menge. Sie befahlen uns durch Gesten und Zurufe unmißverständlich, uns zur Dammkrone zu bewegen. Es ertönte ein Schrei der Enttäuschung, der Wut, der Angst und Verzweiflung, der jedoch schnell durch Rufe und Kolbenstöße der russischen Soldaten erstickt wurde. Also war es doch geschehen: Die Amerikaner hatten all diese gutgläubigen Menschen ohne Vorwarnung den Russen ausgeliefert. Tausende erwartete nun ein gnadenloses Schicksal: Vertreibung, Gefangenschaft, ja Folter und Tod.

Noch ehe die brüllenden russischen Soldaten das Ufer erreichten, hatte ich meine Schuhe und auch meinen Uniformrock abgestreift, einige Sprünge bis zum Ufer getan und war mit einem Kopfsprung ins Wasser gesprungen. (...)

Familie Müller, glücklich und vollzählig wiedervereint nach dem Krieg. Das Foto entstand 1948. In der hinteren Reihe stehen meine Eltern, vor ihnen ich, Lilli, Rex, Gisela und Wolfgang sowie die jüngsten Geschwister Hans Dieter und Gudrun.


Beim Melsunger Kreisbauernverband

Sechs Wochen nach unserer Hochzeit rief mich der damalige Vorsitzende der Landjugend Melsungen, Heinrich Kilian, an und fragte, ob ich Lust hätte, am darauffolgenden Sonntag mit ihm zum Motorradrennen »Rund um den Herkules« nach Kassel zu fahren. Wir verabredeten, daß er mich am Bahnhof von Melsungen mit seiner 98er-Fox abholen würde. Dabei handelte es sich um ein ausgeprochen leichtes Gefährt.

Hier posiere ich auf meiner 350er Horex Regina, die für mich zum unerläßlichen Verkehrsmittel wurde.

Wir hatten auf der Teilumgehungsstrecke von Melsungen etwa 600 Meter zurückgelegt und näherten uns der Kreuzung Fritzlarer Straße, als plötzlich ein Pkw unsere Vorfahrtstraße überquerte. Der Zusammenstoß war unvermeidlich. Ich sah das Unglück kommen und klammerte mich mit aller Kraft an den Griff meines leichten Soziussitzes.

Der Aufprall war fürchterlich. Ich flog, bereits ohne Besinnung, mitsamt dem Sitz – wie weiland Baron Münchhausen – in hohem Bogen über das fremde Auto. Mit dem Kopf zuerst landete ich auf der mit Splitt ausgestreuten Straße.

Unweit der Kreuzung lag die Metzgerei Roß, in deren Tür die Inhaberin und eine Kundin standen und den Unfall beobachteten. Die Kundin murmelte spontan: »Der ist tot!» Dieser Satz schlich zunächst als Gerücht durch die Straßen Melsungens und über die Telefonleitungen später auch nach Heinebach und Eubach.

Ich kam wieder zu mir, als Dr. Lübke – der gleiche Chefarzt, der mir 1937 das Bein amputieren wollte – die letzten Stiche an meiner Stirnplatzwunde setzte. (...)

Eine Herausforderung für die Geschäftsstelle des Melsunger Kreisbauernverbandes waren die Vorbereitungen zur Kreistagswahl. Groß in Mode waren zu dieser Zeit die äußerst effektiven Gemeinschaftslisten. Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Handel – eigentlich der gesamte Mittelstand – hatten sich mit den Arbeitnehmern zusammengeschlossen und eine Einheitsliste aufgestellt. Unsere Geschäftsstelle war federführend bei der organisatorischen Durchführung der Wahlen. Mit dem Fabrikanten Otto Braun aus Melsungen, dem Bauernführer Konrad Jacob aus Körle, dem Bürgermeister Otto Bonn aus Guxhagen und Professor Hoffmann aus Felsberg als Spitzenkandidaten hatte unsere Liste auf Anhieb durchschlagenden Erfolg. Wir erhielten die Mehrheit und konnten den Landrat bestimmen. Da uns auf Kreisebene solcher Erfolg beschieden war, verfolgten wir auf Gemeindeebene in Heinebach dieselbe Strategie und waren ebenfalls erfolgreich, so daß wir unseren Altbürgermeister Heckmann wieder in sein vor 1945 innegehabtes Amt einsetzen konnten. Die Gemeinschaftslisten erwiesen sich jedoch bald als Auslaufmodelle, denn die potentiellen Kandidaten wechselten in die bürgerlichen Parteien und standen auf deren Listen.

Mit Schlips und Kragen an der Schreibmaschine: So sah mein anfänglicher Berufsalltag beim Kreisbauernverband Melsungen im Jahre 1952 aus.

Die Landjugendarbeit lief auf Hochtouren. Es existierten bald sieben Ortsgruppen, und ich war deshalb an mindestens vier Abenden pro Woche mit meiner Horex unterwegs. War es Zufall oder Glück? Gerade zu dem Zeitpunkt, als ich an einen Ortswechsel dachte, vollzog sich eine entsprechende Veränderung in den Geschäftsstellen in Homberg und Fritzlar. Mein langjähriger Freund Krüger, der bis dahin der zweite Mann in Fritzlar gewesen war, übernahm die Geschäftsführung des Verbandes in Homberg, woraufhin ich am 1. Oktober 1954 seine Stelle in Fritzlar einnahm. Im Verhältnis zur Mitgliederzahl und der angeschlossenen Fläche existierte hier schon damals der aktivste Verband in ganz Hessen.

Genau an unserem Hochzeitsdatum, dem 19. Juli, wurde 1954 in Melsungen unser erster Sohn Jürgen geboren. Ein Jahr lang pendelte ich täglich zwischen Melsungen und Fritzlar, bis die ganze Familie nach Fritzlar umzog. Am 14. September 1955, kurz vor unserem Umzug, kam unser Sohn Volker zur Welt.


Inhalt »Ein Hesse setzt sich durch«

 

 

Inhalt
Vorwort 7

Kindheit1927–1941
Ein Sonntagskind 8
Die Familie 8
Schulzeit 13
Väterliche Strenge 15
Das Leben auf dem Hof 22
Freizeitvergnügungen 27
Ein schwerer Unfall 35
Jungenstreiche 43
Den Kinderschuhen entwachsen 47

Jugend1941–1946
Das Landjahr 49
Stellvertretender Lagerführer in Altenburschla 54
Lagerführer in Groß-Gurek und Deutsch-Rogau 57
Als Freiwilliger zur Waffen-SS 64
Pionierausbildung in Dresden 67
Ausbildung zum Standartenjunker 75
An die Front 78
Geordneter Rückzug 80
Erste Zärtlichkeiten 86
Kanonenfutter 89
Einsame Flucht 100
In Gefangenschaft 109
Heimkehr 116
Nachspiel 117

Neuanfang1946–1952
Wiederaufbau des väterlichen Betriebs 120
Hundezucht 126
Verliebt 127
In der Landbauschule 129

Im Dienst für die Landwirtschaft1952–2002
Beim Melsunger Kreisbauernverband 132
Fritzlar 135
Leidgeprüft und dennoch lebensfroh 148

 

Mit freundlicher Genehmigung des Zeitgut-Verlages
Bilder: © Zeitgut-Archiv

 

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