Kurzbeschreibung
Spannend
und selbstironisch erzählt Waldemar Müller sein Leben für die
Landwirtschaft, das Leben eines Hessen, der sich nicht unterkriegen läßt.
Dem Leser eröffnen sich aufschlußreiche Einblicke in eine vom
Landleben geprägte Kindheit und Jugend während des Dritten Reiches.
Doch auch Müllers Erinnerungen an die hessische Landwirtschaft der
Nachkriegszeit fördern so manche interessanten Begebenheiten zutage.
Autor
Waldemar
Müller geboren 1927 in Heinebach, Kreis Melsungen. Nach Abschluß der
Volksschule zwölf Monate als Landjahrpflichtiger im Saarland, danach
berufliche Weiterbildung im Landdienst der Hitlerjugend. Nach Ablegung
der Prüfung zum Landwirtschaftlichen Gehilfen 1944 Wehrdienst bei der
Waffen-SS; Einsätze an der Ostfront; amerikanische und belgische
Gefangenschaft, Heimkehr 1946. Weiterbildung zum Geflügelzüchter und
zum Agraringenieur. Ab 1952 beim Kreisbauernverband Melsungen, 1954
Wechsel zum Verband Fritzlar, Übernahme der Geschäftsführung und
Aufbau eines Dienstleistungszentrums für Mitglieder; ehrenamtliche Tätigkeit
beim Bund der Hessischen und Deutschen Landjugend; Ernennung zum
vereidigten Landwirtschaftlichen Sachverständigen. Seit 1988 im
Ruhestand.
Waldemar Müller ist verheiratet, hat zwei Söhne und vier
Enkelkinder. Er lebt in Fritzlar.
Leseprobe
Vorwort
Dieses
Buch soll weder eine spektakuläre Lebensbeschreibung noch ein
spannender Roman sein. Ich habe die Erlebnisse niedergeschrieben, um
mich noch einmal an die Zeit zu erinnern, in die ich hineingeboren
wurde und die zunächst voller Erwartungen, Hoffnungen und Abenteuer
schien. Doch die damaligen Ziele erwiesen sich als riesige Enttäuschung,
als ein Irrtum voller Schrecken. Vielleicht habe ich auch erst jetzt
den Mut gefunden, wieder in die Vergangenheit einzutauchen. Je mehr
ich mich deshalb zurückversetzte, um so deutlicher traten die Bilder
hervor. Mir wurde klar, wieviel Schreckliches und Unmenschliches ich
als junger Mensch verkraften mußte. Zeitweise war – wie für viele
Millionen andere Menschen auch – jeder Tag ein Kampf ums Überleben.
Ich
will meinen Nachkommen einen ungeschminkten Eindruck von der Zeit
vermitteln, die wir durchleben mußten. Sie sollen es nicht nur durch
ihre Lehrer vermittelt bekommen, die es wiederum auch nur durch ihre
Lehrer und durch Lektüre erfahren haben – wenngleich ich deren Bemühen,
der Wahrheit nahezukommen, nicht in Abrede stellen möchte.
Selbst auf die Gefahr hin, hier und da auf Ablehnung zu stoßen, habe
ich das Geschehen geschildert, wie ich es erlebt und in Erinnerung
habe.
Fritzlar,
im Juli 2004
Väterliche
Strenge
(...) In einer der Schubladen dieses Schränkchens bewahrte unsere
Mutter ihr »Klimpergeld« auf. Daraus hatte ich einmal zwei Pfennig
genommen und mir davon Himbeerbonbons gekauft. Nachdem ich sie gerade
genüßlich gelutscht hatte, verlangte meine Mutter gebieterisch, ihr
die Zunge herauszustrecken. Sofort stellte sie fest, daß sowohl die
Farbe als auch der Geruch von Bonbons stammten. Als sie daraufhin
fragte, woher ich dieselben hätte, versuchte ich es zunächst mit
einer Notlüge und behauptete, Frau Wiegand, die ein Lebensmittelgeschäft
besaß, hätte sie mir geschenkt. Davon kam ich jedoch schnell wieder
ab, da meine Mutter sofort meine älteste Schwester Lilli aufforderte,
mit dem Rad zu Wiegands Geschäft zu fahren und meine Aussage zu überprüfen.
So kam der Tatbestand ans Licht. Mit der abschließenden Bemerkung
meiner Mutter – »das sage ich dem Vater, wenn er heute abend nach
Hause kommt« – war mein Schicksal für diesen Tag besiegelt. Meine
Mutter hätte die Sache sofort mit dem Kochlöffel erledigen können,
wie sie das bei kleineren Vergehen zu tun pflegte, aber bei diesem »Verbrechen«
war sie dazu nicht bereit.
Es folgte der längste Nachmittag meines Lebens. Mal wünschte ich
mir, der Abend käme nie, dann wieder sehnte ich ihn herbei, damit die
Sache überstanden war. Schließlich ertönte der markante Pfiff
meines Vaters, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Nach der Tracht Prügel
mußte ich ohne Abendbrot sofort ins Bett, aber das machte mir nach
der vorangegangenen Tortur fast nichts mehr aus.
Jener Pfiff unseres Vaters war immer das unbedingte Signal für uns
Kinder, sofort nach Hause zu kommen. Befanden wir uns an hellen, lauen
Sommerabenden auf unseren Lieblingsspielplätzen, dem Zimmerplatz oder
dem Sägewerk Viereck direkt gegenüber unserem Haus – zwischen den
gestapelten Brettern, vor allem im Sägespänschuppen ließ sich
herrlich Versteck spielen –, und waren wir nach dem Pfiff nicht
innerhalb von zwei Minuten zu Hause, mußten wir Prügel befürchten.
Meistens riefen wir deshalb schon von weitem: »Wir kommen, wir
kommen!« (...)
Mein
Vater Hermann Müller auf dem Kutschbock des Wassertankwagens. Da es
auf dem Farmgelände kein Leitungssystem gab, mußte das Wasser per
Wagen zu den einzelnen Tränken befördert werden.
Das
Leben auf dem Hof
Jeder von uns hatte eine wöchentlich wechselnde Aufgabe. Wir
schafften Holz und Kohlen in die Küche, morgens brachten wir die
Asche nach draußen und machten den Herd sauber. Jeden Abend holte
jemand Milch bei einem Landwirt im Dorf, samstags wurden die
Kellertreppe und die Treppe zur Haustür gewischt, außerdem die
Schuhe geputzt und der Hof gekehrt. Manchmal schickte uns unsere
Mutter mit Einkaufskörben auf die Wiesen am Strebelsberg, um Nüßchen,
also Feldsalat, zu stechen. Auf den kalkmergelhaltigen Böden wuchs
dieses »Unkraut« sehr gut, so daß wir zu viert meistens bald eine
gute Mahlzeit für die Großfamilie gesammelt hatten. Eine relativ
leichte Aufgabe war es auch, Meerrettich auf den feuchten Stellen im Hühnergarten
auszugraben. Zum Heidelbeeren- oder Hagebuttenpflücken geschickt zu
werden, fiel uns Jungen schon schwerer. Die anschließende Arbeit für
die Frauen, wenn die Hagebutten aufgeschnitten und ausgekratzt wurden,
war mit noch mehr Mühe verbunden, besonders wegen der vielen
juckenden Härchen an diesen Früchten! Allerdings war die so
entstehende Hagebuttenmarmelade der leckerste Brotaufstrich, den wir
kannten.
Mit
dem Ausbau der Geflügelfarm wuchs auch die Familie. Die ersten vier
Kinder der Familie Müller posieren im Hühnerauslauf der väterlichen
Geflügelfarm: Wolf, Rex, »Waldi« und Lilli (von links nach rechts).
Je
nach Jahreszeit hatten die Frauen und Mädchen alle Hände voll zu
tun, um die Versorgung zu regeln, manchmal sogar über mehrere Tage
hinweg. Da war beispielsweise die Bohnenverwertung. Körbeweise wurde
das zarte, grüne Erntegut gewaschen, man schnitt beide Enden der
Bohne ab und zog die Fäden ab. Danach wurden alle Bohnen per Hand –
später mit einem kleinen Maschinchen – in schräge, gleichmäßig
dicke Scheiben geschnitten, anschließend mit Salz vermischt und in
große Steinguttöpfe so fest eingedrückt, daß immer eine dünne
Salzlake darüberstand. Später legte man Bretter und Steine obenauf,
das Ganze wurde ständig überprüft und saubergehalten. Ein ganz ähnliches
Verfahren wurde bei der Sauerkrautzubereitung mit Weißkohl angewandt.
Später im Jahr waren die Zwetschgen an der Reihe: Sie wurden
zentnerweise gewaschen, aufgeschnitten, entsteint und in einem großen
Kupferkessel mit Zucker vermischt und stundenlang zu Mus gekocht. Wenn
viel Obst geerntet worden war, wurde alles – Zwetschgen, Äpfel oder
Birnen – nach der Säuberung in Scheiben, Ringe oder Stückchen
geschnitten und zu Back- oder Dörrobst verarbeitet.
All das bot auch der Kaufmann an. Vor seinem Tresen standen Fässer
mit Bohnen, Sauerkraut, eingelegten Heringen, sauren Gurken. Doch das
Selbstgemachte war nicht nur preiswerter, sondern wir konnten auch darüber
verfügen, wann immer uns der Sinn nach dem speziellen Gericht stand.
Im Herbst halfen die größeren Geschwister bei der Kartoffellese: Die
Familie brach morgens zu Verwandten oder zu dem Landwirt auf, bei dem
die Einkellerungskartoffeln, immerhin etwa acht bis zehn Zentner pro
Kampagne, bezogen wurden. Wir Jüngeren durften mitkommen, brauchten
jedoch nicht mitzuhelfen. Es herrschte eine schöne Stimmung, wenn
sich frühmorgens der Nebel lichtete und die umgebrochene Erde unter
der aufgehenden Sonne dampfte. Diejenigen, die bei der Lese
mitarbeiteten, klagten in den ersten Stunden allerdings über klamme
Finger.
Bei
unseren Spielen in Wald, Feld und Flur begleiteten uns unsere Hunde.
Hier »umarmt« mich unsere Dogge Cäsar.
Einmal
stromerte ich hinter der gebückten Kolonne herum, suchte nach Mäusenestern
oder beobachtete die Pferde, die jedesmal vorbeikamen, wenn eine neue
Reihe umgebrochen wurde. Da entdeckte ich eine der aus meiner
damaligen Perspektive älteren Frauen, deren schwarze Wollstrümpfe
oberhalb der Knie endeten und von Weckringen gehalten wurden. Ich war
neugierig, was sich oberhalb der Weckringe verbergen könnte, pirschte
mich heran und schaute nach oben. Fast hätte ich einen lauten
Schreckensruf ausgestoßen. Ich taumelte zurück und mußte mich erst
einmal auf einem Kartoffelsack ausruhen. Was ich gesehen hatte, war zu
entsetzlich; es sah aus wie eine lange, blutrote, offene Wunde. Mußte
die Frau nicht sofort ins Krankenhaus gebracht werden, um die Wunde nähen
zu lassen? Würde nicht eine entstellende Narbe entstehen?
Zum Glück gab es bald Kaffee und frischen, warmen Zwetschgenkuchen. Für
mich war dies immer der Höhepunkt der Kartoffellese, und so hatte ich
meinen Schreck schnell vergessen. Ich war froh, ältere Brüder zu
haben, die mir verschiedene Ungereimtheiten erklären konnten.
Unser
Haus auf dem Gelände der Geflügelfarm, im nordhessischen Heinebach,
Nürnberger Landstraße 79.
Lagerführer
in Groß-Gurek und Deutsch-Rogau
(...)
Beim Reichslanddienst-Lehrhof in Deutsch-Rogau handelte es sich um
einen 1200 Hektar großen Gutsbetrieb, der zum HJ-Gebiet Köln-Aachen
gehörte. Etwa ein Drittel der Teilnehmer stammte jedoch aus dem
Gebiet Westkurhessen. Alle Lagerangehörigen aus dem Gebiet Köln-Aachen
stammten aus der Umgebung von Düren, Erkelenz und Hückelhoven. Die
Arbeitskräfte des Betriebs waren zumeist polnische Gespannführer und
Tagelöhner. Wir waren insgesamt zwanzig Mädchen und zwanzig Jungen
und wurden, getrennt nach Geschlechtern, in zwei Baracken
untergebracht. Unser Lagerführer war Berufsjugendführer, der
Verwalter ein verwundeter Wehrmachtsunteroffizier; auch er hatte einen
Arm verloren. Bei feierlichen Anlässen trug er mit Stolz das Eiserne
Kreuz Erster Klasse auf seinem Abendanzug.
In unserem Betrieb war hauptsächlich landwirtschaftliche Arbeit zu
verrichten; wir halfen bei Aussaat und Ernte. Wenn der polnische
Vormann mit seiner übergroßen Sense bei der Getreideernte die Reihe
der Mäher anführte, hatten wir als ungelernte Schnitter und die Mädchen
beim Aufnehmen der Garben keine Chance, Schritt zu halten. Später war
es ein beeindruckender Anblick, wenn auf der einen Seite des großen
Schlages etwa zwanzig Pferdegespanne mit Schälpflügen, auf der
anderen Seite die gleiche Anzahl Ochsengespanne hintereinander Furche
um Furche zogen.
Eine zusätzliche Aufgabe bestand in diesem Jahr darin, eine Hauptdränageleitung
durch den schweren Tonboden zu verlegen. Der Graben, den wir zu diesem
Zweck aushoben, war stellenweise über einen Meter tief.
Manchmal versuchten wir bei dieser Arbeit, unbemerkt eine zusätzliche
Verschnaufpause einzulegen. Dann stellten wir einen Posten auf, der
uns warnen sollte, wenn der Lagerführer angeritten kam. Leider
ertappte er uns manchmal, weil er, unsere Taktik ahnend, einen Bogen
geritten war und sich von der entgegengesetzten Seite näherte. An
solchen Tagen mußten wir eine Stunde länger graben. (...)
Pause
während eines langen Arbeitstages auf dem Reichslanddienst-Lehrhof.
Der vierte von links bin ich, froh, die Beine ausstrecken zu können.
Einsame
Flucht
Mit
den Kameraden Heinz Bunnenberg, Mitte, und Dieter Müller, rechts,
beim Scharfschützenlehrgang.
(...)
Der hohe Elbdamm war auf einer Länge von Hunderten von Metern schwarz
vor lauter Menschen. Es waren Soldaten aus allen nur denkbaren
Einheiten, aber auch Wehrmachthelferinnen, Flüchtlingsfamilien, »Blitzmädel«
und Rote-Kreuz-Schwestern – alle hatten vor den nachfolgenden
russischen Soldaten bei den Amerikanern Schutz gesucht.
Ich ging zum Ufer der Elbe und mischte mich unter die Menge. Aus dem
allgemeinen Gemurmel konnte ich heraushören, daß befürchtet wurde,
die Amerikaner könnten uns den Russen überlassen, sobald diese hier
auftauchten.
Dann
sah ich ein kleines Boot, das am jenseitigen Elbufer ablegte, zu uns
herüberkam, einige wenige Leute aufnahm und wieder gemächlich zurücktuckerte.
Wenn das die Evakuierung sein sollte, würde sie Monate dauern.
Auf einmal wurde es ganz still, alle hatten das unverkennbare Brummen
und Kettengerassel von Panzern gehört. Sie näherten sich schnell.
Schon sah ich von meinem Standpunkt am Ufer aus die Rohre der Kanonen,
die oben über den Damm herausragten. Dann tauchten russische Soldaten
zu Fuß und berittene Offiziere auf. Noch immer war es totenstill.
Vom gegenseitigen Ufer näherte sich wieder das Boot der Amerikaner.
Am Damm lösten sich einige russische Offiziere aus ihrer Gruppe und
schritten auf die Anlegestelle des Bootes zu. Sie stiegen ein und
fuhren davon.
Die Spannung unter der wartenden Menschenmenge war bis ins Unerträgliche
gestiegen und entlud sich in lauten Ausrufen einzelner Personen. Uns
werde nichts geschehen, und da wir uns den Amerikanern ergeben hätten,
könnten uns diese nicht an die Russen ausliefern, wurde gemutmaßt.
Hier und da war vereinzeltes Aufschluchzen zu hören. Es dauerte eine
Ewigkeit, bis die russische Abordnung an diesem Spätnachmittag des 7.
Mai 1945 zurückkehrte.
Wieder wurde es totenstill, alle schienen den Atem anzuhalten. Mir
schwante nichts Gutes. Ich hatte mich wenige Schritte vom Ufer
entfernt in der Menge auf den Boden gesetzt und begonnen, meine Schuhe
aufzuschnüren. Die Russen kamen ans Ufer und schritten so gemächlich
die Böschung hinauf, wie sie zuvor heruntergekommen waren. Dann
riefen sie ihre Leute zu einer Besprechung zusammen. Noch immer
herrschte Stille, man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Dann ging alles sehr schnell. Die Motoren der Panzer brüllten auf,
und die schweren Fahrzeuge begannen, sich auf der Krone des Dammes zu
drehen. Gleichzeitig bewegten sich die Offiziere und Fußsoldaten in
Richtung Ufer und bahnten sich dabei rücksichtslos einen Weg durch
die Menge. Sie befahlen uns durch Gesten und Zurufe unmißverständlich,
uns zur Dammkrone zu bewegen. Es ertönte ein Schrei der Enttäuschung,
der Wut, der Angst und Verzweiflung, der jedoch schnell durch Rufe und
Kolbenstöße der russischen Soldaten erstickt wurde. Also war es doch
geschehen: Die Amerikaner hatten all diese gutgläubigen Menschen ohne
Vorwarnung den Russen ausgeliefert. Tausende erwartete nun ein
gnadenloses Schicksal: Vertreibung, Gefangenschaft, ja Folter und Tod.
Noch ehe die brüllenden russischen Soldaten das Ufer erreichten,
hatte ich meine Schuhe und auch meinen Uniformrock abgestreift, einige
Sprünge bis zum Ufer getan und war mit einem Kopfsprung ins Wasser
gesprungen. (...)
Familie
Müller, glücklich und vollzählig wiedervereint nach dem Krieg. Das
Foto entstand 1948. In der hinteren Reihe stehen meine Eltern, vor
ihnen ich, Lilli, Rex, Gisela und Wolfgang sowie die jüngsten
Geschwister Hans Dieter und Gudrun.
Beim
Melsunger Kreisbauernverband
Sechs Wochen nach unserer Hochzeit rief mich der damalige Vorsitzende
der Landjugend Melsungen, Heinrich Kilian, an und fragte, ob ich Lust
hätte, am darauffolgenden Sonntag mit ihm zum Motorradrennen »Rund
um den Herkules« nach Kassel zu fahren. Wir verabredeten, daß er
mich am Bahnhof von Melsungen mit seiner 98er-Fox abholen würde.
Dabei handelte es sich um ein ausgeprochen leichtes Gefährt.
Hier
posiere ich auf meiner 350er Horex Regina, die für mich zum unerläßlichen
Verkehrsmittel wurde.
Wir
hatten auf der Teilumgehungsstrecke von Melsungen etwa 600 Meter zurückgelegt
und näherten uns der Kreuzung Fritzlarer Straße, als plötzlich ein
Pkw unsere Vorfahrtstraße überquerte. Der Zusammenstoß war
unvermeidlich. Ich sah das Unglück kommen und klammerte mich mit
aller Kraft an den Griff meines leichten Soziussitzes.
Der Aufprall war fürchterlich. Ich flog, bereits ohne Besinnung,
mitsamt dem Sitz – wie weiland Baron Münchhausen – in hohem Bogen
über das fremde Auto. Mit dem Kopf zuerst landete ich auf der mit
Splitt ausgestreuten Straße.
Unweit der Kreuzung lag die Metzgerei Roß, in deren Tür die
Inhaberin und eine Kundin standen und den Unfall beobachteten. Die
Kundin murmelte spontan: »Der ist tot!» Dieser Satz schlich zunächst
als Gerücht durch die Straßen Melsungens und über die
Telefonleitungen später auch nach Heinebach und Eubach.
Ich kam wieder zu mir, als Dr. Lübke – der gleiche Chefarzt, der
mir 1937 das Bein amputieren wollte – die letzten Stiche an meiner
Stirnplatzwunde setzte. (...)
Eine
Herausforderung für die Geschäftsstelle des Melsunger
Kreisbauernverbandes waren die Vorbereitungen zur Kreistagswahl. Groß
in Mode waren zu dieser Zeit die äußerst effektiven
Gemeinschaftslisten. Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Handel
– eigentlich der gesamte Mittelstand – hatten sich mit den
Arbeitnehmern zusammengeschlossen und eine Einheitsliste aufgestellt.
Unsere Geschäftsstelle war federführend bei der organisatorischen
Durchführung der Wahlen. Mit dem Fabrikanten Otto Braun aus Melsungen,
dem Bauernführer Konrad Jacob aus Körle, dem Bürgermeister Otto
Bonn aus Guxhagen und Professor Hoffmann aus Felsberg als
Spitzenkandidaten hatte unsere Liste auf Anhieb durchschlagenden
Erfolg. Wir erhielten die Mehrheit und konnten den Landrat bestimmen.
Da uns auf Kreisebene solcher Erfolg beschieden war, verfolgten wir
auf Gemeindeebene in Heinebach dieselbe Strategie und waren ebenfalls
erfolgreich, so daß wir unseren Altbürgermeister Heckmann wieder in
sein vor 1945 innegehabtes Amt einsetzen konnten. Die
Gemeinschaftslisten erwiesen sich jedoch bald als Auslaufmodelle, denn
die potentiellen Kandidaten wechselten in die bürgerlichen Parteien
und standen auf deren Listen.
Mit
Schlips und Kragen an der Schreibmaschine: So sah mein anfänglicher
Berufsalltag beim Kreisbauernverband Melsungen im Jahre 1952 aus.
Die
Landjugendarbeit lief auf Hochtouren. Es existierten bald sieben
Ortsgruppen, und ich war deshalb an mindestens vier Abenden pro Woche
mit meiner Horex unterwegs. War es Zufall oder Glück? Gerade zu dem
Zeitpunkt, als ich an einen Ortswechsel dachte, vollzog sich eine
entsprechende Veränderung in den Geschäftsstellen in Homberg und
Fritzlar. Mein langjähriger Freund Krüger, der bis dahin der zweite
Mann in Fritzlar gewesen war, übernahm die Geschäftsführung des
Verbandes in Homberg, woraufhin ich am 1. Oktober 1954 seine Stelle in
Fritzlar einnahm. Im Verhältnis zur Mitgliederzahl und der
angeschlossenen Fläche existierte hier schon damals der aktivste
Verband in ganz Hessen.
Genau an unserem Hochzeitsdatum, dem 19. Juli, wurde 1954 in Melsungen
unser erster Sohn Jürgen geboren. Ein Jahr lang pendelte ich täglich
zwischen Melsungen und Fritzlar, bis die ganze Familie nach Fritzlar
umzog. Am 14. September 1955, kurz vor unserem Umzug, kam unser Sohn
Volker zur Welt.
Inhalt »Ein
Hesse setzt sich durch«
Inhalt
Vorwort 7
Kindheit1927–1941
Ein Sonntagskind 8
Die Familie 8
Schulzeit 13
Väterliche Strenge 15
Das Leben auf dem Hof 22
Freizeitvergnügungen 27
Ein schwerer Unfall 35
Jungenstreiche 43
Den Kinderschuhen entwachsen 47
Jugend1941–1946
Das Landjahr 49
Stellvertretender Lagerführer in Altenburschla 54
Lagerführer in Groß-Gurek und Deutsch-Rogau 57
Als Freiwilliger zur Waffen-SS 64
Pionierausbildung in Dresden 67
Ausbildung zum Standartenjunker 75
An die Front 78
Geordneter Rückzug 80
Erste Zärtlichkeiten 86
Kanonenfutter 89
Einsame Flucht 100
In Gefangenschaft 109
Heimkehr 116
Nachspiel 117
Neuanfang1946–1952
Wiederaufbau des väterlichen Betriebs 120
Hundezucht 126
Verliebt 127
In der Landbauschule 129
Im
Dienst für die Landwirtschaft1952–2002
Beim Melsunger Kreisbauernverband 132
Fritzlar 135
Leidgeprüft und dennoch lebensfroh 148
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